Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XX.

Silas Hempel war an diesem Tage von Pontius zu Pilatus gelaufen, um Näheres über die gegenwärtigen Bewohner der Villa Lotos zu erfahren.

Die Sache mit Alwingens stimmte. Sie waren ordnungsgemäß mit dem Reiseziel Paris abgemeldet und hatten G. Ende September verlassen. Silas sprach mit ein paar Leuten, die Alwingens kannten und auch wußten, daß sie ihre hiesige Villa an Ausländer vermietet hatten, ehe sie zu Verwandten nach Frankreich gingen.

Sie hatten die Dienerschaft entlassen, den Hauswart und seine Frau aber, die schon lange in ihren Diensten standen, als Aufsicht in der Villa belassen wollen. Indes ließ sich dies nicht machen, denn der Amerikaner, der bereit war, den ziemlich hohen Mietzins zu bezahlen, erklärte, er miete die Villa nur dann, wenn sie vollständig leerstehe, d. h. niemand mehr darin wohne.

Auf diesem Punkt beharrte er. Erstens miete er die Villa nur, um bei völlig ungestörter Ruhe seinen Studien obliegen zu können, zweitens sei seine Mutter leidend und bedürfe gleichfalls absoluter Ruhe, und endlich fürchte er, falls der Hauswart und seine Frau dort wohnen blieben, Streitigkeiten mit seinem eigenen Personal.

So gaben Alwingens nach und quartierten den Hauswart und seine Frau für die Dauer ihrer Abwesenheit bei Verwandten auf dem Lande ein. Dorthin kam auch der Hund Rex, den sie besaßen.

Hempel stellte fest, daß die Villa auf den Namen Frau Aline Foster gemietet worden war. Sie und ihr Sohn waren beim nächsten Gemeindeamt ordnungsgemäß gemeldet, ebenso die Negerin Sally Lawrence.

In den der Villa Lotos gegenüber am Waldsaum gelegenen Villen erfuhr Silas, daß die neuen Bewohner äußerst zurückgezogen lebten, nirgends Besuch gemacht hatten und, soviel man bemerken konnte, auch keinerlei Verkehr unterhielten. Die alte Frau Foster hatte noch niemand außerhalb des Hauses gesehen. Manchmal an schönen Tagen sah man sie auf der Glasveranda, die sich an der Seitenfront des Hauses befand, sitzen. Der Sohn ging nur abends aus. Entweder nach dem Wald, der unweit des Hauses begann und sich stundenweit in die Berge hineinzog, oder nach der entgegengesetzten Seite, wo längs des Flusses eine Straße lief, die mehrere Ortschaften verband.

Nach der Stadt zu hatte ihn noch nie jemand gehen sehen. Auch schien ihn merkwürdigerweise noch niemand so recht in der Nähe gesehen zu haben, denn die Beschreibungen seiner Person lauteten sehr verschieden. Die einen schilderten ihn als schwarz, glattrasiert und elegant, die andern versicherten, er trage Schnurr- und Backenbart, sei dunkelblond und sehe ziemlich gewöhnlich aus. Einig war man nur darin, daß der »amerikanische Doktor« eher groß als klein sei und immer große, runde, in Schildkrot gefaßte Augengläser trage.

Es gab nur zwei Dienstboten: Sally, die Negerin, und den taubstummen Knecht Jakob, den sich der Doktor direkt aus dem Taubstummeninstitut geholt hatte.

Auch diese beiden verließen das Haus nur selten. Jakob nur ab und zu am Sonntag, um ein paar Stunden in einem der umliegenden Wirtshäuser zu verbringen, Sally nur, wenn sie besondere Dinge, wie Wein, Früchte oder Delikatessen aus der Stadt einzuholen hatte.

Für gewöhnlich wurde alles ins Haus gebracht oder vielmehr meist nur bis an dasselbe. Denn frühmorgens schon sah man die Negerin wartend am Tore stehen, um die Milchfrau, den Bäckerburschen und den Fleischer zu erwarten, die aus der nächsten Ortschaft, Judendorf, kamen. Die Milchfrau brachte in ihrem Wägelein dann auch allwöchentlich ein Paket Waren vom Judendorfer Kaufmann. Selten, daß Sally nicht schon wartete, um den Leuten alles gleich vor dem Hause abzunehmen und zu bezahlen. Denn bezahlt wurde immer gleich alles bar und ohne zu feilschen.

Etwas irgendwie Auffallendes oder Verdächtiges hatte man nie bemerkt, außer eben die ungewöhnliche Zurückgezogenheit der Leute. Denn auch Sally sprach nie ein Wort mehr als nötig war mit den Lieferanten. Die bekannte Schwatzhaftigkeit ihrer Rasse schien ihr völlig zu fehlen.

In der letzten Zeit hatte man wohl ab und zu gegen Abend eine Dame per Auto kommen und ins Haus gehen sehen, aber man achtete nicht weiter auf sie, weil Sally einmal gegen die Milchfrau erwähnt hatte, daß es eine Landsmännin ihrer Herrin sei, die zuweilen auf ein paar Plauderstunden käme.

Und Sally hatte es nur erwähnt, weil die Milchfrau, als sie einmal mit ihrem Wäglein besonders spät aus der Stadt zurückgekehrt war, die Dame gerade beim Aussteigen gesehen und Sally das am nächsten Morgen erzählt hatte.

Silas Hempel erfuhr all dies an Ort und Stelle in unauffälligem Geplauder mit den Leuten der umliegenden Villen, die er unter der harmlosen Maske eines Hausierers aufsuchte.

In seiner wahren Gestalt, aber unter dem Namen Glasrotter ging er dann am frühen Nachmittag in die Villa Lotos selbst.

Er wollte Dr. Foster durchaus selbst sehen. Als Vorwand gab er an, Dr. Foster doch noch persönlich nach der Villa fragen zu wollen, wo dieser nachts öfter so lange Licht gesehen habe.

Aber er kam gar nicht dazu, diese Absicht Sally, die ihm öffnete, auseinanderzusetzen. Denn sie erklärte sogleich, als er bat, Dr. Foster gemeldet zu werden, daß Mr. Charlie leider verreist sei. Gestern abend habe er ein Telegramm aus Wien erhalten, da durchreisende Landsleute, die in New York viel mit ihm verkehrten und große Stücke auf ihn hielten, in einer wichtigen Angelegenheit dringend seinen Rat erbaten. So sei er heute früh mit dem ersten Zug nach Wien gereist.

Aus eigenen Stücken fügte sie dann noch in ihrem verworrenen Deutsch hinzu, daß Mr. Charlie »so viel bös sein gewest über der Telegramm, weil er haben so wichtige Sachen zu studieren hier, aber es sein doch nix anders gegangen, als zu fahren, wenn so alte Freunde ihn durchaus haben gewollen zu Besprechung!«

Silas hörte scheinbar interessiert zu. Als Sally endlich schwieg, frug er plötzlich: »Wo haben Sie eigentlich deutsch sprechen gelernt, Sally?«

Eine Sekunde lang starrte sie ihn verblüfft an, dann aber antwortete sie zungenfertig: »O, ich haben schon deutsch gelernt in meine Heimat, in St. Louis, wo ich sein gedient bei Deutsche. Dann ich waren doch mit Missis in Wien bei Massa Charlie viel lange Zeit, dort ich haben ganz gelernt der deutsche Sprache.«

»Wo haben Sie denn in Wien gewohnt?«

Die Frage kam so rasch, daß Sally keine Zeit zur Überlegung blieb und es ihr unwillkürlich entfuhr: »In Schönbrunnerstraß . . ., aber Nummer ich nix mehr wissen,« setzte sie dann ärgerlich hinzu.

Silas stellte keine Frage mehr, sondern verabschiedete sich nun mit ein paar nichtssagenden Worten.

Er hatte es im Grunde gar nicht anders erwartet, als daß Dr. Foster »verreist« sein werde, wenn man nach ihm fragte. War er der Mörder, und davon wurde der Detektiv immer überzeugter, so konnte er kaum anders handeln. Man besaß – wenn er sich hier vor den Nachbarn auch offenbar mit Hilfe von falschen Bärten und Perücken stets in wechselnder Gestalt zeigte – doch immerhin seine Personsbeschreibung durch Holzmann. Der gestrige Besuch mußte unbedingt seinen Verdacht erweckt haben, denn der Name des Majors mußte ihm doch durch Lydia als der ihres Vaters bekannt sein.

Daraus konnte er sich an den Fingern herzählen, daß dieser Besuch in Wahrheit den Nachforschungen nach Lydia galt. Alles andere ergab sich von selbst. Man segelte unter falscher Flagge, als man das Märchen von Herrn Glasrotters geistesgestörter Verwandten erzählte – man wollte also nicht erkannt sein. Man forschte just in der Villa Lotos nach ihr, also wußte oder ahnte man bereits etwas von ihren Beziehungen zu ihr.

Das mußte Foster stutzig machen und zu doppelter Vorsicht veranlassen. Er vermied also noch mehr als bisher, sich sehen oder sprechen zu lassen. Dazu war eine Reise der beste Vorwand . . ., ob sie nun wirklich angetreten oder nur vorgetäuscht war.

Silas begriff, daß es ein großer Fehler gewesen war, den Major unter seinem wahren Namen auftreten zu lassen, er hätte sich prügeln mögen, daß er dies getan und sogar Marchstättens Karte gleichsam als Warnungssignal zurückgelassen hatte.

Freilich – man ahnte gestern, als man zur Villa Lotos hinausfuhr, ja auch noch nicht von ferne, daß man mitten in die Höhle des Löwen hineinplatzen würde. Man wollte doch nur zu Alwingens, um Auskünfte zu erhalten, Anhaltspunkte zu suchen.

Nun hatte man als einziges Ergebnis die Schönbrunnerstraße!

Natürlich mußte man nun sofort die Wiener Polizeibehörde in Bewegung setzen, um zu erfahren, ob Fosters wirklich längere Zeit dort gewohnt und gemeldet worden waren.

Als Silas die ersten Häuser der Stadt erreichte, sah er einen Jungen, der laut schreiend Extrablätter ausrief. Und bald verstand er auch die Worte:

»Extrablatt! Sonderausgabe! Der Mord an Gerhard Holzmann aufgeklärt! Frau Holzmanns Geständnis! Die Verhaftung des Mörders, Hartwig Henter!«

Silas blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen und griff sich an den Kopf, als traue er seinen Ohren nicht.

War denn das möglich?

Dann kaufte er ein Exemplar der Sonderausgabe . . . und las. . . .

Und griff sich wieder an den Kopf.

Aber schon nach wenigen Minuten wurde er ganz ruhig, lächelte fast.

Hatte er sich wirklich verwundert? War nicht gerade das zu erwarten gewesen und ein neuer Beweis, daß er selbst sich auf der richtigen Fährte befand?

Denn was anderes war denn dies falsche Geständnis Lydia Holzmanns als die Folge von ihres Vaters und Hempels Besuch gestern abend in der geheimnisvollen Villa Lotos?

Ganz gewiß war es so!

Der Mörder hatte daraus begriffen, daß sich ein unbestimmter Verdacht nach der Villa Lotos lenkte, daß Fäden des Argwohns sie und die darin Wohnenden zu umspinnen drohten. Noch konnte es nur ein Verdacht sein – indes erforderte es seine eigene Sicherheit, daß er sofort im Keim erstickt wurde.

Wie konnte dies besser, sicherer geschehen, als indem man diesen Verdacht einfach auf einen andern lenkte – auf den, dessen Namen seit Wochen ohnehin schon leise und laut als der des Mörders genannt wurde?

Der Erfolg konnte nicht ausbleiben, wenn die Witwe des Ermordeten selbst es war, die gegen den Mörder zeugte und ihn als solchen bezeichnete. Und wenn die Behörde erst überzeugt war, den Mörder hinter Schloß und Riegel zu haben, würde es niemand einfallen, weiter um die Villa Lotos herumzuspionieren.

»Niemand? Doch! Mir! Jetzt erst recht!« murmelte Silas mit grimmigem Lächeln vor sich hin. »Und das ist der einzige falsche Schluß gewesen von seiten Fosters!«

Alles andere ließ sich so einfach machen. Der Mörder brauchte gar nicht zu warten, bis er seinen neuen Plan zur Ausführung bringen konnte. Lydia kam – von selbst oder schon früher aus irgendwelchen Gründen hinbestellt – fast unmittelbar nachdem der Plan gefaßt worden war. Vielleicht war ihr überhaupt befohlen worden, im Falle einer erhaltenen Vorladung zu kommen – kurz, sie kam. Durch ihre Veranlagung dem Willen des Mörders widerstandslos unterworfen, konnte es diesem nicht schwer fallen, ihr Wort für Wort einzuprägen, was sie am nächsten Tag vor dem Richter zu sagen habe. Vielleicht kleidete er das Bild der Mordszene, wie er es ihr suggerieren wollte, in das Gewand einer Mitteilung ihres verstorbenen Mannes. . . . Das ihr damals Henter gegenüber widerwillig entschlüpfte Wort: ›Gerdy wird mir sagen, wer sein Mörder ist . . .,‹ ließ auf Vorarbeit in diesem Sinne schließen.

Daß alles nach Wunsch gelang, bewies Lydias Aussage vor dem Richter.

Während sich vor Hempels innerem Auge diese Bilder aneinanderreihten, schritt er blicklos für seine Umgebung durch die Straßen der Polizeidirektion zu und erwachte erst wieder für die Wirklichkeit, als er die Türe zu Kommissar Heidingers Bureau öffnete.

Heidinger empfing ihn mit einem Achselzucken.

»Es ist wirklich nicht meine Schuld, Herr Hempel, daß man Henter verhaftet hat. Aber allerdings, angesichts der nun zu Tage getretenen Tatsachen. . . .«

»Glauben Sie nun, daß wir auf dem Holzweg waren und Dr. Wasmut einen glänzenden Sieg errungen hat!« ergänzte Hempel spöttisch.

»Es sieht wenigstens ganz so aus! Oder sind Sie anderer Meinung? Haben Sie etwas Neues herausgebracht?«

»Hm, nicht viel. Trotzdem sage ich Ihnen, es ist nicht alles Gold, was so aussieht. Die Geständnisse Frau Holzmanns sind nur ein Beweis für . . . den Holzweg. Aber Sie wissen sicher, daß in alten Märchen, wenn man das Ziel erreichen will, der fahrende Königssohn die goldene Straße meiden und den armseligen Holzweg einschlagen muß.«

Und dann berichtete Hempel trocken, welche Überraschung er und der Major gestern in der Villa Lotos erlebt hatten und was er heute über deren Bewohner ermitteln konnte. Ein paar anschließende Worte vermittelten die Zusammenhänge zwischen diesen Feststellungen und den Ereignissen im Untersuchungsgericht. Der Kommissar blickte nachdenklich vor sich hin. Endlich sagte er: »Es ist viel, wenn Ihre Schlüsse richtig sind, aber es ist nichts, wenn diese nicht stimmen. Was werden Sie nun weiter tun?«

»Ich weiß es noch nicht. Vor allem bin ich gekommen, Sie um einen Haftbefehl gegen Dr. Charles Foster zu ersuchen. Ich gedenke davon natürlich vorläufig keinen Gebrauch zu machen, aber man weiß nicht, was geschieht, und so wäre es mir eine Beruhigung, das Ding in der Tasche zu haben.«

»Sie sollen ihn haben!« nickte Heidinger und füllte schweigend ein Formular aus, das er dem Detektiv übergab.

 


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