Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XXV.

Bei Marchstättens traf Silas die ganze Familie in Gesellschaft Professor Königshofens beim Tee.

Alle, auch Lydia, schienen in fröhlicherer Stimmung als seit langem. Das bewirkte, wie der Major Hempel zuflüsterte, der Umstand, daß die junge Frau sich unter Königshofens Behandlung in der letzten Zeit zusehends erholte. Eben vorhin hatte er erklärt, seine Patientin solle nun der Zimmerhaft entsagen und wieder mit Spaziergängen in frischer Luft beginnen – allerdings nie allein, sondern unbedingt in Begleitung, wie er den Eltern ausdrücklich einschärfte.

Morgen wollten beide Eltern Lydia auf einem Gang nach dem winterlichen Wald begleiten, den sie immer besonders geliebt hatte.

In der Tat fand Hempel, daß Frau Holzmann viel besser aussah und nicht mehr so düster apathisch war wie damals, als er sie zuletzt gesehen.

Sie begrüßte ihn sehr freundlich und nötigte ihm eine Tasse Tee und Brötchen auf. Indes gab Hempel dem Major einen Wink, daß er ihn allein sprechen möchte, worauf der Major das Gespräch auf Altertümer und Edelsteine lenkte und Silas aufforderte, seine sich darauf beziehende kleine Sammlung zu besichtigen.

In Marchstättens »Sammelzimmer«, das unten zu ebener Erde lag, waren sie dann ungestört und sicher, daß niemand sie hören konnte; denn die beiden anstoßenden Räume waren derzeit unbenützt.

Dort angelangt, nickte Silas auf den erwartungsvoll fragenden Blick des Majors.

»Jawohl, Herr Major, Sie haben mich ganz richtig verstanden, der Zweck meines heutigen Besuchs ist ein besonderer und kann nur unter vier Augen erledigt werden.«

»Ist etwas Neues geschehen?«

»Ja, einiges . . . das Wichtigste davon ist wohl, daß unsere Angelegenheit in ein neues Stadium getreten ist, seit ich der Ursache auf der Spur zu sein glaube, derentwillen Ihr Schwiegersohn getötet wurde. Die Entscheidung darüber, ob ich damit am richtigen Weg bin, wird davon abhängen, ob Sie mir die Auskunft geben können, deretwegen ich heute zu Ihnen kam. Aber darf ich zuerst fragen, wie Ihr Verhältnis zu Herrn Holzmann eigentlich war? Ich hörte, Sie seien gegen die Heirat Ihrer Tochter gewesen?«

»Anfangs ja. Wir wollten höher hinaus mit ihr, Holzmann schien uns bei aller Fachtüchtigkeit doch zu einfach für Lydia, und Lydia selbst schien uns noch zu jung und unerfahren, um sich für's Leben zu binden. Ich gestehe reuig, daß es sich dabei viel um die Elterneitelkeit dem einzigen Kinde gegenüber handelte. Indes überzeugten wir uns später von der Unrichtigkeit unserer Annahmen, erkannten, daß es sich tatsächlich um eine tiefe echte Liebe handelte, und willigten in die Verbindung. Gerhard trug uns unsere anfängliche Weigerung später gottlob nicht nach, und so wurde das gegenseitige Verhältnis ein außerordentlich herzliches. Wir erblickten in ihm einen Sohn, er in uns die Eltern.«

»Das freut mich, dann werden Sie hoffentlich einige meiner Fragen beantworten können.«

»Was wünschen Sie zu wissen?«

»Vorerst etwas über die Familie, der Gerhard Holzmann entstammt. Ist es eine eingeborene G...er Familie?«

»Ja und nein. Gerhard und sein Vater sind in G. geboren, der Großvater aber stammte aus Bayern, woher er in jungen Jahren mit seiner Frau kam und sich hier in G. ansässig machte.

»Den Ort, aus dem er kam, wissen Sie nicht und wie er mit Vornamen hieß?«

»Doch. Er hieß Johann und seine Frau Anna Maria. Beide wanderten aus Augsburg ein, wo sie gebürtig waren und früher lebten.«

Silas atmete tief auf. So war es also, wie er vermutet: Gerhard Holzmann hatte Anspruch auf eine Erbschaft, von der er selbst nichts gewußt und die doch seinen Tod verursacht hatte. . . .

»Von einem zerbrochenen Ring haben Sie Ihren Schwiegersohn wohl nie sprechen gehört?« fragte er nach einer kleinen Pause weiter.

Der Major hob betroffen den Kopf und blickte Hempel erstaunt an.

»Natürlich – alles weiß ich, was Gerhard selber wußte, es ist doch die romantische Legende der Familie Holzmann! Aber wie kommen Sie dazu, danach zu fragen, Herr Hempel?«

»Ich werde es Ihnen später erklären. Wollen Sie mir, bitte, mitteilen, was Sie darüber wissen?«

»Gern. Die Geschichte ist eigentlich alltäglich und bekommt nur durch den Ring einen romantischen Anstrich. Jener Johann Holzmann, von dem wir vorhin sprachen, besaß einen um ein Jahr älteren Bruder namens Rudolf, der schon als Jüngling für überspannt und querköpfig galt. Dieser Rudolf Holzmann hatte sich, siebzehnjährig, Hals über Kopf in eine Kusine, Anna Maria, verliebt und verlobte sich feierlich mit ihr. In vier Jahren sollte er die Töpferei seines Vaters übernehmen, dann sollte gleichzeitig auch die Hochzeit stattfinden. Aber vier Jahre sind für einen Siebzehnjährigen eine lange Zeit, in der sich manches ändern kann.

So war es auch bei Rudolf, dem die Zukunft immer weniger rosig und begehrenswert erschien. Er begriff plötzlich nicht mehr, wie er sich so überstürzt hatte binden können und schauderte davor, sein junges Leben im engbegrenzten Rahmen einer kleinen Stadt und einer bescheidenen Töpferei verbringen zu sollen.

Jeden Tag verlor Anna Maria an Reiz für ihn, jeden Tag lockte ihn mehr die weite Welt da draußen, von der er noch so gut wie nichts kannte.

Er machte den Bruder zum Vertrauten. Aber Johann, der seßhafte, gut bürgerliche Instinkte besaß und den unruhigen, phantastischen Sinn des älteren Bruders weder begriff noch billigte, schüttelte nur immer verständnislos den Kopf.

Wie konnte man nur immer verrückten Wünschen nachhängen, wenn man es daheim doch so gut hatte und dazu noch die Aussicht auf ein so schönes, braves Mädchen, wie Anna Maria . . .?

Es ging über Johanns Verstand.

Rudolf aber knirschte zorniger in dem, was er sein »Joch« nannte, doch er wagte nicht, es abzuschütteln, denn der Vater war sehr streng und Anna Marias Vater war der Bürgermeister von Augsburg. Beide hätten es Rudolf nie verziehen, wenn er das Mädchen dem Gespött der Welt preisgegeben hätte.

Da traf es sich, daß ein Schulkamerad und einstiger Spielgefährte der Brüder Holzmann, der zur See gegangen war, auf Urlaub heim in die Vaterstadt kam.

Den ganzen lieben Tag saß nun Rudolf mit ihm beisammen und ließ sich erzählen. Und Jonas Hansen, wie der junge Seemann hieß, konnte nicht genug erzählen von der Schönheit fremder Länder und den Herrlichkeiten der freien Welt da draußen. Und wenn er sah, wie heiß Rudolf ihn beneidete, daß er all dies sehen und erleben konnte, dann meinte er halb gutmütig, halb stichelnd: »So komm doch mit mir, sie nehmen dich gern als Matrose auf unserem Schiff. Wer kann dich zwingen, hier Töpfe zu fabrizieren und dabei zu versauern, wenn du es nicht magst?«

Solche Worte fielen wie Samenkörner in aufgewühltes Erdreich. Und eines Tages erschien Rudolf in Begleitung seines Bruders, mit dem er vorher eine lange Unterredung gehabt, bei seiner Braut.

Er hielt sich nicht lange mit Einleitungen oder Erklärungen auf, sondern sagte alles klar und unumwunden heraus, wie es war. Daß er so nicht länger dahinleben könne, sondern sich entschlossen habe in die weite Welt zu gehen, um dort sein Glück zu versuchen. Daß er Anna Maria zwar immer noch liebe, aber nicht so stark, um ihretwillen seine Pläne aufzugeben. Allerdings könne er diese nur dann ausführen, wenn Johann und Anna Maria ihm dazu helfen würden. Johann habe bereits eingewilligt, nun handle es sich nur mehr um Anna Maria. Ob sie bereit wäre, ihrem Vater zu erklären, daß sie sich in ihrer Liebe zu ihm, Rudolf, getäuscht habe und erst jetzt erkenne, wie sie eigentlich viel besser zu Johann passe und daher lieber diesen zum Mann nehmen wolle. Um so mehr, als Johann, der dann an seiner Statt die Töpferei übernehmen würde, seit langem eine stille Liebe zu Anna Maria im Herzen trage. »Und wenn du auf diesen Plan eingehst, Anna Maria,« schloß Rudolf, »dann wäre uns allen geholfen. Ich fände mein Glück, Johann bekäme das Mädchen, das er liebt, du aber einen Mann, der dich sicher glücklicher machen würde, als ich es je könnte.«

Anna Maria war ein wenig blaß geworden und sah eine Weile stumm vor sich hin.

»Überleg' nicht so lange,« drängte Rudolf ungeduldig, »bedenke doch: keiner verliert bei dem Handel, sondern jeder gewinnt, und vor den Leuten bekommt alles den richtigen Schick! Nur muß alles von dir ausgehen.«

Anna Maria blickte auch jetzt nicht auf. Still und sanft sagte sie: »Wenn es dein Glück ist, Rudolf, so willige ich ein. Ich werde noch heute mit dem Vater sprechen.« Dabei zog sie den Verlobungsring, den Rudolf seinerzeit eigens anfertigen ließ, vom Finger und legte ihn auf den Tisch.

Es geschah nun alles, wie Rudolf es gewollt. Man fand es auch allseits begreiflich, daß dieser nun die Absicht laut werden ließ, in die weite Welt zu gehen.

Selbst sein Vater dachte im stillen: ›Natürlich treibt es ihn fort, nachdem das wetterwendische Frauenzimmer ihn im Stiche ließ!‹

Am Tag ehe er abreiste, hatte Rudolf noch eine Unterredung mit seiner ehemaligen Braut und seinem Bruder. Er hatte den Verlobungsring, in dem die Anfangsbuchstaben seines Namens R. H. und das Datum des einstigen Verlobungstages eingraviert waren, in zwei gleiche Hälften teilen lassen. Die eine Hälfte gab er Anna Maria. »Ich kann dir und Johann nie genug danken für eure Opferwilligkeit,« sagte er feierlich, »aber ich schwöre es in dieser Trennungsstunde: Alles, was mir das Glück künftig in den Schoß werfen mag, soll dafür euer und euerer Kinder sein! Der halbe Ring, den du wohl aufbewahren und auf deine Nachkommen vererben sollst, gilt wie ein Schuldschein für mein Versprechen. Ich habe es auch schriftlich aufgesetzt und hinterlasse dir hiermit auch dies Dokument.« Damit drückte er dem jungen Mädchen ein Papier in die Hand.

Am selben Tag noch reiste er ab. Ein halbes Jahr später heiratete Anna Maria Johann Holzmann. Ob auch sie ihm schon vorher heimlich zugetan gewesen, ob sie dem andern insgeheim nachtrauerte, hat nie jemand ergründet. Die Ehe fiel jedenfalls glücklich und zufrieden aus.

Nach des alten Holzmann Tod übersiedelten Johann und Anna Maria Holzmann nach G., weil es in Augsburg immer noch Leute gab, die Anna Maria ihre ›Treulosigkeit‹ nicht verzeihen wollten und sie das öfter merken ließen.

Diese beiden waren die Großeltern Gerhards, und er hat mir die Geschichte, wie er sagte, fast wortgetreu so erzählt, wie sie seine Großmutter ihrem Sohn und dieser ihm erzählt hatte. Und er nannte sie, wie ich vorhin, ein wenig spöttisch: Die romantische Legende seiner Familie.«

 


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