Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XVIII.

Schweigend fuhren sie heim. In dem Major war eine leise Hoffnung aufgekeimt: Konnte es nicht doch eine Verwechslung sein? Wenn nun Lydia daheim ruhig auf ihn warten würde?

Aber diese Hoffnung hielt nicht lange an. Als der Major, nachdem er sich von Hempel getrennt, seine Wohnung betrat, fand er im Wohnzimmer nur die Majorin, die ihn bereits voll Ungeduld erwartete, vor.

»Wo ist Lydia?« fragte er angstvoll.

»Lydia? Sie schläft wohl schon! Vor etwa anderthalb Stunden ging sie zu Bett. Das arme Kind war schrecklich erregt; du mußt nämlich wissen, daß, gleich nachdem du fortgegangen warst, ein Gerichtsbote kam, der ihr eine Vorladung für morgen neun Uhr früh zum Untersuchungsrichter brachte. Das hat sie entsetzlich aufgeregt und . . .«

Der Major wartete das Ende dieser Mitteilung gar nicht ab, sondern schritt durch die dazwischenliegenden Räume geradenwegs auf die Tür zu seiner Tochter Schlafzimmer zu, wo er laut anklopfte.

Keine Antwort. Die Tür war versperrt. Auch die zweite vom Flur aus erwies sich als abgesperrt. Aber zu dieser besaß man gottlob einen zweiten Schlüssel, so daß sie bald geöffnet war.

Lydias Zimmer war leer, das Bett unberührt. Mit einem Stöhnen sank der Major auf den nächsten Stuhl und blickte verstört vor sich hin.

Es war also Wahrheit . . ., alles Wahrheit, was er, seinen eigenen Augen mißtrauend, mit einem letzten Restchen von Hoffnung immer noch bezweifelt hatte. . . .

Aber wenn die Majorin geglaubt hatte, jetzt eine Erklärung all dieser seltsamen, unbegreiflichen Dinge zu bekommen, so sah sie sich enttäuscht.

Der Major erklärte nichts, sprach überhaupt nicht. Wortlos begab er sich nach seinem Zimmer, nachdem er eine Aufforderung seiner Frau, nun das Abendbrot einzunehmen, mit einer ungeduldig abwehrenden Bewegung zurückgewiesen hatte.

Drin hörte man ihn rastlos auf und ab gehen. Auch der armen Majorin waren Appetit und Schlaf gründlich vergangen. Still und gedrückt räumte sie den gedeckten Tisch wieder ab und setzte sich in ihren Sorgenstuhl am Fenstertritt, wo sie gewöhnt war, Kränkungen und Kümmernisse schweigend mit sich auszukämpfen.

Und sie grübelte angestrengt nach, was geschehen sein könnte, das ihren Mann so seltsam verändert hatte. Und wohin nur Lydia gegangen sein mochte, wo sie doch ausdrücklich erklärt hatte, sie fühle sich so müde und erschöpft, daß sie gleich zu Bett gehen wolle?!

Nach ungefähr zwei Stunden erschien der Major wieder im Wohnzimmer und fragte seine Frau, ob Lydia bereits da sei.

»Nein . . ., oder vielmehr, ich weiß es nicht genau, denn kommen gehört habe ich sie nicht, und als ich vor einer Weile drüben war, war sie noch nicht daheim. . . .«

Und dann die Gelegenheit benützend, fügte sie angstvoll hinzu: »Lieber Franz, ich bin so schrecklich in Sorge, willst du mir nicht sagen, was all dies zu bedeuten hat?«

Und gegen ihre Erwartung fuhr der Major nicht auf, sondern nahm ganz sanft ihre Hand in die seine und antwortete mit bebender Stimme: »Noch kann ich es nicht, Alfredine. Es würde zu lange dauern, und ich bin selbst viel zu erregt, um dir alles erklären zu können. Habe also noch Geduld . . ., und nun laß uns nachsehen, ob Lydia endlich da ist?«

Sie war da. Sie saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett, noch vollständig angekleidet, bis an Hut und Mantel, die sie abgelegt hatte, und starrte erschöpft vor sich hin.

»Guten Abend, Lydia,« sagte der Major.

Da raffte sie sich auf, nicht erschreckt oder verlegen, sondern mit freundlichem Lächeln.

»Guten Abend, Papa! Wünschest du noch etwas von mir?«

»Ja, ich möchte sehen, wie es dir geht . . ., und dann . . ., willst du mir nicht sagen, liebe Lydia, wo du so spät noch warst? Wolltest du nicht schon vor Stunden zu Bett gehen?«

»Ja . . ., allerdings . . ., ich war so furchtbar müde und wollte mich gleich niederlegen.«

»Warum bist du denn noch ausgegangen?«

»Ausgegangen . . .? Ich? Aber ich war doch nicht fort, Papa!« antwortete sie erstaunt.

»Du hast dich gegen sieben in dein Zimmer zurückgezogen und nun ist es 10 Uhr vorüber!«

»Wirklich, so spät schon? Da muß ich wohl vor Müdigkeit hier auf dem Stuhl eingeschlafen sein . . ., wie komisch! Und geträumt muß ich auch haben. . . .«

»Was hast du geträumt?« fragte der Major rasch.

Lydia legte die Hand auf die Stirn, ein gequälter suchender Ausdruck trat in ihr bleiches Gesicht.

»Ich weiß es nicht mehr . . ., aber geträumt . . ., schwer geträumt habe ich bestimmt! Ich fühle es noch. . . .

»Kannst du dich gar nicht mehr besinnen?«

Der suchende Ausdruck ihres Gesichtes vertiefte sich.

»Mir ist,« sagte sie mit abwesendem Blick, »als wäre ich gefahren . . . nein, geflogen . . ., eine Landstraße . . ., Bäume . . ., das Haus . . ., dunkel . . .,« wieder legte sie die Hand an die Stirn, um zuletzt verzweifelt den Kopf zu schütteln. »Ich kann mich nicht besinnen . . ., aber es war ein schwerer, . . . schwerer . . ., böser Traum- . . .

Im nächsten Augenblick schloß sie erschöpft die Augen und sank schwer gegen die Rücklehne des Stuhles. Ihr Atem ging tief und regelmäßig, sie war eingeschlafen.

»Kleide sie aus, wir wollen sie zu Bett bringen,« sagte der Major tonlos und trat ans Fenster. »Aber sollte sie erwachen, kein Wort, keine Frage mehr! Sie ist krank und braucht Ruhe.«

Die erschreckte Mutter wagte keine Frage mehr. Hastig befreite sie ihr Kind von den Kleidern und legte es mit Hilfe des Majors in sein Bett, Decke und Federbett sorgsam darüber legend, daß nur der Kopf frei blieb. Dann entfernten sich beide schweigend.

Aber obwohl der Major ganz darüber beruhigt war, daß Lydia heute nacht das Haus nicht mehr verlassen werde, tat er selbst doch so wenig wie seine Frau in dieser Nacht ein Auge zu.

Lydia schlief noch tief und fest, als die Majorin ihr am nächsten Morgen punkt acht Uhr das Frühstück ans Bett brachte. Schweren Herzens weckte sie die Tochter.

»Ich würde dich so gerne noch länger schlafen gelassen haben,« sagte sie entschuldigend, »aber es ist wegen der Vorladung. Du weißt, mein Herz, daß du um neun Uhr beim Untersuchungsrichter sein mußt.«

Lydia war sogleich wach.

»Ja, ich weiß, Mama.«

Sie blickte noch eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann stand sie auf und begann sich hastig zu waschen und anzukleiden.

Die Majorin, die im Zimmer blieb, wunderte sich, wie ruhig Lydia heute im Vergleich zu gestern war, wo sie die Vorladung in so große Erregung versetzt hatte.

»Das ist recht,« sagte sie, »daß du die Vorladung nicht tragisch nimmst, mein Kind. Schließlich ist es ja nur eine Formsache . . ., man wird dich um dasselbe fragen, was man schon einmal fragte, und da du nichts weißt, ist die Sache doch einfach!«

Lydia, die sich eben sorgfältig das Haar aufgesteckt hatte und nun mit großer Behendigkeit ihr Kleid anzog, sagte darauf mit vollkommener Ruhe:

»Ja, es wird alles ganz einfach sein, denn ich weiß nun alles und auch wer Gerdy erschossen hat.«

»Lydia!« schrie der eben eintretende Major auf, und beide Eltern starrten sie fassungslos an. Dann bestürmten sie die Tochter mit Fragen.

»Du weißt es? Ja, hast du uns denn bisher nicht die Wahrheit gesagt? Wer ist es?«

Da aber legte Lydia den Finger an die Lippen.

»Still, fragt mich nicht! Ich darf es erst dem Untersuchungsrichter sagen . . ., hat Gerdy befohlen.«

Alles weitere Fragen und Drängen war umsonst, denn Lydia blieb bei ihrer Erklärung.

Der Major begleitete sie in das Landgerichtsgebäude. Doch man ersuchte ihn dort höflich, aber bestimmt, im Vorraum auf seine Tochter zu warten. Beim Verhör selbst dürfe niemand dabei sein.

Resigniert setzte sich der Major auf eine der im Vorraum stehenden Holzbänke.

Von innen, aus dem Bureau des Untersuchungsrichters, drang kein Laut heraus, und Viertelstunde um Viertelstunde – für den Major Ewigkeiten – verging, ohne daß Lydia wieder erschien.

Dann wurde plötzlich die Bureautür hastig geöffnet, aber nicht Lydia, sondern der Untersuchungsrichter, Dr. Wasmut, erschien im Rahmen derselben.

»Herr Major, darf ich bitten. Ihre Tochter hat einen kleinen Ohnmachtsanfall. Nach dem Arzt habe ich bereits geschickt.«

Marchstätten flog ins Bureau, wo er seine Tochter ohne Bewußtsein auf einem Rohrsofa vorfand. Man hatte ihr in der Not ein paar Aktenbündel unter den Kopf geschoben, da kein Polster zur Hand war. Der Untersuchungsrichter, dem die Sache sehr peinlich war, meinte teilnahmsvoll: »Ich kann gar nicht begreifen, wie das so rasch und plötzlich kam. Frau Holzmann schien doch so vernünftig vorher! Ruhig und sicher, ohne mit einer Wimper zu zucken, machte sie ihre Aussage und hörte die Verlesung des Protokolls an. Auch unterschrieben hat sie es mit fester Hand. Dann müssen sie die Kräfte ganz jäh verlassen haben, und so schnell kam das, daß sie unfehlbar auf den Boden hingeschlagen wäre, wenn ich nicht zufällig ganz nahe neben ihr gestanden hätte, so daß ich sie noch rechtzeitig auffangen konnte.«

»Ist das Ergebnis Ihrer Unterredung mit meiner Tochter Amtsgeheimnis, Herr Untersuchungsrichter, oder darf ich erfahren, was sie aussagte?« fragte der Major.

»In diesem Fall ja, denn es wird morgen ja in allen Zeitungen stehen. Frau Holzmann hat endlich die Wahrheit gesagt, sie bezeichnete Hartwig Henter als den Mörder ihres Gatten und gab zu, daß der Mord ihretwegen geschah. Die Sache hat sich ungefähr so zugetragen, wie ich ja gleich anfangs vermutete: Henter befand sich bei Frau Holzmann in deren Zimmer und machte ihr gerade eine Liebeserklärung, als Gerhard Holzmann unvermutet eintrat. Was dann zwischen den zwei Männern gesprochen wurde, darauf kann sich Frau Holzmann nicht mehr besinnen, denn naturgemäß befand sie sich damals in größter Aufregung. Daß aber beide Revolver zogen und Henter zuerst schoß, das hat sie ganz genau gesehen. Sie selbst ist übrigens nie die Geliebte des Ingenieurs Henter gewesen. Er verfolgte sie bloß beständig mit Liebesanträgen. Sie verlor dann nach dem Schuß vorübergehend das Bewußtsein und kam erst durch den Gongschlag des Hauswarts wieder zu sich. Inzwischen hatte Henter das Weite gesucht und Herr Holzmann die Komödie eingeleitet, die seine Ehre vor der Welt rein erhalten sollte.«

Der Untersuchungsrichter schwieg. Franz v. Marchstätten war bis in die Lippen hinein weiß geworden. Entsetzen lag in diesem totenbleichen Gesicht, dessen Lippen sich vergeblich bemühten, Worte zu formen.

In diesem Augenblick trat der Arzt ein und begann sich sofort mit Lydia zu beschäftigen, indem er den Amtsdiener nach Wasser schickte und den Puls der Ohnmächtigen untersuchte.

Der Major war endlich Herr seiner ungeheuren Erregung geworden und dicht an den Untersuchungsrichter herangetreten.

»Herr Untersuchungsrichter, was meine Tochter Ihnen da erzählt hat, ist von A-Z erfunden! Kein wahres Wort ist daran, ich schwöre es Ihnen! Sie war doch gar nicht dabei, als der Schuß fiel. . . .«

»Waren Sie selbst dabei, Herr Major, daß Sie dies so bestimmt behaupten?«

»Nein, natürlich nicht. Trotzdem weiß ich bestimmt, daß alles, was Lydia heute da vor Ihnen aussagte, Lüge ist. Keine absichtliche, denn wahrscheinlich glaubt das arme Kind ja nun selbst daran. Trotzdem ist es Lüge! Ihr eingeredet, ihr suggeriert im hypnotischen Schlaf vom Mörder selbst, um so den Verdacht von sich selbst abzulenken! O glauben Sie mir doch, Herr Untersuchungsrichter! Ich weiß es ja so bestimmt und ich werde Ihnen die Beweise schaffen.«

Lydia war erwacht, der Arzt zum Untersuchungsrichter getreten, mit dem er leise sprach.

»Was wird nun mit meiner Tochter geschehen?« fragte der Major endlich, da er seine Unruhe nicht länger bezwingen konnte.

Der Untersuchungsrichter, noch ganz unter dem befriedigenden Eindruck der Einvernahme stehend, antwortete sehr liebenswürdig:

»Herr Dr. Schwarz sagt mir soeben, daß Ihre Tochter dringend der Ruhe bedarf, denn ihr Nervensystem ist sehr angegriffen. Und da nach ihren befriedigenden Erklärungen durchaus kein Grund vorliegt, sie länger hier zurückzuhalten, so steht ihrer Entfernung nichts im Wege. In häuslicher Pflege wird sie sich hoffentlich bald ganz erholen. Dr. Schwarz rät Ihnen übrigens sehr, einen Nervenarzt zu Rate zu ziehen, und empfiehlt dazu Herrn Professor Königshofen, der ein berühmter Psychiater ist.«

So war Lydia also frei, und Marchstätten konnte sein armes Kind wieder mit sich heim nehmen.

 


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