Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XXIV.

Der Detektiv nahm zwei Pyramidontabletten, um den Schmerz für ein paar Stunden zu betäuben, dann begab er sich ans Telephon und rief die Polizeidirektion an, mit der Bitte, Kommissar Heidinger an den Apparat zu rufen.

»Etwas Neues?« fragte dieser zwei Minuten später.

Silas zögerte eine Sekunde mit der Antwort, dann machte er eine Handbewegung, als schiebe er etwas von sich, und antwortete ruhig: »Nein. Nichts Besonderes. . . .«

Die dort brauchten wahrlich nicht zu lachen über ihn. Später, wenn er die Scharte ausgewetzt hatte, war es immer noch Zeit, Heidinger sein Mißgeschick zu berichten. Für jetzt sagte er: »Herr Kommissar, könnte ich sofort zwei Mann zur Verfügung gestellt bekommen, am liebsten Wanke und Hormaier?«

»Ja, die beiden sind frei. Wohin soll ich sie schicken?«

»Zu mir, Villa Holzmann, und recht rasch, bitte. Sie sollen ein Auto nehmen, wir brauchen es nachher ohnehin.«

»Soll besorgt werden. Ist etwas geschehen in der Villa? Oder wozu brauchen Sie die Leute sonst?«

»Sie sollen ein Haus und dessen Bewohner beobachten. Näheres mündlich. 'Tag, Herr Kommissar. Schluß.«

Er hängte den Hörer ab und begab sich wieder zu Rosner.

»Rosner passen Sie auf: Von dem, was heute nacht hier geschehen ist, soll vorläufig niemand erfahren. Sie schweigen also gegen jedermann wie das Grab, verstanden?!«

»Jawohl, Herr Hempel.«

»In einer Viertelstunde werden zwei Herren kommen und nach mir fragen, es sind Beamte von der Kriminalpolizei, aber in Zivil. Sie brauchen mich davon nur durch einen Pfiff zu verständigen, ich werde dann gleich erscheinen.«

»Ist gut, Herr Hempel.«

»Und nun geben Sie mal die Schlüssel zur Wohnung oben, damit ich abschließen kann.«

Oben war noch alles, wie er und der Mörder es verlassen hatten. Im Vorzimmer brannte noch das Licht, und der Teppich, der den Boden bedeckte, war von dem nächtlichen Kampf, der sich auf ihm abgespielt, in Falten geschoben und zerknüllt.

Silas hob seinen Revolver auf, sicherte ihn und steckte ihn zu sich, ebenso den des Mörders. Dabei sah er nahe der Ausgangstür etwas Blitzendes auf dem Teppich liegen. Sich danach bückend, hob er einen halben Goldring auf.

Verwundert betrachtete er das Ding. Es schien ein Ehering gewesen zu sein, denn auf der Innenseite waren zwei Buchstaben und eine Zahl eingraviert. R. M. 23. . . . Monat und Jahreszahl fehlten. Wahrscheinlich befanden sie sich auf der andern Hälfte des Ringes. Dieser war nicht etwa auseinander gebrochen, sondern offenbar mit Absicht in zwei gleiche Hälften geteilt worden, wie die saubere Durchfeilung der zwei Enden bewies.

Wozu? Durch wen? Silas zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber. Aber es war ihm vollkommen klar, daß diese Ringhälfte der kleine Metallgegenstand sein mußte, der dem Mörder beim Ausräumen des Geheimfaches auf den Messingständer der Kipplampe gefallen war und den er mit den Papieren in seine Rocktasche schob. Beim Ringen am Boden mußte er dann herausgefallen sein.

Wenn ihm nur die allem Anschein nach dazu gehörigen Papiere auch aus der Tasche geglitten wären! Dann hätte man doch nicht fürchten müssen, daß er nun, wo er gefunden hatte, was er suchte, gleich das Weite suchen würde.

Silas machte sich daran, den ganzen Vorraum noch einmal gründlich zu durchsuchen. Aber es fand sich nichts mehr. Der Halbring blieb die einzige Beute.

War er wichtig? Davon hing nun alles ab. War er nichts als ein Erinnerungsstück, dann würde der Mörder sich nicht weiter darum scheren. War er aber eine notwendige Ergänzung der Papiere, so konnte man immerhin hoffen, daß der Mörder nicht gleich an Abreise dachte, sondern erst noch versuchen würde, den Halbring wiederzubekommen. . . .

Von unten tönte ein Pfiff.

Hempel drehte rasch das Licht ab, versperrte die beiden Schlösser an der Wohnungstür und eilte hinab.

Im Flur traf er mit seinen beiden Kollegen zusammen, deren Auto draußen wartete. Alle drei stiegen ein, und Silas gab dem Wagenführer Judendorf als Ziel an. Unterwegs erteilte er seine Weisungen.

»Es handelt sich darum, die Villa ›Lotos‹, zu der ich Sie bis auf Sehweite führen werde, nicht einen Augenblick aus den Augen zu verlieren. Sie hat zwei Ausgänge, einen vorne gegen die Straße zu, den andern rückwärts aus dem Garten gegen den Fluß zu. Jeder von Ihnen muß einen Ausgang bewachen, aber so, daß die Bewohner der Villa durchaus nichts davon merken können. Es sind schlaue, gefährliche Leute: Ein Mann, eine Frau, eine Schwarze und ein Taubstummer. Ich habe Grund anzunehmen, daß die ersten drei – vielleicht auch nur der Mann allein – heute noch abreisen wollen. Dies muß verhindert werden. Verläßt er die Villa ohne jedes Gepäck und zu Fuß, so muß ihm gefolgt und er darf keinen Augenblick außer Augen gelassen werden, bis er in die Villa zurückkehrt. Mietet er ein Tourenauto oder betritt er einen Bahnhof, muß er verhaftet werden. Haben Sie mich verstanden?«

»Vollkommen, Herr Hempel.«

»Gut. Am Abend komme ich Sie mit einem Kollegen ablösen. Sie können dann nachts schlafen und uns Ihrerseits morgen früh um sieben ablösen.«

Man hatte Judendorf erreicht, und das Auto hielt. Silas befahl dem Führer zu warten, da er gleich wiederkommen und nach der Stadt zurückfahren werde.

Er begleitete seine Kollegen nur so weit, bis man die Villa sehen konnte, schärfte ihnen noch einmal Wachsamkeit ein und kehrte dann zu dem Auto zurück, das ihn nach der Stadt trug.

Dort angelangt, suchte er zuerst Rosner auf, zeigte ihm die gefundene Ringhälfte und fragte, ob er das Ding je zuvor gesehen oder davon sprechen gehört habe.

Rosner verneinte ohne Zögern.

»Bestimmt nicht, Herr Hempel! Aber was soll es damit überhaupt für eine Bewandtnis haben? Ein halber Ring! Damit kann man doch nichts anfangen. . . .«

»Wer weiß? Irgendeine Bedeutung muß er doch haben, sonst hätte man ihn wohl nicht im Geheimfach verwahrt!«

»Wissen Sie das so ganz bestimmt? Er kann doch auch Eigentum des Mörders gewesen sein, und dieser kann ihn schon früher bei sich getragen haben!«

»Daran zweifle ich. Ich hörte ja ganz deutlich, wie er bei Ausräumung des Geheimfaches auf den Ständer der Kipplampe fiel. Heute morgens habe ich das Experiment wiederholt und dabei ganz dasselbe klirrende Geräusch vernommen. Für mich steht es also fest, daß der halbe Ring aus dem Geheimfach stammt. Wem gehörte übrigens früher der Schreibtisch im Herrenzimmer oben? Es scheint ein recht altes Stück zu sein.«

»Das ist er auch. Der Schreibtisch gehörte ursprünglich dem Großvater des seligen Herrn, ging nach dessen Tod in den Besitz der Witwe über, und als diese starb, nahm ihn der alte Herr Holzmann in Gebrauch. Damals stand er in dessen Bureau. Als dann der junge Herr Gerhard heiratete, und die Wohnung oben neu eingerichtet wurde für das junge Paar, gab Herr Gerhard dem alten Möbelstück einen Ehrenplatz im Herrenzimmer. Daß es sogar ein Geheimfach besitzt, wußte übrigens, glaube ich, weder der alte noch der junge Herr, wenigstens hörte ich nie davon sprechen. – – –

Am Nachmittag ging Hempel zu einem Zahnarzt, um den immer wiederkehrenden heftigen Schmerz endlich loszuwerden.

Er wählte dabei nicht lange herum, sondern betrat das erste Haus, an dem er einen Schild mit den Worten »Zahn-Atelier« erblickte.

Das »Atelier« war im ersten Stock, und im Wartezimmer befanden sich bereits mehrere Leute, die auf das Erscheinen des Arztes warteten. Ärgerlich darüber, mit Warten viel Zeit verlieren zu müssen, setzte sich Silas in eine Ecke. Am liebsten wäre er wieder fortgegangen, aber anderswo würde es vielleicht noch schlimmer sein, und heraus mußte der Zahn unbedingt.

So ergab er sich seufzend in sein Schicksal und blätterte in den aufliegenden Schriften, um die Zeit leichter hinzubringen. Die Zeitschriften waren, wie in den meisten Wartezimmern, alt, einige sogar sehr alt. Silas griff nach einem etwa zwei Monate alten Exemplar der »Leipziger Illustrierten« und blätterte darin. Endlose Seiten voll Anzeigen:. . . . Stellennachweise, Winterkurorte, Geschäftsankündigungen, da eine halbe Seite füllend die Anzeige eines neuen Waschpulvers, dort eine andere, ebenfalls groß, in die Augen springend: »Erben gesucht«! Na, die würden sich sicher gleich gefunden haben . . . Gelangweilt glitt Hempels Blick darüber hin. Aber plötzlich belebte sich dieser und seine Augen weiteten sich.

Stand da wirklich am Schlusse des Aufrufs der Satz: »Ringhälfte und Dokumente als Beweis unbedingt nötig zum Antritt des Erbes«?

Ja, wahrhaftig stand dies da, schwarz auf weiß, in gesperrten Buchstaben!

Hempel las den ganzen Aufruf Wort für Wort aufmerksam durch.

»Erben gesucht!

für den gesamten Nachlaß des 1877 in Montreal (Kanada) verstorbenen Mr. Woodman. Als Erben kommen nur in Betracht direkte Nachkommen des 1852 in Augsburg ansässigen Ehepaares Johann und Anna Maria Holzmann. Ringhälfte und Dokumente als Beweis unbedingt nötig zum Antritt des Erbes.

Nachrichten an Dr. Josuah Berrick, Rechtsanwalt in Montreal (Kanada).«

Eine Flut von Gedanken stürmte durch Silas Hempels Kopf.

Lichtete sich da nicht plötzlich und unerwartet das Dunkel, das so lange über den Dingen gelegen? Wurde nun nicht vieles begreiflich?

Indes suchte er vor allem die Aufregung, die ihn erfaßt hatte, niederzukämpfen und nüchtern zu überlegen.

Was war bewiesen?

Daß vor Jahrzehnten in Augsburg ein Ehepaar namens Holzmann gelebt hatte, dessen Nachkommen Anspruch auf eine Erbschaft hatten.

Aber, war Gerhard Holzmann ein solch direkter Nachkomme des erwähnten Ehepaares? Das mußte zunächst festgestellt werden.

Existierten noch andere Erben? Wenn ja, dann wäre darin die Erklärung für Holzmanns gewaltsamen Tod zu finden. Denn wenn der Mörder ein Miterbe war, lag das Motiv, Holzmann beiseite zu schaffen, nahe. Dadurch wurde auch sein hartnäckiges Suchen nach den Dokumenten und der Ringhälfte erklärlich, denn ohne diese beiden Dinge konnte er auch nach Holzmanns Tod seine Ansprüche auf das Erbe nicht geltend machen.

Diese Schlußfolgerung insbesonders erfüllte Hempel mit Freude und Genugtuung, weil sie in sich schloß, daß der Mörder ohne die Ringhälfte keinesfalls abreisen würde.

Welches Glück, daß Silas sie jetzt besaß, nachdem jener sie gefunden und wieder verloren.

Ohne sie wäre ihm ja der Aufruf gar nicht aufgefallen und er hätte sich kaum die Mühe genommen, ihn durchzulesen.

Silas schnitt den Aufruf sorgfältig aus und schob ihn in die Tasche.

Nun vor allem zum Major, der ihm vielleicht über die Nachkommenfrage Aufklärung geben konnte.

Aber gerade als Silas sich erhob, um zu gehen, öffnete der Zahnarzt die Türe seines Ordinationszimmers und sagte zu ihm als letztem Patienten: »Darf ich bitten?«

Hempel starrte ihn einen Augenblick lang verständnislos an. Er hatte ganz vergessen, was ihn hieher geführt. Dann aber besann er sich und folgte dem jungen Arzt in dessen Zimmer.

Auf den Ordinationsstuhl steigend, sagte er hastig: »Bitte, ziehen Sie mir den Zahn nur rasch heraus, ich habe sehr wenig Zeit.«

»Aber, mein Herr,« antwortete der Zahnarzt kopfschüttelnd, »das wäre doch ewig schade! Der Zahn ist nur an einer Stelle angegriffen, sonst aber noch sehr gut. Durch Plombieren. . . .«

»Nein, nein, dazu habe ich momentan durchaus nicht die nötige Zeit!«

»Es muß nicht gleich geschehen. Ich würde ihn heute nur reinigen und eine schmerzstillende Einlage hineingeben. Wenn Sie dann einmal leichter Zeit haben, kann man die Sache fertigmachen.«

»Und wie lange würde das heute dauern?«

»O, nur ein paar Minuten!«

»Gut, aber rasch, bitte!«

Es dauerte wirklich kaum fünf Minuten und Hempel konnte seinen Weg zu Major Marchstätten antreten.

 


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