Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XIII.

Rosner erwartete den Detektiv schon ungeduldig.

»Nun?« fragte er, als Hempel kaum das Haustor abgeschlossen und mit ihm in die Stube kam. »Sie sind ihr nach – wohin ist die gnädige Frau gegangen? Denn, nicht wahr, Sie haben sie doch angesprochen und gefragt, was sie hier mitten in der Nacht gewollt hat und warum . . .

»Nein, ich habe sie nicht angesprochen,« unterbrach ihn Silas trocken, »denn sie wurde am hinteren Gartenpförtchen von einem Herrn und einem Auto erwartet.«

»Erwartet? Ja, von wem denn um's Himmels willen?«

»Von dem Mörder ihres Gatten, in dessen Auftrag sie in so ungewöhnlicher Weise ihr eigenes Haus betrat, um dort zu holen, was er selbst neulich vergeblich im Schuppen suchte.«

Rosner starrte den Sprecher an, als habe dieser chinesisch gesprochen. Erst nach einer Weile stammelte er beinahe ängstlich: »Bitte, sagen Sie das noch einmal! Ich muß nicht gut gehört haben!«

Silas wiederholte seine Worte. Dann schloß er: »Ich werde Ihnen nachher alles ausführlich erzählen, aber erst muß ich was Warmes in den Leib bekommen, mir klappern die Knochen vor Kälte. Könnten Sie mir nicht rasch einen Grog brauen?«

»Selbstverständlich, Herr Hempel! Sofort! Setzen Sie sich einstweilen aufs Sofa und wickeln Sie die Decke um die Beine.«

Er holte seinen Spirituskocher, setzte Wasser auf und brachte eine große Rumflasche aus einem Wandschrank. Dabei schüttelte er beständig den Kopf und starrte tiefsinnig vor sich hin. Er konnte sich in dem Gehörten durchaus nicht zurechtfinden.

Silas hatte sich inzwischen vorläufig Rum in ein Gläschen gegossen und dieses auf einen Zug geleert. Danach fühlte er seine Lebensgeister wieder erwachen und begann nun dem Hauswart ausführlich zu erzählen, was er beobachtet hatte.

Rosner schüttelte nur immerzu den Kopf. Begreifen konnte er es nicht.

»Unsere gnädige Frau und – der Mörder! Ja, kennt sie ihn denn überhaupt?« sagte er.

»Vermutlich doch! Sonst ließe sie sich doch keine Aufträge von ihm erteilen.«

»Aber was suchte sie denn eigentlich?«

»Wenn wir das wüßten, wüßten wir wahrscheinlich alles; aber leider haben wir bisher noch keine Ahnung davon! Besinnen Sie sich einmal, Rosner, Sie sind ja so lange im Haus: Wem gehört eigentlich das Schränkchen oben und wozu wurde es benützt?«

»Zu gar nichts. Es stammt von Herrn Holzmanns Urgroßvater, und nur aus Pietät und weil Herr Holzmann alte Stücke liebte, ließ er es seinerzeit in das Schlafzimmer stellen.«

»Vielleicht bewahrte er Dokumente oder sonstige Sachen von Wert darin auf?«

»Das müßte erst in der allerletzten Zeit geschehen sein, denn früher, das weiß ich bestimmt, wurde der Schrank vom jungen Herrn nie benützt. Er war stets angefüllt mit altem Kram, Erinnerungsgegenständen, Briefen, Bildern u. dgl., und Herr Holzmann hat öfter, wenn seine Frau vorschlug, den Schrank doch auszuräumen und zu benützen, gemeint, es solle alles so beisammen bleiben, wie es aus Urgroßvaterszeiten stamme. – Übrigens hat die gnädige Frau doch offenbar nicht gefunden, was sie suchte, denn wir sahen ja, wie enttäuscht sie fortging.«

»Nein, sie hat es nicht gefunden . . .« murmelte der Detektiv grübelnd.

Auch Rosner versank ins Grübeln.

»Und wie seltsam sie war! Nie habe ich Frau Lydia so gesehen. Es war, als ob sie nicht bei vollem Verstand sei oder schlafe . . . obwohl sie die Augen ja offen hatte. Aber es war kein Blick drin in diesen Augen. . . .«

»Mondsüchtige oder Schlafwandler haben solche Augen, aber ich glaube nicht, daß Frau Holzmann zu den einen oder anderen gehört. Ich glaube vielmehr. . . .«

»Was? Was glauben Sie, Herr Hempel?«

»Daß sie hypnotisiert wurde und alles im hypnotischen Schlaf tat.«

Rosner starrte den Sprecher mit offenem Mund an.

»Was meinen Sie damit, Herr Hempel? Ist das eine Krankheit?«

»Nein. Haben Sie denn noch nie von Hypnose gehört?«

»Nie. D. h., ich glaube, es stand einmal etwas darüber in der Zeitung, aber ich habe es nicht verstanden.«

»Passen Sie auf. Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Stellen Sie sich einen Menschen mit sehr starker Willenskraft vor, der seine Gedanken ausschließlich auf einen einzigen Gegenstand konzentrieren kann. Und denken Sie sich einen zweiten Menschen dazu von schwacher Willenskraft. Die starke Kraft kann nun die schwache unterjochen und beherrschen, und zwar geschieht das in erster Linie gewöhnlich durch den Blick. Der starke Mensch konzentriert seine ganze Willenskraft in seinem Blick, dem die schwache Willenskraft des andern nicht zu widerstehen vermag. Genügt der Blick allein nicht, so helfen bestimmte Striche, die magnetisch wirken, nach, die schwache Willenskraft der starken zu unterwerfen. Allmählich tritt nun bei dem Unterworfenen ein schlafähnlicher Zustand ein. Man nennt das hypnotischen Schlaf und denjenigen, der einen andern in diesen Schlaf versetzen konnte, Hypnotiseur. Haben Sie das verstanden?«

»Ja, wenn ich bisher auch nicht wußte, daß solche Dinge möglich sind und wirklich vorkommen.«

»Sie sind wissenschaftlich erwiesen, werden von Ärzten bei Nervenbehandlungen häufig mit Erfolg zu Heilzwecken angewendet und bilden, leider auch von Verbrechern mißbraucht, eine enorme Gefahr für die Menschheit! Man muß sich nur die Tragweite der Hypnose klarmachen, indem man bedenkt, daß bei einem Hypnotisierten die eigene Willenskraft und Urteilsfähigkeit ganz ausgeschaltet ist und daß er völlig wehrlos dem Einfluß der Person preisgegeben ist, die ihn in hypnotischen Schlaf versetzt hat. Alles, was ihr im magnetischen Schlaf von dieser Person aufgetragen wird, muß sie zur bestimmten Stunde und genau in der aufgetragenen Weise ausführen, auch wenn Tage oder Wochen zwischen Befehl und Ausführung liegen. Wieder in normalen Wachzustand versetzt, weiß die Person nichts von dem, was man ihr zu tun befohlen hat. Aber wenn die Zeit der Ausführung da ist, verfällt sie von selbst in magnetischen Schlaf und führt die gegebenen Aufträge mechanisch aus. Und hat man ihr bei deren Erteilung befohlen: »Vergiß nachher alles!« oder »Du darfst nachher durchaus niemand verraten, daß du das getan hast oder daß dir dies befohlen wurde!«, so wird die betreffende Person tatsächlich unbedingt schweigen, weil sie sich selbst nicht mehr daran erinnern kann. Befehl und Ausführung sind eben unter die Bewußtseinsschwelle gesunken.«

Der Hauswart bekreuzte sich.

»Gott bewahre einen! Das klingt ja wie Zauber und Hexerei! Und Sie sagen, daß dies alles wirklich möglich ist?«

»Zahlreiche von berühmten Ärzten vorgenommene Versuche haben es bestätigt, und es ist nur ein Glück, daß nicht jedermann die Fähigkeit besitzt, zu hypnotisieren oder hypnotisiert werden zu können. Denn bestimmte Voraussetzungen im Nervensystem der betreffenden Personen müssen gegeben sein.«

»Und Sie glauben nun, Herr Hempel, daß unsere gnädige Frau im Auftrag einer andern Person . . . des Mörders . . . gehandelt hat, heute nacht?«

»Ich kann mir wenigstens ihr Gebaren anders nicht erklären! Daß sie heute nacht nicht normal, sondern in einem magnetischen Schlafzustand war, davon war ich vom ersten Augenblick an, als wir sie erblickten, überzeugt. Hätte sie solche Zustände schon früher gehabt, würden Sie oder die Dienerschaft es zweifellos haben bemerken müssen. Also handelt es sich wohl nicht um gewöhnliches Nachtwandeln, sondern um einen durch fremden Einfluß herbeigeführten Zustand. Sie suchte etwas. Suchte sie es für sich selbst, so wäre sie wohl einfach bei Tag gekommen, weil dies das Natürliche gewesen wäre. Aber sie kam mitten in der Nacht, in dasselbe Haus, das ihr seit dem Unglück so viel Grauen einflößte, daß sie nicht einmal inmitten einer zahlreichen Dienerschaft darin wohnen wollte. Das scheint mir so unnatürlich, daß ich mir nicht denken kann, sie hätte es freiwillig getan.«

»Das ist wahr. Sie war immer ein wenig furchtsam und ängstlich. . . .«

»Sehen Sie! Dann weiter: Sie gab sich alle Mühe, so leise als möglich zu sein und kein Geräusch zu machen. Das ist ihr offenbar eingeschärft worden. Denn aus eigenem hätte sie in ihrem Hause doch keine Veranlassung dazu gehabt!«

»Auch das ist wahr.«

»Denken Sie weiter, Rosner: Der Mörder suchte etwas im Schuppen, fand es nicht und wurde von Ihnen verscheucht. Er vermutet es nun im Hause, wagt aber nicht, selbst in dasselbe einzudringen, weil ihm die Örtlichkeiten fremd sind. So schickt er Frau Lydia, was im Fall der Entdeckung immerhin harmloser aussieht.«

Rosner fuhr sich über die Stirn.

»Ja – Sie können gewiß recht haben, Herr Hempel, aber ich bin ein alter, einfacher Mann, dem diese neuen Dinge nicht in den Kopf wollen. Mir ist schon ganz wirr davon. . . .«

Hempel lächelte nachsichtig.

»Gut, wir brauchen ja auch nicht weiter darüber zu sprechen. Die Hauptsache ist, daß sie mir klar sind und ich die Konsequenzen daraus ziehe.«

»Was werden Sie nun tun?«

»Den Weg gehen, der klar vorgezeichnet vor mir liegt: Morgen zu dem Major v. Marchstätten gehen, ihm die ganze Sache erzählen und Auskunft über den Mörder verlangen. Schließlich muß der Vater doch wissen, mit wem seine Tochter in letzter Zeit verkehrte, muß also den Mörder kennen, wenn er auch bisher vielleicht noch keine Ahnung davon hatte, daß dieser der Mörder seines Schwiegersohnes ist.«

»Ja, tun Sie das! Der Major ist ein Ehrenmann und wird Ihnen in allem helfen. So wird dann endlich Licht in diese verdammte Geschichte kommen, die so viel Unheil stiftete.«

Draußen graute der Morgen. Keiner der beiden Männer verspürte nach dieser aufregenden Nacht noch Schlaf. Hempel, den diverse Gläser Grog wieder angenehm erwärmt hatten, fiel plötzlich ein, daß er etwas Wichtiges versäumt hatte: die Fußspuren an der Gartentür festzustellen. Erschrocken sprang er auf, zog seine Stiefel an und eilte hinaus. Die Ausschnitte der Spuren im Schuppen trug er bei sich, ebenso einen kleinen Zollstab.

Gottlob, die Spuren waren noch unversehrt, wohl weil kein eigentlicher Weg an der rückwärtigen Gartentür vorüber führte. Es gab dort nur ein jetzt verschneites Rasendreieck, seitwärts von zwei schräg zusammenlaufenden Straßen begrenzt, die an dessen Spitze in eine einzige zusammenliefen. Die obere Breitseite begrenzte das Gartengitter.

Silas holte den nächsten Wachposten herbei, um in Gegenwart dieses Zeugen die Spuren festzustellen. Die mitgebrachten Ausschnitte paßten, wie er erwartet hatte, genau auf die neue Spur. Er notierte sich noch Namen und Nummer des Postens, um ihn nötigenfalls als Zeugen heranziehen zu können, und begab sich dann in ein nahes Kaffeehaus, dessen Tor eben geöffnet wurde.

Während er auf den bestellten Kaffee, der erst zubereitet werden mußte, wartete, überdachte er noch einmal die Erlebnisse dieser Nacht und legte sich die Reihenfolge der nun gebotenen Schritte zurecht.

Zuerst wollte er Kommissar Heidinger Bericht erstatten, dann den Major v. Marchstätten aufsuchen.

 


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