Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XII.

Silas Hempel wohnte nun schon über zwei Wochen beim Hauswart Rosner in der Villa Holzmann, ohne daß sich irgend etwas Neues im Schuppen ereignet hatte.

Nacht für Nacht verging in ungestörter Ruhe, und je länger diese Ruhe andauerte, desto nervöser wurde der Detektiv, weil er sie sich nicht erklären konnte.

Hatte der Mörder das, wonach er suchte, damals am Ende doch gefunden, weil er nicht wiederkam, oder hatte er die Suche danach, als zu gefährlich, aufgegeben?

War er überhaupt noch hier oder hatte er bereits das Weite gesucht?

Fragen, mit denen sich Silas Hempel unablässig abquälte, ohne eine Antwort zu finden. Auch seine Nachforschungen in Hotels, Gasthöfen und Pensionen waren vollkommen ergebnislos geblieben. Nirgends war um die fragliche Zeit ein eleganter junger Mann, der vermutlich aus dem Ausland kam, einen auffallend wertvollen Brillantring trug und eine besondere Zigarettensorte rauchte, abgestiegen.

Freilich – eine Personsbeschreibung konnte Hempel nicht geben, und so lag es vielleicht an dem, daß alle Nachforschungen ergebnislos blieben.

Silas fieberte vor Ungeduld. Warum geschah nichts, das weitere Anhaltspunkte gegeben, neue Möglichkeiten erschlossen hätte? War er selbst denn so ungeschickt, daß er wie ein Blinder den Weg verloren hatte und nun im Dunklen herumtappte?

Er dachte an seine Kollegen, die längst nach Wien zurückgekehrt waren, dachte beschämt an seine Unterredungen mit Polizeikommissar Heidinger, dem er gar nicht mehr unter die Augen zu treten wagen würde, wenn es ihm wirklich nicht gelang, den Fall Holzmann aufzuklären.

Von solchen Gedanken gequält, lag er eines Nachts wieder schlaflos im Bett und überging in Gedanken noch einmal Punkt für Punkt alle bisher festgestellten Tatsachen und seine darauf aufgebauten Schlüsse.

War ein Fehler darin? Hatte er falsch kalkuliert? Nein! Immer wieder kam er zu denselben Schlüssen. Und doch mußte etwas nicht stimmen! Denn auf Grund dieser Schlüsse hatte er ja bestimmt angenommen, daß der Mörder noch einmal kommen werde, dasjenige zu holen, was er schon einmal vergeblich gesucht und um deswillen wahrscheinlich der Mord begangen worden war.

Aber der Mörder war nicht wiedergekommen, – also mußte die ganze Kombination falsch . . .

Silas Hempels Gedanken stockten jäh. Irgend etwas . . . ein ganz leises, kaum hörbares Geräusch von außen hatte sie unterbrochen. . . .

Er lag völlig bewegungslos, das Gehör aufs äußerste angespannt, und – glaubte, sich getäuscht zu haben. Denn nichts regte sich. Totenstill und dunkel stand draußen die Nacht, während hier im Zimmer nur zwei Geräusche die Stille unterbrachen: Das Ticken der Standuhr und die regelmäßigen Atemzüge des schlafenden Rosner im Nebenzimmer, dessen Tür, wie gewöhnlich, offen stand.

Was war es gewesen?

›Nichts, deine erregten Nerven‹, sagte sich Silas und hielt die wachen Augen doch immer erwartungsvoll auf den Fleck geheftet, wo der Signalapparat angebracht war.

Aber kein Licht flammte auf, kein Signal ertönte, kein Laut. . . .

Halt – da war es wieder! Diesmal deutlicher. Ein leise klirrendes Geräusch, wie wenn vorsichtig ein Schlüssel im Schloß gedreht würde. Außer Haus? Im Haus? Das konnte Silas nicht unterscheiden. Wieder Stille. Wieder ein Geräusch. Diesmal, wie wenn eine Türe behutsam geöffnet würde, und jetzt war der Detektiv ganz sicher, daß es innen im Haus selbst war.

Da er der Vorsicht wegen, um jederzeit gleich bereit zu sein, stets nur die Oberkleider ablegte, brauchte er nur diese überzuwerfen. Er schob den Revolver in die Tasche, griff nach der Blendlaterne, die stets vorbereitet auf dem Tisch stand, und ging in den Strümpfen nach dem Nebenzimmer, um Rosner zu wecken.

»Herr Rosner, wachen Sie auf, es ist jemand im Haus! Kommen Sie mir nach, aber ohne Schuhe und völlig lautlos, bitte! Revolver nicht vergessen!«

Der Hauswart war sofort munter. Mit einem erschreckten Blick sprang er aus dem Bett und begann hastig seine Kleider überzuwerfen.

Inzwischen öffnete Silas bereits geräuschlos die Tür nach dem Hausflur und verschwand.

Dunkelheit und ein scharfer kalter Luftzug, der von rückwärts zu kommen schien, empfingen ihn im Flur. Aber von oben, wo die Treppe in den Flur des ersten Stockwerks mündete, fiel Lichtschein. Silas wußte, daß sich auf diesem Flur der Eingang zur Holzmannschen Wohnung befand.

Während er leise die Treppe hinanstieg, hörte er abermals eine Tür gehen, diesmal oben im Flur. Gleichzeitig erstarb der Lichtschein. Der nächtliche Eindringling mußte also die Wohnung oben betreten haben, die durch eine besondere Tür abgeschlossen war. Diese Türe besaß zwei Schlösser, ein gewöhnliches und ein sehr kompliziertes, eine Erfindung Holzmanns, mit eigens konstruiertem Schlüssel.

Beide waren, wie Hempel wußte, versperrt, und das von dem toten Hausherrn für seine Privatwohnung konstruierte Schloß konnte unbedingt nur durch den dafür verfertigten Schlüssel geöffnet werden. Er wußte auch von Rosner, daß nur zwei Schlüssel angefertigt worden waren: Einen besaß Frau Lydia, der andere war an Rosners Schlüsselbund, den er immer bei sich trug, befestigt.

Wieso konnte der Eindringling nun so ohne weiteres die Tür öffnen?

Der Hauswart war indessen mit anerkennenswerter Geräuschlosigkeit nachgekommen, und sie hatten beide die oberste Treppenstufe erreicht.

Silas ließ einen ganz kurzen Strahl aus seiner Blendlaterne über den Stiegenflurabsatz und die Wohnungstür gleiten.

Sie stand sperrangelweit offen! Der dahinter liegende Vorraum zur Wohnung war dunkel, aber von rechts fiel durch eine gleichfalls sperrangelweit offenstehende Zimmertür ein schwacher Lichtschein in den Vorraum. Indes schien dieser aus einem dahintergelegenen Zimmer zu kommen.

Hempel und Rosner folgten diesem schwachen Schein in das Wohnzimmer, aus dem er kam.

Aus diesem führte eine Tür nach dem ehemaligen gemeinsamen Schlafzimmer des Ehepaares. Auch diese Türe stand offen, und der Anblick, der sich den beiden Männern durch sie bot, war ein so unerwarteter und seltsamer, daß beide nur mit Mühe einen Laut der Überraschung unterdrückten.

Denn der vermeintliche Einbrecher, dem sie mit so großer Vorsicht gefolgt waren, war kein Mann, sondern eine Frau, und zwar niemand anders als Frau Lydia selbst! In der Ecke des ziemlich großen Gemaches stand ein hohes schmales Ladenkästchen von altertümlicher Form. Vor diesem stand Frau Lydia in ihren schwarzen Trauerkleidern, vom Witwenschleier umwallt, und kramte in den Laden, die alle sechs aufgezogen waren. Das elektrische Licht im Zimmer war aufgedreht, und außerdem stand eine brennende Kerze auf einem Nebentischchen, ohne Leuchter, einfach in eine leere Blumenvase gesteckt.

Was aber Silas Hempel auf den ersten Blick am seltsamsten berührte, war das Gebaren der jungen Witwe. Ihre Bewegungen hatten etwas Automatenhaftes, ihr Blick etwas Starres, Abwesendes, das gar nicht zu ihrem Tun paßte.

Sie schien nach etwas zu suchen, das sich offenbar nicht finden ließ, denn zuweilen seufzte sie tief auf, und ihre Züge wurden immer unruhiger. Zuletzt lehnte sie sich wie erschöpft an das Schränkchen, wobei ihr Gesicht einen gequälten, verzweifelten Ausdruck annahm.

Ein paar Minuten später schob sie die Laden zu, sperrte sie ab und ließ den Schlüssel in ihr Täschchen gleiten. Dann griff sie nach der Kerze.

Die beiden Männer hatten von der Tür aus Frau Lydias Gebaren verwundert beobachtet. Jetzt, wo sie sich zum Gehen wandte, wollte Rosner auf sie zugehen, um sie zu begrüßen. Aber ein gebieterischer Blick Hempels gebot ihm Schweigen, während der Detektiv ihn gleichzeitig hastig in den Flur hinauszog, wo sie im Schatten eines Schrankes stehen blieben.

Lydia schritt, die Kerze in der Hand, der Türe zu. Sie ging langsam, in gemessenem Schritt, die Augen weit geöffnet, doch starr und blicklos. An der Tür blieb sie stehen und drehte das Licht aus.

Diesen Augenblick benützte Hempel, um mit Rosner die Wohnung zu verlassen und die Treppe hinabzueilen. Unten im Hausflur suchten sie Deckung hinter einer Blattpflanzengruppe, die rechts vom Treppenaufgang stand. Man konnte von hier aus die Treppe überblicken, aber von ihr aus nicht leicht gesehen werden.

»Warum sind wir nicht oben geblieben?« fragte Rosner den Detektiv leise. »Um weiter zu beobachten, was . . .«

»Es gibt nichts weiter zu beobachten. Aber wir wären bei längerem Verweilen eingeschlossen worden.«

Wie zur Bestätigung von Hempels Worten erschien nun oben an der Wohnungstür Frau Lydia mit der Kerze in der Hand und schloß die Tür, sie dann von außen versperrend.

Sie tat dies sehr vorsichtig, sichtlich bemüht, dabei jedes Geräusch zu vermeiden.

Hempel beugte sich dicht an den Hauswart heran. Nur wie ein Hauch drangen die Worte in Rosners Ohr: »Haben Sie je bemerkt, daß Frau Holzmann nachtwandelt?«

»Nein, niemals!« kam es ebenso hauchartig zurück.

Inzwischen stieg Lydia die Treppe herab, abermals langsam, gemessen, automatenhaft. Mit der brennenden Kerze in der Hand, den schwarzen Gewändern, die lautlos über die weißen Marmorstufen glitten, und dem starren, völlig farblosen Gesicht bot sie einen unheimlichen, gespensterhaften Anblick.

Je näher sie den beiden Männern kam, desto deutlicher wurde Hempel das Unnatürliche ihres Ausdrucks. Er bemerkte, daß kleine Schweißperlen auf Lydias Stirn standen, und der verzweifelte Ausdruck ihres Gesichtes hatte etwas gleichsam Versteinertes.

Am Fuß der Treppe angelangt, wandte sie sich nach links, woher immer noch ein kalter Luftzug fühlbar war.

Hempel gab Rosner ein Zeichen, hierzubleiben, während er selbst Lydia lautlos folgte. Sie schritt der Rückseite des Hauses zu, wo es ein kleines Pförtchen nach dem zur Villa gehörigen Garten gab. Dieses stand weit offen, so daß der kalte Luftzug im Hausflur verständlich wurde.

Durch dieses Pförtchen, das sie von außen hinter sich verschloß, verließ Lydia das Haus.

Hempel hatte dies vorausgesehen und auch, daß er ihr auf diesem Wege nicht folgen konnte. So hatte er schon, als sie auf die kleine Pforte zuschritt, kehrtgemacht und war an die vordere Haustür zurückgeeilt. In dieser ließ man über Nacht stets den Schlüssel innen stecken. Die Haustür öffnen und um das Haus herum eilen war beinahe eins. Der Garten war hier gegen den Kiesplatz und die Straße zu durch einen Gitterzaun abgegrenzt. An seinem rückwärtigen Ende befand sich eine eiserne Gittertür, durch die man auf die Straße gelangen konnte. Sie war stets versperrt und wurde nur geöffnet, wenn Gartenarbeiten vorgenommen wurden, damit die dabei beschäftigten Arbeiter beim Kommen und Gehen das Haus nicht betreten mußten.

Es schien Silas klar, daß Frau Lydia nur durch diese Gittertür gekommen sein konnte und sie wieder zum Fortgehen benützen würde.

Er wandte sich also gar nicht nach dem Garten, der ganz verschneit war und in den ihn Frau Lydia schließlich noch eingesperrt hätte, sondern eilte auf die Straße hinaus und am Gitterzaun entlang, um sie außerhalb des Gartenausgangs zu erwarten.

Indes mußte er diese Absicht aufgeben. Denn als er die Längsseite des Zaunes entlang gegangen war und eben um die Ecke biegen wollte, da der Ausgang inmitten der Schmalseite des Gartens lag – fuhr er erschrocken zurück und drückte sich eilig in den Schatten des gemauerten Eckpfeilers, der den Gitterseiten als verbindende Stütze diente.

Dicht vor der Gartentüre stand nämlich ein Auto mit geschlossener Karosserie und abgeblendeten Lichtern, so daß man bei der herrschenden Dunkelheit der mondlosen Nacht die Nummer nicht erkennen konnte. In seinem Schatten aber stand unbeweglich eine schwarze Gestalt.

Dieser Anblick hatte Silas natürlich im ersten Augenblick jäh zurückgescheucht und vor allem Deckung suchen lassen.

Im nächsten aber wagte er sich vorsichtig wieder vor, um am Eckpfeiler vorüber nach der schwarzen Gestalt zu spähen, die hier doch offenbar auf die zurückkehrende Frau Lydia wartete. Es war sehr finster ringsum, denn die nächsten Straßenlaternen standen weit entfernt, ebenso die Häuser, da die Straße noch nicht ausgebaut war.

Immerhin, das Auge gewöhnt sich an die Dunkelheit, und so hatte Silas doch feststellen können, daß die schwarze Gestalt ein Mann war. Im selben Augenblick wurde die Gittertür geöffnet und Lydia trat heraus, immer noch die brennende Kerze in der Hand, nach der indes der wartende Mann nun hastig griff und sie ausblies.

Eine einzige Sekunde lang war dabei ihr Schein auf den Mann gefallen, der sie auslöschte. Aber sie hatte genügt, um Silas Hempel zwei Dinge in voller Klarheit zu zeigen: Ein sonnengebräuntes Gesicht, glatt rasiert, mit markanten Zügen und einer scharfen Hackennase, aus dem zwei helle Augen merkwürdig scharf in die Dunkelheit leuchteten, und ein kurzes blendendes Auffunkeln an der Hand, die nach der Kerze griff. Es ging, wie Silas genau sah, von einem Brillantring aus, der sich an dieser Hand befand. Schon in der nächsten Sekunde versank alles wie ein Spuk in der Dunkelheit. Die Tür der Karosserie klappte zu und das Auto fuhr in weitem Bogen wendend auf der nach der Stadt führenden Straße davon.

Hempel aber stand wie angewurzelt und starrte ihm in ungeheurer Erregung nach. Was hatte er gesehen?! Kaum wagte er die sich daraus ergebenden Zusammenhänge und Möglichkeiten zu überblicken und doch arbeitete sein Gehirn bereits fieberhaft.

Der Mann, den er gesehen, war der Mörder Holzmanns selbst, daran zweifelte Silas keine Sekunde. Das war das Gesicht, das »man nie vergessen konnte, wenn man es einmal erblickt hatte,« – das Gesicht mit den hellen Augen, deren Blicke funkelten wie scharfe Dolchspitzen. . . . Und er hatte es ja immer gewußt: Der Mörder, das war derselbe Mann mit dem kostbaren Brillantring am Finger, den Rosner im Schuppen überrascht hatte.

Und nun war auch Hempels Vermutung, daß er dort etwas gesucht, aber nicht gefunden hatte, klar als richtig erwiesen.

Nur, daß er diesmal nicht selbst gegangen war, sondern Frau Lydia geschickt hatte, und zwar ins Haus, weil sich das Gesuchte offenbar dort und nicht im Schuppen befand, wie er anfangs vermutet hatte.

Silas hatte ganz vergessen, daß er die Villa in bloßen Strümpfen verlassen und nun schon eine Weile im Schnee stand. Aber die Eiskälte, die ihn plötzlich schüttelte, erinnerte ihn nun jäh daran, und er beeilte sich, ins Haus zurückzukommen.

 


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