Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XV.

Der Major ergriff abermals das Wort angesichts der Unsicherheit, die er in den Zügen des Detektivs las.

»Nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Hempel, und begreifen Sie, daß meine Erklärung allein schon die Unmöglichkeit Ihrer Annahme erweist. Ich habe stets, auch während der Zeit ihrer Ehe, alle Menschen gekannt, mit denen Lydia verkehrte. Der Mörder, den Sie beschreiben, ist bestimmt nicht darunter. Nach Holzmanns Tod aber und den sich daran knüpfenden häßlichen Gerüchten haben wir sozusagen allen Verkehr mit der Außenwelt abgebrochen. Es kommt niemand mehr zu uns und wir suchen niemand auf. Den Besuch öffentlicher Vergnügungslokale, welcher Art immer, verbietet schon die Trauer. Wo also sollte meine Tochter Gelegenheit gehabt haben, neue Bekanntschaften – ich meine die ›Ihres‹ Mörders – überhaupt zu machen? Noch dazu ohne unser Wissen? Auf der Straße, wenn sie ausgeht, um Besorgungen zu machen oder eine Kirche zu besuchen? Ich halte das für ganz ausgeschlossen, denn meine Tochter ist viel zu gut erzogen, um Straßenbekanntschaften zu machen!«

Silas zuckte die Achseln. Er wußte nichts mehr zu sagen. Aber dann, schon im Begriff sich zu verabschieden, fiel ihm ein, was der Major vorhin erzählt hatte, und er sagte:

»Darf ich Sie um den Namen der Villa bitten, in der Ihre Tochter neulich nachts angeblich gewesen sein soll?«

»Gewiß! Es ist die Villa ›Lotos‹ bei Judendorf.«

»Und die Familie, der sie gehört, und die Ihre Tochter besucht haben soll?«

»Ist die Familie Alwingen, die wir kennen, mit der wir jedoch allen Verkehr längst einschlafen ließen. Warum fragen Sie? Wollen Sie dort anfragen?«

»Ja. Der Faden, den ich in der Hand zu haben glaubte, ist mir entglitten, vielleicht finde ich dort einen anderen. Jedenfalls muß ich alle Möglichkeiten im Auge behalten.«

Der Major dachte einen Augenblick nach, dann sagte er plötzlich: »Würden Sie es als Aufdringlichkeit auffassen, wenn ich Sie bäte, mich nach der Villa ›Lotos‹ mitzunehmen?«

»Keineswegs! Ihre Begleitung wird mir nur angenehm sein und ist in bezug auf Ihre Tochter entschieden von Vorteil.«

»Wieso?«

»Nun, wenn Sie die nötigen Fragen stellen und ich nur als Begleitperson erscheine, so bekommt der Besuch bei Ihren Bekannten einen ganz anderen Charakter. Er erscheint dann nicht als polizeiliche Anfrage, sondern lediglich als Schritt eines besorgten Vaters.«

»Daran dachte ich nicht, aber es ist gut so.«

»Ich wundere mich übrigens, Herr Major, daß Sie mitkommen wollen, da Sie doch gar nicht glauben, daß Ihre Tochter damals in der Nacht bei der Familie Alwingen war?«

Der Major schwieg.

Silas aber fuhr fort: »Es ist vielleicht besser, wenn ich ganz offen bin, Herr Major. Ihre Mitteilung vorhin über das nächtliche Zusammentreffen Ihrer Tochter mit einem Bekannten scheint mir von hoher Wichtigkeit, und ich meinerseits bin schon jetzt überzeugt, daß damals so wenig eine Verwechslung vorlag wie . . . heute nacht. Meine Nachforschungen in der Villa ›Lotos‹ müssen also um so eingehender sein, als Sie die Person des Mörders nicht zu kennen erklärt haben, ich also anderswo nach ihm zu suchen habe. Sie haben gesagt, daß Sie keinerlei Verkehr pflegten in der letzten Zeit. . . .«

»Das ist nur die reine Wahrheit, die jedermann in meinem Hause Ihnen bestätigen wird.«

»Ich zweifle nicht an Ihren Worten, Herr Major. Wenn nun aber Ihre Tochter ohne Ihr Wissen in der Villa Lotos verkehrt hätte, dann wäre doch die Möglichkeit vorhanden, daß sie dort den Mörder, der so verhängnisvollen Einfluß auf sie gewann, kennen lernte, und dort weiterhin mit ihm zusammentrifft!«

»Wenn! Dieses Wenn aber scheint mir vorläufig ganz ausgeschlossen! Eben darum will ich mit Ihnen hinaus, um mir Klarheit zu verschaffen!«

»Sie zweifeln also doch schon!«

Der Major machte eine ungeduldige Bewegung. »Nein,« sagte er erregt, »ich zweifle nicht an der unbedingten Wahrheitsliebe meiner Tochter, darum glaube ich immer noch an eine Personenverwechslung. Aber ich bin ein alter Soldat, für den es immer nur den geraden Weg gegeben hat. Und ich leugne nicht, daß die Hartnäckigkeit, mit der Sie an Ihren Schlußfolgerungen festhalten – trotz allem, was ich Ihnen gesagt habe –, nicht ohne Eindruck auf mich bleibt. Es ist nun eine Unruhe in mir, die ich nur dann wieder loswerden kann, wenn Alwingens mir klipp und klar erklären, daß meine Tochter die Villa ›Lotos‹ in der letzten Zeit tatsächlich nicht betreten hat. Sie sehen, auch ich bin ganz offen Ihnen gegenüber!«

»Gut, dann wollen wir also morgen abend zusammen hinausfahren. Ich hole Sie hier ab, Herr Major.«

»Warum erst am Abend?«

»Etwas in mir sagt mir, daß es die beste Zeit ist für unser Vorhaben. Auch treffen wir die Herrschaften da wohl am sichersten zu Hause. Aus wieviel Mitgliedern besteht die Familie?«

»Nur aus drei, den Eltern und einer Tochter. Otto Alwingen ist Oberstleutnant im Ruhestand. Die Leute sind in sehr guten Verhältnissen, und die Tochter Justa war früher sehr befreundet mit Lydia. Indes sind alle Alwingens überspannt und verkehren zuweilen mit nicht ganz einwandfreien Leuten. Darum ließen wir den Verkehr auch einschlafen.«

»Gut. Ich hole Sie also gegen Abend etwa um 6 Uhr ab, wenn es Ihnen so paßt.«

»Vollkommen. Ich werde bereit sein.«

Noch am Abend desselben Tages nahm der Major seine Tochter vor und befragte sie unter vier Augen, ob sie in der letzten Nacht vielleicht ausgegangen und in ihrer Villa gewesen sei? Er redete ihr sehr eindringlich zu, sich genau zu besinnen und nur die volle Wahrheit zu sagen.

Aber Lydia schüttelte verwundert den Kopf und meinte, sie könne gar nicht begreifen, wie Papa auf diesen Einfall komme. Natürlich sei sie nicht ausgegangen, sondern in ihrem Bett gelegen und habe geschlafen. »Wenn ich in die Villa gehen wollte,« schloß sie, »so würde ich es doch am Tage tun und nicht in der Nacht! Du weißt doch sehr gut, Papa, was für ein Hasenfuß ich bin! Schon bei Tag ist mir die Villa unheimlich seit dem Unglück!«

Der Major atmete auf. Es schien ihm unmöglich, daß seine Tochter so unbefangen lügen könnte.

Dann aber fiel ihm noch etwas ein. Er fragte Lydia, ob sie in ihrem Bekanntenkreis einen Herrn kenne, der so und so aussähe, und beschrieb ihr den Mörder, wie Hempel ihn ihm geschildert hatte.

Die Frage machte einen unerwarteten Eindruck auf die junge Witwe. Lydia begann zu zittern, ihre Augen öffneten sich weit, und ein aus Angst und Schreck gemischter Ausdruck breitete sich über ihr bleich gewordenes Gesicht.

Dabei erhoben sich ihre Hände in unwillkürlicher Abwehr.

»Nicht . . . nicht . . .« stammelte sie leise. Als aber der Major erschrocken fragte: »Du kennst also einen solchen Mann, Lydia?« zuckte sie zusammen und antwortete ohne Zögern: »Nein . . . nein . . . nein!«

Er frug noch einmal, eindringlich, drängend; aber Lydia, die jetzt ganz ruhig schien, blieb bei ihrem Nein.

Der Major wußte wirklich nicht, was er denken sollte; wieder fühlte er eine Unruhe in sich aufsteigen, die er vergebens zu bannen suchte.

Eine halbe Stunde später überbrachte ein Bote ein kleines Paket für den Major. Als er es öffnete, fand er ein Buch darin: »Der Hypnotismus und die verwandten Zustände vom Standpunkt der gerichtlichen Medizin von Dr. Gilles de la Tourette, mit einem Vorwort von Prof. Charcot.« Ein paar Zeilen von Silas Hempel lagen bei.

An diesem Abend las der Major gegen seine sonstige Gewohnheit bis tief in die Nacht hinein. Und als er lange nach Mitternacht endlich das Licht abdrehte, war ihm, als habe sich eine Welt vor ihm erschlossen, von der er bisher keine Ahnung gehabt. . . .

Als Silas Hempel am nächsten Tag den Major zur Fahrt nach der Villa Lotos abholen kam, fand er den alten Herrn in großer Erregung. Marchstätten legte dem Detektiv einen zerknüllten und sorgfältig wieder geplätteten Zettel vor.

»Da – das fand ich heute bei einer gründlichen Durchsuchung von Lydias Sachen in einer Schrankecke! Das Papier war zerknüllt und offenbar achtlos weggeworfen. Dennoch . . . es ist so seltsam . . . lesen Sie selbst. . . .«

Silas las die wenigen mit der Schreibmaschine geschriebenen Zeilen ohne Aufschrift.

»Wenn Sie wissen wollen, wer Ihren Gatten ermordete, so begeben Sie sich nach der Alwingenschen Villa ›Lotos‹. Man erwartet Sie dort um 9 Uhr abends. Strengste Geheimhaltung dieser Zeilen und Ihres Besuches in der Villa ist unerläßliche Vorbedingung.

Ein unbekannter Freund.«

»Nun – was sagen Sie dazu?« fragte der Major unruhig und verstört.

»Daß wir alle Ursache haben, baldmöglichst die Bekanntschaft dieses unbekannten ›Freundes‹ zu machen! Sie zweifeln jetzt doch nicht mehr daran, daß Ihre Tochter tatsächlich in der Villa Lotos gewesen ist?«

»Nach diesem Fund kann ich allerdings nicht mehr hoffen, daß eine Verwechslung vorliegt, obwohl ich mir nicht erklären kann. . . .«

»Wir werden die Erklärung hoffentlich in der Villa Lotos selbst finden. Mein Auto wartet unten. Sind Sie bereit, Herr Major?«

»Ja. Gehen wir.«

Das Auto, das Hempel gemietet hatte, nahm die beiden Fahrgäste auf und trug sie in schneller Fahrt ihrem Ziel zu.

Unterwegs sprachen die beiden Herren über das Buch, das Silas dem Major geschickt und das diesen nicht nur aufs höchste interessiert, sondern auch so weit aufgeklärt hatte, daß er Hempels Vermutungen über etwa durch Hypnose erteilte Aufträge mindestens im Prinzip als möglich anerkannte.

Endlich war das Ziel erreicht.

Die Villa »Lotos« lag ein Stück abseits der Landstraße unter hohen alten Bäumen, die ihr auch am hellen Tag ein düsteres Gepräge verleihen mußten. Jetzt im Dunkel sah sie mit ihrem düstergrauen Anstrich, der geschlossenen Haustür und den bis auf zwei nicht erhellten Fenstern geradezu unheimlich aus.

Man hatte das Auto mit dem Wagenführer auf der Landstraße warten lassen und legte den kurzen, von Fichtenhecken flankierten Zugangsweg zu Fuß zurück.

Wie schon erwähnt, fiel aus den zwei Fenstern rechts und links vom Eingang Lichtschein, doch konnte man, obwohl sie einem auffallend niedern Erdgeschoß angehörten, durch sie nicht in die dahinter liegenden Räume sehen, denn dichte Vorhänge aus gelber Seide, die innen glatt über die ganzen Fensteröffnungen fielen, machten jeden Einblick unmöglich.

Die Haustür war aus schweren Eichenbalken mit hübscher Schnitzerei verziert. Ein schmiedeeiserner Türklopfer ersetzte die Glocke.

Als Silas Hempel ihn in Bewegung setzte, erlosch der Lichtschein rechts von der Tür.

Silas, der das Haus und seine Umgebung aufmerksam betrachtete, fragte den Major, ob er selbst schon einmal hier gewesen sei.

»Nein,« lautete die Antwort, »nur meine Frau und Tochter waren früher zuweilen bei Alwingens. Ein- oder zweimal auch zum Tee geladen, so viel ich mich erinnere.«

»Es wundert mich, daß man in einem so einsam gelegenen Besitz keinen Hund hält!«

»Das ist wahr; aber ich weiß, daß Alwingens früher einen Schäferhund hatten, der in der Umgebung berüchtigt war wegen seiner Wildheit und Bösartigkeit. Meine Frau fürchtete sich sehr vor ihm, obwohl er den Freunden des Hauses nie etwas tat. Wahrscheinlich haben sie ihn dann verkauft oder er ging ein.«

Inzwischen hörte man innen schlurfende Schritte sich der Tür nähern, und diese wurde geöffnet.

Eine Negerin stand grinsend vor den erstaunten Besuchern. Denn eine solche war in dieser Gegend etwas sehr Seltenes, und der Major konnte sich durchaus nicht erinnern, daß seine Damen je etwas von einer Schwarzen bei Alwingens erwähnt hatten.

Indes sagte er nun zu ihr, daß sie gekommen seien, um Herrn und Frau v. Alwingen zu sprechen und angemeldet zu werden wünschten. Dabei übergab er ihr seine Karte.

Aber die Alte grinste ihn verständnislos an, schüttelte den schwarzwolligen Wuschelkopf und sagte: »Nix da sein . . . nix da sein Massa Alwingen! Hier bloß sein Missis Foster und Massa Charlie . . . aber Massa Charlie sein ausgegangen.«

Der Major und Hempel sahen einander verblüfft an. Dann sagte dieser: »Gut, so melden Sie uns bei Mrs. Foster an.«

Die Negerin schüttelte immer noch grinsend den Kopf.

»Missis Foster kein fremde Mensch empfangen. Missis Foster sein Französin und nix können deutsch reden mit Leute, wie Sally kann.«

Damit wollte sie die Türe einfach zumachen. Aber Hempel setzte rasch seinen Fuß dazwischen.

»Hollah, so geht das nicht, Miß Sally! Wir müssen Mrs. Foster unbedingt sprechen und lassen uns nicht abweisen! Sagen Sie das Ihrer Herrin und auch, daß wir sehr gerne französisch mit ihr sprechen werden, wenn sie nicht deutsch sprechen kann.«

Dabei hatte er mit unwiderstehlicher Gewalt den Türflügel zurückgedrängt und war mit dem Major in den Hausflur getreten.

War es nun dies oder der ernste bestimmte Ton, in dem Hempel gesprochen, der Sally eingeschüchtert hatte, genug, das Grinsen verschwand von ihrem Gesicht, und sie entfernte sich nach links, wo sie hinter einer Tür verschwand, nicht ohne vorher noch einen bitterbös funkelnden Blick nach den Zurückbleibenden zu werfen.

Silas beugte sich dicht an den Major heran: »Lassen Sie mich den Sprecher machen und verraten Sie ja nicht, daß ich von der Polizei bin! Die Sache kann ganz harmlos sein, aber wir müssen unbedingt erfahren, was für Leute hier statt Alwingens wohnen und wie dieser Personenwechsel zustande kam.«

In diesem Augenblick erschien die Negerin wieder.

»Missis Foster lassen bitten.«

 


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