Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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VIII.

Silas Hempel war, als er nach G. zugeteilt wurde, dort im Gasthof zur Sonne abgestiegen, wo er ein nettes freundliches Zimmer im ersten Stock bewohnte. Es war nicht teuer, bot auch nicht viel Komfort, denn die »Sonne« war III. Ranges und diente meist Landleuten als Absteigequartier, aber es war rein und sehr ruhig, denn seine zwei Fenster gingen nach dem Fluß hinaus, der unten in beschaulicher Ruhe dahinzog.

In diesem Zimmer saß Silas Hempel am Morgen des 30. Oktobers und schrieb sich die Adressen sämtlicher Hotels von G. aus dem Wohnungsanzeiger heraus.

Da all seine bisherigen Nachforschungen nach Holzmanns Mörder völlig ergebnislos geblieben waren – bis auf die Fußspuren und die auffallende Zigarettenmarke – wollte er es nun anders versuchen.

Er sagte sich: Der Mörder kam in der bestimmten Absicht, Holzmann zu töten, in den Schuppen, denn er hat dort eine halbe Stunde auf ihn gewartet. Warum tötet man einen Menschen? Aus Haß, Rachsucht, Habsucht oder Eifersucht, eventuell auch, wenn er einem irgendwie im Wege steht.

Habsucht und Eifersucht konnten im Fall Holzmann ausgeschaltet werden; denn obwohl sich Geld in der Lade von Holzmanns Arbeitstisch befand, war nichts geraubt worden. Sein Herz aber gehörte seit drei Jahren ausschließlich seiner Frau und vorher besaß er auch keine Liebschaft.

Auch im Wege gestanden konnte er wohl niemand sein in seiner selbstständigen Stellung als Fabrikbesitzer. Blieben also nur Haß oder Rachsucht.

Nun hatten aber alle übereinstimmend erklärt, Holzmann habe durchaus keinen Feind besessen, und er selbst war gleichfalls dieser Überzeugung gewesen.

Nun hatte Hempel aber von Rosner erfahren, daß der junge Ingenieur nach Beendigung seiner Studien, ehe er als Teilhaber in die Fabrik seines Vaters eintrat, ein Jahr im Ausland geweilt hatte. Er war damals ein halbes Jahr in England gewesen, um weitere Studien im Maschinenbau zu betreiben, und dann in Paris, um Hoch- und Tiefbauunternehmungen zu studieren.

Wenn er also doch einen Feind besessen hatte – vielleicht einen, an den er selbst längst nicht mehr dachte, – so mußte er aus dieser Zeit stammen. Dann war der Mörder aus dem Ausland gekommen und mußte in einem hiesigen Hotel abgestiegen sein.

Darum wollte Hempel in allen einschlägigen Unternehmungen sich nach einem Ausländer erkundigen, der etwa zwischen dem 3. und 5. Oktober dort abgestiegen war.

Er sagte sich selbst, die ganze Annahme sei phantastisch und unwahrscheinlich, werde eine Riesenarbeit im Gefolge haben und wahrscheinlich gar kein Ergebnis zu Tage fördern.

Aber bei dem Mangel jedes andern Anhaltspunktes stellte sie jedenfalls wenigstens eine Möglichkeit dar und mußte daher auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden.

So war er eben ganz vertieft in die Anlegung seiner Liste, als es an die Tür klopfte und sein alter Freund, der Hauswart Rosner, eintrat.

Schon bei der Begrüßung merkte Hempel, daß der Alte stark erregt war.

»Nun, was gibt es denn, Herr Rosner, daß Sie mich eigens aufsuchen und noch dazu so früh am Morgen?«

»Etwas sehr Seltsames, Herr Hempel, ich dachte ich müsse es Ihnen gleich sagen kommen: Heute nacht wurde im Schuppen eingebrochen! Gottlob konnte ich den Kerl noch rechtzeitig verscheuchen.«

»Eingebrochen? Im Schuppen? Ah, das ist ja wirklich sehr interessant! Setzen Sie sich, lieber Rosner, und erzählen Sie mir alles möglichst ausführlich!«

»Es war kurz nach Mitternacht. Ich lag schon eine Weile wach, wie jetzt oft, weil mir das viele Denken und Grübeln keine rechte Ruhe läßt, da sah ich auf der Wand meinem Bett gegenüber ein Licht aufblitzen. Gerade wie damals . . . Sie wissen ja, daß der Schuppen meiner Wohnung schnurgerade gegenüber liegt . . .«

»Ja. Weiter!«

»Also ich sah den Lichtwiderschein wie damals. Aber er blieb nicht stehen, wie am 4. Oktober, sondern verschwand rasch, um dann nach ein paar Minuten wieder zu erscheinen. Es mußte jemand im Schuppen sein, vielleicht mit einer Blendlaterne oder einer elektrischen Taschenlampe. Es war mir sofort klar, daß es nur ein Einbrecher sein konnte. Ich stand also auf und kleidete mich rasch an. Es war gut, daß ich mir seit dem Unglück angewöhnt hatte, nachts stets den geladenen Revolver auf dem Nachttisch bereitzulegen. Mein Gott, ich bin jetzt so ganz allein und man konnte also nicht wissen. . . . Inzwischen war das Licht drüben noch zweimal aufgeflammt. Ich nahm den Revolver, verließ das Haus ganz leise in Filzpatschen und schlich mich über den Kiesplatz an den Schuppen heran, den Türschlüssel in der Hand bereit; denn diesmal war die Türe zu. Gerade als ich ihn leise ins Schloß schieben wollte, blitzte das Licht im Innern wieder auf, und ich sah durchs Fenster, wie ein Mann vor des seligen Herrn Arbeitstisch, dessen Laden weit offen standen, nach vorn geneigt stand und in den Papieren kramte. Jetzt gab's kein Zaudern mehr. Rasch den Schlüssel ins Schloß gesteckt, aufgesperrt, den Revolver in der Rechten, und die Tür aufgerissen! Der Lichtschalter befindet sich gleich rechts von der Tür, wie Sie wissen, – ein Griff, und die Lichter flammten auf – taghell lag der ganze Raum vor mir. Aber all das ging doch nicht so rasch, als ich gedacht hatte, und als ich nun den Raum überblickte, sah ich gerade nur noch, wie der Mensch zum linken Seitenfenster – Sie wissen, das, welches in den kleinen Müllhof geht – hinaus verschwand. Ich nach, so rasch ich eben konnte – aber es war keine Spur mehr von ihm zu erblicken. Was sagen Sie nun dazu?«

Hempel fieberte vor Erregung.

»Zum linken Seitenfenster – wie damals! Aber diesmal haben Sie ihn doch gesehen, Rosner! Diesmal werden Sie ihn mir doch beschreiben können!?«

Der Hauswart kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Beschreiben? Das wird wohl schwer halten, ich hab' ihn doch kaum gesehen, so war er auch schon draußen verschwunden!«

»Aber vorher, als er am Arbeitstisch stand, durchs Fenster?«

»Stand er, mir den Rücken zugekehrt. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, nur die Hände. Die waren sehr weiß mit langen schmalen Fingern. An der rechten blitzte ein großer Brillant.«

»Und die Gestalt?«

»Groß, schlank und bestimmt die eines noch jungen Mannes. Das drängte sich mir auch auf durch die raschen geschmeidigen Bewegungen, als er durchs Fenster verschwand.«

»Wie war er gekleidet?«

»Ganz schwarz und sehr elegant. Er trug einen Frackmantel und auf dem Kopf einen spiegelblanken Zylinder. Er machte mir den Eindruck eines vornehmen Herrn. Darum kann ich gar nicht begreifen, wie er dazu kam, in den Schuppen einzubrechen? Sollte es ein internationaler Gauner sein? Die sind, wie ich gehört habe, oft äußerlich wie große Herren . . . Aber schließlich, warum gerade in den Schuppen? Dort werden doch keine Wertsachen aufbewahrt!«

Dasselbe fragte sich Silas Hempel.

Dann frug er: »Was befindet sich eigentlich in den Laden des Arbeitstisches?«

»Nur Pläne, Zeichnungen, Grundrisse und Geschäftsbriefe, vielleicht auch Privatkorrespondenz, die Herr Holzmann gelegentlich dort erledigte, ich weiß es nicht so genau. Bald nach dem Unglück war einmal der Untersuchungsrichter da und hielt Umschau in den Laden, da war ich dabei, weil ich den Schuppen aufsperren mußte. Alle Briefe hat er dann mitgenommen und den Schlüssel zu den Laden steckte er wieder zu sich, wie er ihn gebracht hatte. Bezüglich der andern Papiere meinte er, diese gingen ihn nichts an, sie gehörten in den Nachlaß und würden später von der Witwe wohl noch verwertet werden. Damit meinte er wahrscheinlich die Papiere, die sich auf Herrn Holzmanns Erfindungen beziehen.«

»Die befanden sich auch darin?«

»Ja. Es war ein besonderes Bündel, das der Untersuchungsrichter durchsah und dann wieder rückwärts in das Mittelfach legte, wo sie zuvor gewesen.«

»Sie haben das selbst gesehen?«

»Ja. Der Untersuchungsrichter erwähnte noch, daß es Erfindungen und Projekte seien, die vielleicht großen Wert hätten.«

»Vielleicht suchte der Einbrecher gerade danach? Haben Sie nachgesehen, ob das Bündel noch da ist?«

»Nein. Ich wollte Ihnen die Spuren nicht verderben, weil der Einbrecher doch gerade dort vor dem Tisch gestanden hatte.«

»Das war sehr klug von Ihnen. Wir wollen nun aber gleich gehen und uns die Sache näher ansehen. Sie haben den Schuppen doch wieder zugeschlossen und noch keine weitere Anzeige gemacht?«

»Selbstverständlich hab' ich den Schuppen verschlossen, und Anzeige machte ich nicht; denn ich dachte, es sei ja ebenso gut, wenn ich es Ihnen gleich mitteilte, Herr Hempel. Sie arbeiten ja an dem Fall, wie ich weiß, und werden dann schon das Nötige veranlassen.«

Der Detektiv nickte.

»Natürlich werde ich die Meldung erstatten, aber das hat Zeit. Zuerst muß ich selber sehen . . . .«

Nie war Silas ein Weg so lange erschienen, wie der jetzige vom Flußkai bis zur Fabrik Holzmann, obwohl er kaum 15 Minuten betrug. Der Alte neben ihm konnte kaum folgen.

Hempels Herz klopfte laut, als er den Schuppen aufschloß und Rosner bedeutete, er möge ihm nun nicht weiter folgen, aber in der Nähe bleiben, damit er ihm, wenn nötig, Fragen stellen könne.

Zwei Dinge vor allem beschäftigten den Detektiv: Ob er fremde Fußspuren finden würde oder die ihm bereits bekannten des Mörders, und ob die Papiere, die Holzmanns Erfindungen betrafen, da waren oder nicht.

Ersteres entschied über seine gleich anfangs gemutmaßte Theorie, daß der Mörder ein Mitglied der besitzenden Klasse sei, die zweite Frage würde eventuell das Motiv der Tat beleuchten.

Es wäre ja ganz gut denkbar, daß ein Mensch aus der Welt geschafft wurde, dessen Erfindungen sich ein anderer zu Nutzen machen wollte. Daran hatte der Detektiv allerdings bisher nicht gedacht, aber jetzt schien es ihm immerhin möglich.

Inzwischen hatte er den Schuppen bereits vorsichtig betreten und ließ seine Blicke erst einmal durch den Raum schweifen.

Durch die vorderen Fenster schien die Morgensonne, wodurch jede Kleinigkeit scharf beleuchtet wurde. Besonders der Fußboden, auf dem eine dicke Staubschicht lag, da der Raum seit dem Unglück nicht mehr gereinigt worden war.

Silas segnete diesen Umstand, denn er zeigte ihm schon von weitem die neuen Fußspuren mit größter Deutlichkeit. Sie führten vom Seitenfenster zum Arbeitstisch in der rechten Ecke, dessen drei Laden weit offen standen, und von dort wieder zurück an das Fenster. Aus den Abständen las der Detektiv, daß der Einbrecher erst langsam gekommen war, in ruhigen gleichmäßigen Schritten, sich aber dann auf dem Rückweg zum Fenster in Sprüngen, also offenbar in größter Eile, entfernt hatte.

Auch Rosners Filzpantoffelspur von der Tür zum Fenster und wieder zurück war deutlich zu sehen. Sie kreuzte sich in der Nähe des Fensters mehrmals mit der des Einbrechers und verwischte diese zuletzt vielfach.

Und die fremde Spur selbst? Silas frohlockte: Schon ihr Anblick verriet ihm, daß sie der des Mörders glich. Sorgfältig mit den Maßen und dem Papierausschnitt, den er besaß, nachgeprüft, ergab sich ihre haargenaue Übereinstimmung. Nicht der leiseste Zweifel konnte darüber bestehen, daß der Mann, der auf Holzmann geschossen, und der Einbrecher dieser Nacht ein und dieselbe Person waren.

Nachdem Hempel auch von der neuen Spur einen genauen Papierausschnitt angefertigt und einzelne besonders deutliche Fußabdrücke durch darüber gestellte Stühle gesichert hatte, trat er an den Arbeitstisch heran.

Dort war das erste, worauf sein Blick fiel, ein zusammengebundenes Bündel Papiere, das zwischen zahlreichen offenen Blättern in der Lade lag.

Er nahm es und trat damit in die Schuppentür, neben der Rosner auf einer Holzbank saß.

»Sind das die Papiere, Herr Rosner, die sich auf des Toten Erfindungen beziehen?«

Und er war fast enttäuscht, als der alte Hauswart eifrig nickend versicherte: »Ja, das sind sie. Herr Hempel! Sie waren früher nur auf einen Pack zusammengelegt, aber der Untersuchungsrichter band sie zu einem Bündel zusammen, wahrscheinlich damit nichts verloren gehe.«

Die Papiere waren da, also konnten nicht sie es sein, denen der Einbruch heute nacht galt! Da aber sonst erst recht nichts von Wert vorhanden gewesen war, so blieb der nächtliche Einbruch doppelt unbegreiflich.

Oder befand sich das, was der Mörder hier nachträglich gesucht, vielleicht unter den Privatpapieren, die der Untersuchungsrichter mit fortgenommen hatte?

Silas nahm sich vor, gleich nächster Tage Einsicht in diese Papiere zu nehmen.

Plötzlich kam ihm noch ein Gedanke. Wenn der Mörder nicht gefunden hatte, was er suchte, – möglicherweise nur nicht gefunden, weil Rosner ihn vorzeitig verscheuchte, – konnte er da nicht wiederkommen?

»Herr Rosner,« sagte er, »würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mich für die nächste Zeit bei Ihnen drüben einquartierte? Sie haben ja zwei Stuben, wie ich gesehen habe, und ich bin gern mit einem Lager auf dem Sofa zufrieden.«

»Das hätten Sie durchaus nicht nötig, denn ich trete Ihnen mein Bett mit Freuden ab. Mir wär' ja ein Stein vom Herzen, wenn ich nicht mehr so mutterseelenallein im Hause sein müßte. Ich bin ja gerade kein Feigling, aber seit heute nacht ist mir das Alleinsein wahrhaftig unheimlich geworden. So wäre ich zu Tode froh . . . aber die gnädige Frau müßte ich doch erst fragen . . .«

»Tun Sie es noch heute! Sie wird nichts dagegen haben, wenn ihr Haus doppelt bewacht wird, und abends komme ich dann. Außer gegen Frau Holzmann muß aber gegen jedermann reiner Mund gehalten werden!«

Der Alte beugte sich dicht an den Detektiv heran. »Meinen Sie denn, daß er noch einmal kommt?« flüsterte er ängstlich.

Silas zuckte die Achseln.

»Wie soll ich das wissen? Wir müssen's abwarten.«

 


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