Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XXI.

Tage vergingen, ohne daß sich nach irgendeiner Richtung etwas Neues ereignet hätte.

Die Anfrage in Wien, Fosters dortigen Aufenthalt betreffend, war, wie Hempel fast erwartet hatte, ergebnislos geblieben.

In der ganzen Schönbrunnerstraße, ja in Wien und den Vororten überhaupt, war niemand dieses Namens gemeldet gewesen.

Sally war also wohl deshalb ärgerlich gewesen, daß ihr dieses Wort entschlüpft war, weil sich dadurch nun nachweisen ließ, daß ihre Herrschaft überhaupt nicht in Wien gewohnt hatte.

Oder hatten sie dort unter anderem Namen gelebt?

Daß »Foster« überhaupt nur ein angenommener Name war, davon glaubte Hempel überzeugt sein zu können.

Wie wäre es möglich, den wahren zu erfahren und das Vorleben des Amerikaners zu erforschen?

Tag und Nacht zerbrach sich Silas den Kopf darüber, aber die Sache schien bei dem Fehlen jedes bestimmten Anhaltspunktes beinahe aussichtslos. Nur um die Hände nicht ganz in den Schoß legen zu müssen, schrieb Hempel an das Pinkerton-Institut nach New York. Er gab eine möglichst deutliche Beschreibung des Mörders, wie er ihn in jener Nacht hinter der Holzmannschen Villa gesehen hatte, erwähnte, daß er hier unter dem Namen Charles Foster mit einer Frau lebe, die er für seine Mutter ausgebe, und wahrscheinlich Ende Sommers aus Amerika herübergekommen sei. Eine Negerin namens Sally befinde sich als Dienerin in ihrer Begleitung. Silas sagte sich natürlich, daß es nahezu unmöglich war, nach solch dürftigen Angaben einen Menschen auszuforschen. Trotzdem sandte er den Brief ab in der Hoffnung, ein glücklicher Zufall könne vielleicht doch zu einem Anhaltspunkt führen.

Fast täglich mit Einbruch der Dämmerung und oft bis tief in die Nacht hinein umkreiste er die Villa Lotos, auch da auf einen Zufall hoffend, der ihn mit Foster zusammenführen oder etwas Bemerkenswertes erspähen lassen würde.

Aber es gab nichts zu erspähen, und Dr. Foster selbst war wie vom Erdboden verschwunden. War er wirklich verreist? Silas glaubte es endlich, denn sonst hätte er ihn wohl einmal sehen müssen.

Auch im Untersuchungsgericht wollte es nicht recht vorwärts gehen. Trotz aller Mühe gelang es Dr. Wasmut nicht, Hartwig Henter zu einem Eingeständnis der Tat zu bringen oder ihn sonst irgendwie zu überführen.

Hartwig blieb dabei, er wisse nichts von dem Mord und sei daran in keiner Weise beteiligt. So oft man ihm Lydias Geständnis vorhielt, zuckte er die Achseln und erklärte, es seien Wahnvorstellungen eines zerrütteten Nervensystems.

Ein Alibi für die Zeit der Tat konnte er nicht erbringen. Er sagte, daß er an jenem Abend mit Holzmanns zusammen bei einer Zigeunermusik in der Weinstube Ratkolb gewesen, aber früher als sie fortgegangen sei. Dann wollte er lange Zeit mit seinen Gedanken beschäftigt durch die Straßen der Stadt geschlendert und erst gegen drei Uhr in seine Wohnung heimgekehrt sein. Gerade in dem Augenblick, wo dort das Telephon erklang, durch das ihn dann Paul, Holzmanns Diener, von dem Unglück verständigte. Aber er vermochte keine einzige Person anzuführen, die ihm während seiner mehr als zweistündigen Wanderung begegnet wäre. Dies fand der Untersuchungsrichter für sehr unwahrscheinlich und darum verdächtig.

Frau Holzmann versicherte er seit dem Tode ihres Mannes nur ein einzigesmal, und zwar völlig unerwartet nachts auf der Landstraße, gesehen zu haben.

Als man ihm die durch einen Detektiv beobachtete Zusammenkunft im Ybbenburger Park vorhielt, erklärte er, daß die Dame durchaus nicht Frau Holzmann gewesen sei, er aber im übrigen jede weitere Auskunft darüber verweigere.

Wasmut ließ es sich nicht nehmen, darin eine bewußte Lüge zu erblicken, denn er selbst war felsenfest davon überzeugt, daß es nur Frau Holzmann gewesen sein konnte. Denn obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, so war es doch nicht möglich gewesen, Henter andere Liebesbeziehungen nachzuweisen.

Gerade jene Zusammenkunft im Ybbenburgerpark aber war ein unumstößlicher Beweis für sein Liebesverhältnis zu Lydia Holzmann, wenn er es auch noch so sehr leugnete.

Das Leugnen bewies nur Henters hinterhältigen Charakter.

Zu Lydia konnte in dieser Zeit niemand vordringen. Seit ihrer Einvernahme durch den Untersuchungsrichter lag sie krank darnieder in einem seltsamen Zustand von Apathie, der nur zuweilen ohne ersichtliche Ursache von plötzlichen Aufregungszuständen unterbrochen wurde.

Dann bekamen ihre Augen einen unruhigen Glanz, ihre bleichen Wangen röteten sich fieberhaft und eine trügerische Kraft ließ sie das Ruhebett verlassen, um rastlos im Zimmer auf und ab zu wandern wie ein gefangenes Tier im Käfig. In solchen Stunden war sie völlig unzugänglich, beantwortete keine an sie gerichtete Frage und schien die Gegenwart anderer gar nicht zu bemerken. Plötzlich, wie er gekommen, verschwand dieser Zustand dann wieder. Lydia sank erschöpft auf das Ruhebett, ihre Augen waren nun wieder matt und glanzlos, ihre Wangen blaß, und eine ungeheure Schwäche beherrschte sie ganz.

Professor Königshofen hatte auf Wunsch des Majors gleich in den ersten Tagen nach dem Verhör Lydia Holzmanns Behandlung übernommen.

Er war ein noch junger Mann ungefähr in der Mitte der Dreißig, der erst vor kurzem als ordentlicher Professor an die G...er Nervenklinik berufen worden war. Sein Spezialfach war Psychiatrie, und er arbeitete darin nach modern psychopathischer Methode. Sein Ruf war bereits ein glänzender, und alle Welt prophezeite ihm eine ruhmreiche Zukunft. Lydias Fall hatte ihn gleich vom Anfang an interessiert, weil er völlig aus dem Rahmen bekannter Schablonen herausfiel und sich eigentlich nirgends einreihen ließ.

Kurz nachdem er die Behandlung übernommen, war eines Tages nach Professor Königshofens Sprechstunde Silas Hempel bei ihm erschienen und hatte um eine private Unterredung ersucht.

Er wolle unter Berufung auf die absolute Schweigepflicht des Arztes dem Herrn Professor einige Mitteilungen in bezug auf den Fall Lydia Holzmann machen. Die Sache würde vielleicht einerseits dem Arzt die Behandlung erleichtern, indem sie ihn manches von einem andern Gesichtspunkt aus sehen ließe, anderseits läge ihm, dem Kriminalbeamten, sehr viel daran, die Ansicht eines gewiegten Psychiaters darüber kennenzulernen.

Die Unterredung zwischen Hempel und dem Professor dauerte fast zwei Stunden. Sie schloß mit der Frage des Detektivs: »Sie halten also meine Annahme für kein Hirngespinst, Herr Professor, sondern für eine mögliche Sache?«

Worauf Königshofen ohne Zögern antwortete: »Unbedingt! Sie bildet für mich sogar das fehlende Glied in einer Kette von Beobachtungen, nach dem ich vom ersten Moment an – aber bisher vergeblich – suchte. Vieles wird mir jetzt nach Ihren Mitteilungen erst erklärlich, und ich hoffe nun durch eine anders eingestellte Behandlungsweise auch bessere Erfolge erzielen zu können als bisher.«

Von diesem Tage an gewann Professor Königshofen neben dem wissenschaftlichen Interesse an dem Fall auch ein rein menschliches.

Lydias durch Schwäche und Hilflosigkeit doppelt rührende Schönheit und die tiefe Trauer der Eltern über den Zustand ihres einzigen Kindes hatten gleich anfangs tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Jetzt erwachte der leidenschaftliche Wunsch in ihm, dieses schöne junge Geschöpf der dunklen Macht, der es verfallen schien, um jeden Preis zu entreißen und es dem Leben wiederzugeben.

Alles, alles, sein ganzes Wissen, seine ganze Kraft wollte er daran setzen, dies Ziel zu erreichen! –

Serena von Eltz hatte seit der Unterredung mit ihrem Vater, die beide gleich stark und tief erschütterte, mehrmals versucht, Lydia zu sehen. Aber immer wurde sie schon an der Türe von dem Stubenmädchen mit dem Bescheid abgespeist: Die Herrschaften empfingen niemand, seit Frau Holzmann erkrankt sei und der behandelnde Professor absolute Ruhe verordnet habe.

Indes ließ sich Serena dadurch nicht abschrecken. Immer wieder kam sie in Abständen von ein paar Tagen, um sich nach dem Befinden der Freundin zu erkundigen. Und jedesmal brachte sie frische Blumen mit, die man der Kranken ins Zimmer stellen solle.

Das rührte die Eltern tief, um so mehr, als sie wußten, daß Serena früher Hartwig Henter geliebt hatte, der nun seine Verhaftung doch nur Lydia zu verdanken hatte.

Und sie fanden es groß und edel von Serena, daß sie nun als einzige von allen früheren Freunden so treu zu Lydia stand, selbst wenn ihre Liebe zu Henter sich inzwischen verflüchtigt hätte, wie sie annahmen.

So gab der Major eines Tages Auftrag, wenn Fräulein v. Eltz wiederkäme, sie zu ihm in sein Arbeitszimmer zu führen.

Dies war schon zwei Tage später der Fall. In dieser Unterredung erfuhr Serena zum erstenmal alle Begleitumstände von Lydias Aussage und auch, daß die Eltern selbst an diese Aussage nicht glaubten. Sie erfuhr auch Näheres über Hartwigs Verhaftung, seine Lage und die Indizienbeweise, die man gegen ihn geltend machte.

Serena geriet darüber in große Aufregung, gestand ganz unumwunden ein, daß sie von Hartwigs Unschuld überzeugt sei und ihn mehr als je zuvor liebe. Schließlich erklärte sie, man könne Hartwig doch unmöglich länger schutzlos einem so gräßlichen Verdacht ausgesetzt lassen, irgendetwas müsse geschehen.

»Hat er denn wenigstens schon einen Verteidiger?« fragte sie erregt.

Der Major mußte verneinen.

»Gut,« sagte Serena, »dann werde ich dafür sorgen, daß der beste Rechtsanwalt, den wir in G. haben, seine Verteidigung übernimmt. Ich glaube, das ist Dr. Mahlus?«

»Ja. Er gilt als unser geschicktester Verteidiger.«

»Ich werde morgen selbst zu ihm gehen – er ist ja persönlich seit Jahren mit uns befreundet und wird meine Bitte gewiß nicht abschlagen. Aber auch sonst noch muß etwas geschehen, das mir sehr wichtig erscheint, und dabei hoffe ich, daß Sie mir raten werden, Herr Major.«

»Wenn ich es vermag, von ganzem Herzen gern. Was, meinen Sie, müßte noch für Herrn Henter geschehen?«

»Man müßte jemand finden, der unabhängig von der Behörde nach dem wahren Täter sucht. Nur so, meine ich, wenn der wirkliche Mörder gefunden ist, würde Hartwigs Unschuld bewiesen sein. Die Behörden werden nun, da sie den Schuldigen bereits gefunden zu haben glauben, sicher nicht mehr nach anderen Spuren suchen, und doch scheint mir gerade das so notwendig. Denken Sie nach, Herr Major, und raten Sie mir, wo ich solch einen Menschen finden kann.«

Major von Marchstätten blickte stumm vor sich hin. Er hatte bisher alles vermieden, was auf Silas Hempels Nachforschungen hätte hindeuten können, denn der Detektiv hatte ihm strengstes Stillschweigen gegen jedermann darüber zur Pflicht gemacht. Wohl kannte er Serena von Eltz als ernst und verschwiegen, dennoch hielt er sich nicht für berechtigt, zu ihr von Hempel und seinen Annahmen zu sprechen.

Serena verstand sein Schweigen als Ablehnung. »Sie kennen also keinen solchen Menschen, Herr Major?« fragte sie enttäuscht.

Da antwortete er, zu einem Entschluß kommend, langsam: »Doch, ich kenne einen solchen Mann, liebe Serena, und weiß auch, daß er trotz Henters Verhaftung und trotz der Aussage meiner Tochter fest an dessen Unschuld glaubt.«

»O, so nennen Sie mir doch diesen Mann, damit ich zu ihm gehen und ihn beschwören kann, seinen Glauben in Taten zu verwandeln!«

»Dazu bin ich aus Gründen, die ich nicht näher erklären kann, nicht berechtigt. Aber ich bin ganz bereit, ihn von Ihren Wünschen in Kenntnis zu setzen und, wenn er darein willigt, ihn persönlich mit Ihnen bekannt zu machen.«

»Wann werden Sie mit ihm sprechen?«

»Heute noch, wenn Sie es wünschen.«

»Ja, bitte, tun Sie es! Darf ich mir morgen Antwort holen?«

»Gewiß, und hoffentlich kann ich Ihnen dann eine recht gute mitteilen!«

Der Major hoffte im stillen, daß Silas Hempel, wenn er ihm von Serenas Beziehungen zu Hartwig erzählen und ihm den Charakter dieses Mädchens schildern würde, einwilligen werde, ihre Bekanntschaft zu machen, und sie dann selbst in seine Bemühungen, die Wahrheit zu ermitteln, einweihen würde.

Aber Silas, der übler Laune war, weil nichts vorwärts ging, wie er wollte, schlug alles rundweg ab. Er hielt nicht viel von jungen Mädchen, wenn es sich darum handelte, Geheimnisse zu bewahren, sagte er. Vollends nicht, wenn sie in glänzenden Verhältnissen lebten und einzige Töchter seien, was fast immer mit Verwöhntheit und Oberflächlichkeit Hand in Hand ginge. . . .

»In unserm Fall aber ist gerade jetzt größte Verschwiegenheit Bedingung des Gelingens,« schloß er. »Henters Verhaftung hat das Gute für uns, daß sich der Mörder nun wieder sicher fühlt. Darin muß er erhalten werden.«

»Aber Fräulein v. Eltz würde gewiß schweigen, wenn . . .«

»Bah, ich halte nichts von der Schweigsamkeit der Weiber, und wenn sie schon den Mund halten, so haben sie doch selten Gewalt über ihre Mienen. Ein einziger unbewachter Blick aber könnte unter Umständen schon Unheil stiften! Nein, nein, lassen wir lieber alles, wie es ist!« sagte Hempel mürrisch.

Damit war die Angelegenheit erledigt, und der Major konnte Serena am nächsten Tage nur einen abschlägigen Bescheid geben. Sie nahm es tapfer hin, wie alles, was das Leben ihr brachte.

 


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