Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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I.

Gerhard Holzmann steckte den Schlüssel in das Torschloß seiner Villa. Ein Griff nach rechts im Innern des Flurs, und das Stiegenhaus lag im hellen Schein des elektrischen Lichtes.

Seine junge Gattin war mit ihm zugleich eingetreten. Jetzt sagte sie, dem Treppenaufgang zuschreitend: »Nun, Gerdy, warum schließt du die Tür nicht wieder ab? Willst du am Ende noch einmal fort?«

»Nein, ich bin wahrlich müde genug! Aber nach dem Schuppen muß ich noch einen Augenblick, um mich zu überzeugen, ob meine Anordnungen ausgeführt worden sind.«

»Muß das sein – jetzt um halb drei Uhr morgens?«

»Ja. Wenn die neue Formmaschine nicht aufgestellt wurde, wie ich anordnete, so wären wir morgen früh bei Arbeitsbeginn aufgehalten. Übrigens komme ich ja in zwei Minuten zurück. Lege dich einstweilen ruhig nieder, Lydia!«

»Ja, auch ich bin todmüde. Auf Wiedersehen, Gerdy!«

Frau Lydia Holzmann stieg die hellerleuchtete Freitreppe hinauf zur ersten Etage und ging durch den geräumigen Korridor zu ihrem Schlafgemach, um sich gleich zur Ruhe zu begeben.

Holzmann war indessen schon draußen am Kiesplatz und schritt eilig einem niedern, schuppenartigen Gebäude zu, das an die ihm gehörende Tonwarenfabrik »Holzmann & Co.« stieß.

Im nächsten Augenblick flammte in den acht großen Fenstern des Schuppens Licht auf, dessen Widerschein grell auf einen Teil der Seitenfront der Villa fiel.

Im Bereich dieses plötzlichen Lichtscheines lagen auch die drei Fenster, die zur Wohnung des Hauswarts Albert Rosner gehörten. Die jähe Helle, die durch die vorhanglosen Fenster sich ins Innere der zwei Stuben ergoß, ließ den alten Hauswart erwachen.

Indes geschah dieses Erwachen so plötzlich, daß Rosner nicht gleich begriff, was geschehen sei. Noch schlafbefangen starrte er verwirrt in die Helle, die jedes Ding im Zimmer deutlich erkennen ließ. Auf der Fabrikuhr schlug es eben ¾3.

Schien der Mond ins Zimmer?

War es Feuerschein?

Brannte am Ende die Fabrik?

Bei dieser Vorstellung wurde Rosner völlig wach. Eilig sprang er aus dem Bett und griff nach seinen Kleidern. Da fiel draußen ein Schuß. Kurz und scharf durchschnitt der Schall die Stille der Nacht.

Was war geschehen? Der Hauswart hatte mit zitternden Händen die Kleider übergeworfen. Ein Sprung brachte ihn ans Fenster, das er instinktiv aufriß.

Gottlob, es war kein Feuerschein, die Fabrik brannte nicht, bloß im Schuppen waren die Lichter aufgedreht, daher die Helle . . .

Sonst war alles totenstill draußen.

Rosner starrte nach dem Schuppen, dessen Tür offen stand. Wer konnte sie geöffnet und das Licht aufgedreht haben?

Wie als Antwort auf seine Gedanken sah der Hauswart jetzt die Gestalt seines Herrn aus dem offenen Schuppen treten und über den Kiesplatz auf die Villa zukommen.

»Seltsam,« dachte Rosner, »warum dreht er nur das Licht nicht ab und läßt die Türe hinter sich offen? . . . Und wie langsam er geht . . .«

Da blieb Ingenieur Holzmann, der nur mehr wenige Schritte vom Hauseingang entfernt war, plötzlich stehen und fuhr sich mit der Hand an die Stirn.

»Rosner . . . schnell, Rosner . . . mir ist nicht gut . . .« klang es angstvoll und dringend.

Damit sank die Gestalt Holzmanns zu Boden.

Der Hauswart war schon draußen, aber er vermochte seinem Herrn nicht aufzuhelfen, der das Bewußtsein verloren zu haben schien und groß und schwer war – viel zu schwer für die schwachen Kräfte des siebzigjährigen Mannes.

Eine Sekunde lang stand er ratlos. Dann stürzte er ins Haus und schlug in der Halle an den Gong, der sonst zu den Mahlzeiten rief. Das mußten alle hören – der Diener Paul, die Hausmädchen und der Autolenker Manko, die alle im Oberstock schliefen.

Rosner selbst stürzte weiter in den ersten Stock. An der Türe des Schlafzimmers trat ihm schon Frau Lydia Holzmann in großer Aufregung entgegen.

Sie war bereits im Bett gelegen, hatte aber, als sie unten Unruhe hörte, ihren Pelzmantel über das Nachtkleid angezogen und fragte nun den ihr entgegeneilenden Hauswart mit bleichen Lippen:

»Rosner – was ist denn geschehen? Warum schlugen Sie den Gong? Und mein Mann . . . wo ist mein Mann?«

Der Hauswirt nahm sich zusammen.

»Ich wollte Sie eben holen, gnädige Frau. Dem gnädigen Herrn ist schlecht geworden . . . unten vor dem Haus . . . ich kann ihn nicht allein heraufschaffen . . . darum . . .«

Lydia hörte nicht mehr. Sie war schon an dem alten Mann vorüber die Treppe hinabgeflogen. Ihr folgte der Hauswart und vom Oberstock her der Diener.

Gerhard Holzmann war noch immer bewußtlos. Sein Kopf lag in Lydias Schoß, die sich vergeblich bemühte, ihn durch zärtliche Worte wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Paul und der Hauswart trugen ihn vorsichtig hinauf und setzten ihn in einen Klubfauteuil.

Lydia legte unterstützend den Arm um ihren Mann. Die gesamte Dienerschaft hatte sich bereits eingefunden und blickte von der Tür her halb mitleidig, halb neugierig auf die Gruppe.

Plötzlich stieß Frau Lydia einen Schrei aus. Ihre Hand hatte an der Brust des Gatten in etwas Nasses getastet und war dabei rot von Blut geworden . . .

Da erst erkannte man, daß es sich nicht um ein einfaches Unwohlsein, sondern um eine Verwundung – und zwar offenbar um eine schwere – handelte . . . Man bettete Holzmann auf das Sofa.

Die Erkenntnis gab Frau Lydia ihre gewohnte Umsicht wieder. Sie befahl Paul, sofort nach dem Hausarzt, einem Rettungswagen und dem Spital zu telephonieren. Letzteres, weil vielleicht ein chirurgischer Eingriff sich als nötig erweisen würde. Dann winkte sie dem Autolenker.

»Herr Wanko, ich weiß, Sie dienten während des Krieges bei der Sanitätstruppe; bitte, helfen Sie mir! Man muß ihn doch von den Kleidern befreien . . . und sehen, was eigentlich . . .« Ihre Stimme schwankte. Doch nahm sie sich zusammen und holte die Schere, um die Wanko ersuchte.

Vorsichtig wurden Kleider und Hemd um die Wunde herum weggeschnitten. Diese war ganz klein, wie man auf den ersten Blick erkannte, eine Schußwunde. Kleider und Wäsche in ihrer Umgebung waren stark mit Blut getränkt.

»Müßte man nicht auch an die Polizei telephonieren?« sagte der Autolenker leise zu Frau Lydia. Sie sah ihn einen Augenblick erschrocken an, wurde noch bleicher, als sie schon war, antwortete dann aber entschlossen: »Ja, natürlich. Bitte, tun Sie es, Herr Wanko . . . und, bitte, telephonieren Sie auch an Herrn Henter. Er soll sofort hieherkommen!«

Hartwig Henter war Holzmanns bester Freund und schon vor dessen Verheiratung sein unzertrennlicher Begleiter gewesen. Auch heute hatte er den Abend in Gesellschaft des jungen Paares verbracht, und es war kaum eine Stunde verflossen, seit man sich getrennt hatte.

Während Wanko sich entfernte und Lydia angstvoll auf den Arzt wartete, schlug der Verwundete die Augen auf, aber nur, um sie mit leerem Blick auf Lydia zu heften und dann sofort wieder zu schließen.

Paul, der seinen Platz am Telephon Wanko überlassen hatte, trat zu seiner Herrin, um leise Bericht zu erstatten.

»Dr. Wille wird sogleich eintreffen, gnädige Frau. Vom Spital aus wird ein Krankenauto geschickt und gleichzeitig ein Zimmer für den gnädigen Herrn bereitgemacht. In einer kleinen halben Stunde wird das Krankenauto mit einem Arzt hier sein. Wäre es nicht Nacht, würde es schon früher hier sein können, so aber müssen die Leute erst geweckt werden . . .«

Frau Lydia hörte kaum hin. Ihr scharfes Ohr hatte auf der Treppe einen raschen, wohlbekannten Tritt vernommen, und im nächsten Augenblick trat zu ihrer unaussprechlichen Erleichterung Dr. Wille ein, der schon in ihrem Elternhaus Hausarzt gewesen war und ihr unbedingtes Vertrauen einflößte.

Er war ein alter Junggeselle, der nur für seine Patienten lebte und im eigenen Haus wohnte, das ganz nahe bei der Villa Holzmann lag.

Lydia konnte ihm nicht entgegengehen, denn noch immer lag ihr Arm stützend um den Oberkörper des Bewußtlosen, und sein Kopf ruhte schwer darauf.

Der Arzt frug leise, was denn eigentlich geschehen sei, und Frau Lydia erzählte im Flüsterton, was sie wußte. Dann machte Dr. Wille sich daran, den Verwundeten vorsichtig zu untersuchen und ihn in bequemere Lage zu bringen. Frau Holzmann konnte sich erheben und ihren steif gewordenen Arm zurückziehen.

»Ein Lungenschuß,« murmelte der Arzt, nachdem er die vorläufige Untersuchung beendet hatte. »Die Kugel steckt noch irgendwo. Ich würde sofortige Überführung ins Spital vorschlagen, denn vielleicht erweist sich ein operativer Eingriff als nötig.«

»Ich dachte es,« sagte Frau Lydia, die kurz vor ihrer Verheiratung einen Krankenpflegerinnenkurs besucht hatte. »Ich ließ deshalb bereits an das Landeskrankenhaus telephonieren, und man will uns ein Krankenauto schicken.«

»Das ist gut! Warten wir also!«

Frau Lydia legte die Hand auf den Arm des Arztes und sah ihn qualvoll an. »Aber nicht wahr, . . . es ist doch Hoffnung, daß . . . daß alles wieder gut wird?« flüsterte sie mit zuckenden Lippen.

»Na, gewiß hoffen wir das! Ein so junger, kerngesunder Mann! Nur den Kopf nicht hängen lassen, Frau Lydia!«

In diesem Augenblick vernahm man abermals Schritte draußen. Von Paul geleitet, traten einige Herren ein, begleitet von zwei Wachleuten. Einer der letztern blieb an der Türe stehen.

»Polizeikommissar Heidinger, Dr. Lerch, Polizeiarzt, und Detektiv Silas Hempel,« stellte der Kommissar sich und seine Begleitung vor.

Der Arzt machte sie mit dem, was er von Frau Holzmann soeben erfahren hatte, bekannt. Kaum war das letzte Wort verklungen, als die Tür abermals geöffnet wurde, und ein junger, elegant gekleideter Herr sich trotz des Widerstands des Schutzmanns an der Türe ungestüm Eintritt erzwang.

Ohne die Herren von der Polizei zu beachten, warf er einen entsetzten Blick auf den auf dem Sofa ruhenden, noch immer bewußtlosen Hausherrn und eilte dann auf Frau Holzmann und den neben ihr stehenden Dr. Wille zu.

»Lydia . . . um Gottes willen, was ist geschehen? Gerdy ist . . . was ist ihm denn zugestoßen?«

Frau Holzmann reichte ihm zitternd die Hand. »Irgend jemand hat auf ihn geschossen . . . unten im Schuppen . . . gleich nach unserer Heimkehr . . . mehr weiß ich selber nicht! O Hartwig . . . es ist so entsetzlich . . .! Ich bin so froh, daß Sie gleich gekommen sind . . . es ist mir eine Beruhigung, daß Sie da sind! Gerdy muß ins Spital geschafft werden . . .«

»Darf ich fragen, wer der Herr ist?« unterbrach der Polizeikommissar das Gespräch.

Lydia wandte sich nach ihm um.

»Verzeihen Sie . . . ich habe ganz vergessen . . . Herr Hartwig Henter, der beste Freund meines armen Mannes.«

Abermals wurde die Türe geöffnet. Paul führte einen jungen Mann herein.

»Dr. Siebert, der Arzt aus dem Krankenhaus, der eben mit dem Krankenauto kam.«

Ohne Zögern trat er an den Kranken heran, der in diesem Augenblick abermals die Augen aufschlug, diesmal nicht mit leerem Ausdruck, sondern bei vollem Bewußtsein. Sein Blick suchte an dem jungen Arzt vorüber nach seiner Frau, die dicht daneben stand. Er sah sie an und blickte dann zu Dr. Wille und Hartwig Henter. Er machte dabei eine Anstrengung, als wolle er sprechen, was den Polizeikommissar veranlaßte, sich rücksichtslos vorzudrängen und seinen Kopf zu Holzmann niederzubeugen, um den ersten Laut von den sich bewegenden Lippen aufzufangen.

Aber es kam keine Silbe von diesen Lippen, die sich nach kurzem Bemühen wieder erschöpft und verzweifelt schlossen.

Die Ärzte drängten den Kommissar unwillig beiseite.

»Sie sehen wohl, daß der Verwundete nicht sprechen kann, Herr Kommissar. An eine Vernehmung ist also vorderhand gar nicht zu denken,« sagte Dr. Wille scharf.

»Und wann glauben Sie . . .

»Darüber müssen Sie später im Krankenhaus den behandelnden Arzt fragen. Jetzt läßt sich absolut nichts sagen.«

Dr. Siebert hatte inzwischen die Tür geöffnet und zwei mit einer Tragbahre davor stehende Sanitätsdiener hereingewinkt.

Behutsam, mit geübten Händen betteten sie Holzmann darauf und trugen ihn auf einen weitern Wink des jungen Arztes hinaus.

Jetzt kam Leben in Frau Holzmann. Sie wollte durchaus mit ins Spital, und alles Zureden Dr. Willes verhallte ungehört an ihrem Ohr. Dr. Siebert aber flüsterte diesem zu: »Lassen Sie sie keinesfalls mit, sie würde dem Kranken ja doch nichts nützen und uns nur hinderlich sein.«

Hartwig Henter hatte es gehört. Rasch entschlossen trat er dicht an Lydia heran.

»Liebe Lydia, seien Sie vernünftig, es ist ganz unmöglich, daß Sie Gerdy ins Spital begleiten. Aber ich werde mit ihm fahren und ich schwöre Ihnen, daß Sie selbst ihn nicht besser und treuer pflegen könnten, als ich es tun werde!«

Er drückte ihr die Hand wie zur Bekräftigung seiner Worte und eilte rasch dem jungen Arzte nach, der den Transport des Verwundeten überwachte.

Eine Minute später hörte man die Hupe des abfahrenden Autos heraufklingen. Lydia blickte verstört um sich. Alles drehte sich vor ihr, und ein schwarzer Schleier breitete sich vor ihren Augen aus. Lautlos sank sie auf das Sofa. Eine Ohnmacht beraubte sie der Qual weiteren Denkens.

 


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