Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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IX.

Silas Hempel stand vor dem Kommissar Heidinger. Er hatte eben seinen Bericht beendet und die Maße der neuen Fußspur vorgewiesen zum Beweis, wie vollkommen sie mit den früheren übereinstimmten.

Er schloß: »Sie haben seinerzeit gelacht, Herr Kommissar, als ich die gefundenen Zigarettenreste als Beweis dafür anführte, daß der Mörder ein reicher, vornehmer Mann sein müsse, weil ein anderer solche Zigarettensorte gar nicht in die Hand bekommen könnte. Aber ich hoffe, Sie lachen nun nicht mehr. Ein Mann in Zylinder und Frackmantel, der einen wertvollen Brillant am Finger trägt, kann doch wohl kaum ein Straßenkehrer sein!«

»Gewiß nicht. Ich lache auch längst nicht mehr über Ihre Kombination in bezug auf die Zigaretten. Aber sagen Sie mir um's Himmels willen, warum kam der Mörder abermals in den Schuppen? Was wollte er dort? Warum hat er Holzmann überhaupt erschossen?«

»Wir werden es schon noch erfahren, Herr Kommissar, lassen Sie mir nur ein wenig Zeit es auszuforschen. Zwei Dinge stehen für mich fest: Erstens, der Mörder beging die Tat aus einem Grund, der Holzmann so unbekannt war wie der Mörder selbst; denn jener hatte nachher Zeit genug beides zu überdenken und fand doch nicht die leiseste Erklärung für die Tat. Zweitens war für den Mörder durch Holzmanns Tod der eigentliche Zweck noch nicht erreicht. Das bezeugt sein Einbruch heute nacht, der zugleich auch beweist, daß er selbst noch hier in der Stadt ist. So muß er also irgendwo wohnen und dies ›Wo‹ zu erforschen, muß unsere nächste Aufgabe sein.«

»Wenn er nicht jetzt nach dem Einbruch eilig das Weite gesucht hat!«

»Das glaube ich nicht. Gerade der Einbruch beweist, daß er sich sehr sicher fühlt und hier noch ein bestimmtes Ziel verfolgt. Man läßt das Ziel, um deswillen man einen Mord begangen hat, nicht fahren, weil die Kriminalpolizei hinter einem her ist! Denn damit mußte man ja von Anfang an rechnen.«

»Auch wahr! Aber was soll ich nun in bezug auf den Untersuchungsrichter tun? Eigentlich müßte man ihn ja von den jüngsten Ereignissen und den sich daraus ergebenden Vermutungen in Kenntnis setzen. Aber er ist so verbissen in seine Überzeugung von Hartwig Henters Schuld, daß ich fürchte, er nennt uns dann nur Phantasten und macht uns womöglich noch Schwierigkeiten. Außerdem erklärte er mir, als ich ihm neulich einen meiner Leute zur Beobachtung Henters in Vorschlag brachte, er verlasse sich lieber auf seine eigenen Leute und werde fortan den Fall allein führen. Wir von der Kriminalpolizei seien zu zaghaft!«

In Silas Hempels Augen funkelte es vergnüglich.

»Aber dann sind Sie ja außer Obligo, Herr Kommissar! Lassen Sie ihn den Fall Holzmann allein weiter führen, und wir führen ihn eben . . . auch allein weiter! Es müßte Ihnen doch zuletzt eine angenehme Genugtuung bereiten, wenn die ›zaghafte‹ Kriminalpolizei den Vogel abschießt, statt die Herren vom Untersuchungsgericht!«

»Das ist wahr. Ich werde mit dem Vorstand sprechen und ich hoffe, er wird unserer Meinung sein – besonders, da es sich in diesem Fall um Dr. Wasmut handelt, den er nicht leiden kann und einen ›blinden Draufgänger‹ nennt.«

»Darf ich noch fragen, was Dr. Wasmuts Vertrauensmann bisher bei Henter ausgekundschaftet hat? Wer übernahm übrigens die Beobachtung?«

»Kobler und Langmann – Sie kennen sie ja. Beide wechseln sich ab. Kobler soll übrigens, nach Wasmut, schon am ersten Tag Glück gehabt haben. Wasmut behauptet, er habe ein äußerst geheimnisvolles Stelldichein Hartwig Henters und Lydia Holzmanns im Ybbenburgerpark beobachtet. Beide erschienen einzeln im Park, küßten sich unzählige Male, waren furchtbar aufgeregt und verliebt, und zuletzt fuhr Frau Lydia tief verschleiert in einem Auto fort. Dr. Wasmut erklärt das als einen unanfechtbaren Beweis für seine Vermutung und meint, neben der Sehnsucht des Liebespaares, einander nach langer Trennung wiederzusehen, sei wohl auch die Notwendigkeit, sich über das beiderseitige Verhalten der Behörde gegenüber zu einigen, Zweck der Zusammenkunft gewesen.«

»Sehr interessant! Aber wie konnte Kobler Frau Holzmann denn erkennen, wenn sie so dicht verschleiert war?«

»Warf ich auch ein! Aber Freund Wasmut erklärte, dies sei gar nicht nötig gewesen, denn es könne gar niemand anders gewesen sein als Lydia Holzmann, nachdem er einwandfrei feststellen konnte, daß Henter durchaus keinen Verkehr mit andern Damen pflog. Seine freie Zeit verbrachte er ausschließlich bei und mit Holzmanns.«

»Na, möglich ist das ja, obwohl sich daraus allein noch lange nicht auf Liebesbeziehungen schließen läßt. Wie immer aber auch die Dinge liegen mögen, Holzmanns Mörder ist Hartwig Henter doch keinesfalls, und das werden wir eines Tages beweisen können, hoffe ich!«

Eine Stunde später verschaffte sich Silas Hempel mit Hilfe eines Gerichtsdieners, den er kannte, Einblick in die von Dr. Wasmut aus dem Schuppen mitgebrachten Briefe.

Er war sehr enttäuscht. Sämtliche Briefe waren aus dem letzten Halbjahr und ganz kurz. Einladungen von Bekannten, flüchtige Mitteilungen über belanglose Dinge, hie und da ein paar Zeilen von Hartwig Henter, die gemeinsame Verabredungen betrafen, usw. Kein Wort von irgendeiner Bedeutung darunter. Silas begriff nicht, wozu der Untersuchungsrichter das wertlose Zeug überhaupt mitgeschleppt hatte . . .

Am Abend fand er sich in der Villa Holzmann bei Rosner ein, der ihn freudig begrüßte. Er war bei Frau Lydia gewesen, und sie hatte sofort eingewilligt, daß der Detektiv bei ihm wohne, denn nach all den schrecklichen Dingen, die vorgefallen, und nach dem, was Rosner neuerlich zu berichten gehabt, könne sie ja nur froh sein, wenn jemand von der Polizei ihr Haus in seinen Schutz nehme.

Im übrigen erzählte der Hauswart bekümmert, daß Frau Lydia schlecht aussehe und beunruhigend nervös sei. Alle Augenblicke, während sie mit ihm gesprochen habe, sei sie nervös zusammengefahren und habe entsetzt um sich geblickt, gerade als erwarte sie etwas Schreckliches vor sich auftauchen zu sehen.

»Ich glaube,« schloß Rosner kopfschüttelnd, »der armen Frau kommt jetzt erst zum Bewußtsein, was geschehen ist, und sie kann all die Schreckbilder gar nicht loswerden. Wenn ich denke, wie fröhlich, lebenslustig und sorglos sie früher war . . . so recht ein Sonnenschein im Haus, und nun – nicht zu glauben, sage ich Ihnen, Herr Hempel, wie ein Mensch sich so schrecklich verändern kann!«

Silas blickte nachdenklich vor sich hin. Die Mitteilungen des Hauswarts kamen ihm seltsam und unbegreiflich vor. Frau Lydia hatte ihm persönlich gar nicht den Eindruck gemacht, als sei sie besonders tief veranlagt, so tief, daß die Ereignisse, die sie zur Witwe machten, einen so völligen Wesensumschlag verständlich gemacht hätten.

Ein heiterer Schmetterling, der lachend durchs Leben gaukelt . . . genau so war sie ihm erschienen.

Sonderbar, daß sie jetzt . . .

Aber wovor fürchtete sie sich denn?

Ja, wenn sie schuldig gewesen wäre und das Gewissen sie drückte . . . aber sie war doch nicht schuldig. . . .

»Vielleicht hat sie etwas von dem Gerede erfahren, das in der Stadt über sie und Henter umgeht?« sagte er zu Rosner. Aber dieser schüttelte den Kopf.

»Das dachte ich anfangs ja auch, aber ich sprach nachher auch mit ihrer Mutter, die mir ihr Leid klagte. Da erzählte die Frau Major, daß sie und ihr Mann ganz außer sich seien über diese gemeinen, aus der Luft gegriffenen Klatschereien. Man wage sich ja gar nicht mehr aus dem Haus und unter Menschen! Als wären sie Verbrecher, so begegneten ihnen jetzt die Leute – bloß Lydia nehme das nicht ernst. Frau v. Marchstätten sagte ganz verstört, sie hätten es der Tochter ja am liebsten ganz verschwiegen, aber das ließ sich nicht durchführen, so hätten sie endlich doch vorsichtig mit ihr darüber gesprochen und seien ganz erstaunt gewesen, wie leicht Frau Lydia das nahm. Ein Achselzucken, ein Lächeln habe sie bloß dafür gehabt und dann gesagt: ›Ach, das ist ja so dumm von den Leuten, Mama, und wirklich ganz nebensächlich. Wenn ich nichts anderes zu tragen hätte . . . wie froh wäre ich!‹

›Dabei sah sie ganz verstört vor sich hin, und wir wagten nichts weiter zu sagen oder zu fragen, denn Lydia ist ja jetzt im Gegensatz zu früher so unheimlich verschlossen gegen uns, daß ich als Mutter sie gar nicht mehr verstehe! Ja, lieber Rosner, es ist ein Jammer jetzt bei uns . . .!‹ schloß die Majorin, und dabei standen der armen Frau die Tränen in den Augen. Wo sie doch früher so stolz war, daß sie mit unsereinem kaum je ein Wort gesprochen hat, das nicht unbedingt nötig war. Ja, ja ich kann mir da wirklich keinen Vers drauf machen . . . was nämlich die junge Frau betrifft!«

Silas Hempel konnte es auch nicht. Er grübelte noch eine Weile über das Gehörte nach, fand aber nichts, was ihm Lydias verändertes Wesen verständlich gemacht hätte.

Gegen zehn Uhr gingen dann beide Männer zu Bett. Rosner schlief im ersten Zimmer auf dem Diwan, und Hempel mußte dessen bisheriges Schlafzimmer beziehen, anders tat es der Alte nicht.

Die Nacht verlief ohne Störung.

Am andern Tag richtete Silas Hempel mit Rosners Hilfe einen Lichtsignalapparat vom Schuppen in sein Schlafzimmer ein, der ganz einfach war und tadellos arbeitete.

Betrat jemand den Schuppen durch das linke Seitenfenster, so mußte er unfehlbar auf einen der flachen, in den Dielen angebrachten Knöpfe treten, die darunter mit Leitungsdrähten in Verbindung standen. Dadurch flammte in Hempels derzeitigem Schlafraum die dort an einer Zinkblechscheibe angebrachte elektrische Birne auf. Durch den Blechreflektor vielfach verstärkt, wirkte das Licht so grell, daß ein Schlafender unbedingt erwachen mußte. Zur Sicherheit aber setzte der Apparat im Augenblick, wo er das Licht aufflammen ließ, auch einen kleinen Metallklöppel an der Blechscheibe in Bewegung.

Der Klöppel gab nur einen einzigen Schlag, ähnlich den Streckensignalen der Eisenbahn, und nicht lauter, als daß er im Zimmer gehört werden konnte.

Man machte mehrere Proben, die tadellos ausfielen, und Rosner sagte vergnügt: »So, nun können wir beruhigt schlafen; wenn der Herr wieder einbrechen will, meldet er sich deutlich genug an!«

 


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