Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XIV.

Major v. Marchstätten kam in übler Laune von seinem gewohnten Morgenspaziergang heim. Eigentlich war er jetzt immer in übler Laune, denn die Sache mit seiner Tochter ging ihm beständig im Kopf herum, seit er Hartwig Henter auf dessen Brief hin aufgesucht und so seltsame Dinge über Lydia von ihm hatte anhören müssen.

Henter wollte Lydia nach Mitternacht auf der Landstraße getroffen und den Eindruck gewonnen haben, daß ihr Nervensystem auf das schwerste erschüttert sei, ja daß ihre Reden geradezu an Geistesstörungen grenzten.

Sie sollte bei Alwingens verkehren, sich mit Okkultismus beschäftigen und auf diesem Wege ihres Mannes Mörder zu entdecken suchen. Henter hatte ihn beschworen, Lydia den Verkehr mit Justa Alwingen zu verbieten und ehestens einen Nervenarzt zu konsultieren.

Der Major war wie vor den Kopf geschlagen heimgekehrt, aber was ihn am meisten aufregte, war nicht das gewesen, was Henter erzählt hatte, – denn das erschien dem Major unwahrscheinlich und lächerlich, – sondern daß Lydia mit Henter überhaupt zusammengetroffen war, noch dazu nachts und auf offener Landstraße! Wenn die Kriminalbehörde davon erführe! Wo ohnehin schon das Gerede über sie und Henter umging. . . .

Allmählich beruhigte sich der Major über diesen Punkt, um so mehr als Henter ihm ja versichert hatte, daß weit und breit kein Mensch zu erblicken gewesen sei während dieser Unterredung.

Als er nach Hause gekommen war, schlief Lydia, wie man ihm sagte, und es fiel dem Major nun zum erstenmal auf, daß seine Tochter in letzter Zeit bei Tag sehr viel schlief. . . .

Er hatte also zunächst seine Frau zu sich bescheiden lassen. Die Majorin, eine blasse, zarte Dame, die zeitlebens unter dem strammen Hausregiment des Gatten gelitten hatte, kam sofort, erschrak aber nicht wenig, als sie die senkrechte Falte auf der Stirn des Majors erblickte, denn das deutete allemal auf Sturm.

Der Sturm war denn auch wirklich gleich losgebrochen, indem der Major seine Frau beschuldigte, eine schlechte, nachlässige Mutter zu sein, die sich nie genug um die Tochter gekümmert habe, sonst wären Vorkommnisse wie die in letzter Zeit unmöglich gewesen. Oder könne sie etwa leugnen, schon seinerzeit Lydias Liebe für Holzmann toleriert und auch ihn selbst so lange bearbeitet zu haben, daß er schließlich zu allem ja und amen sagte, obwohl er immer gegen diese Heirat gewesen. Jetzt hätte man die Folgen: Lydia sei Witwe, und die Welt zöge ihre Ehre in den Kot! Aber nicht genug damit, auch jetzt kümmere sie sich nicht um das Tun und Treiben der Tochter, so daß diese nachts auf der Landstraße spazierenfahren, mit Henter zusammentreffen und ihm Unsinn vorschwatzen könne! Und nun war der Major endlich so weit, daß er seiner Frau erzählte, was Henter ihm mitgeteilt. . . .

Die arme Majorin, die von dem allem keine Ahnung gehabt, aber gewohnt war, bei allen unangenehmen Vorkommnissen der Sündenbock zu sein, erschrak heftig und sah ihr Heil nur in entrüsteter Abwehr, das heißt, sie stellte sich auf den Standpunkt, was sie nicht erklären konnte, einfach als lächerliche Erfindung hinzustellen. Wenn Henter sich die ganze Sache nicht zusammen phantasiert habe, dann sei er eben betrunken gewesen oder eine Ähnlichkeit habe ihn getäuscht. Daß Lydia jemals nachts heimlich das Haus verlassen oder solch dummes Zeug von Geistern und dgl. geredet habe, sei völlig ausgeschlossen, übrigens brauche man sie ja nur selbst zu fragen. . . .

Diese Auffassung seiner Frau überraschte zwar den Major, aber er fand sie immerhin möglich, ja gar nicht so dumm. Konnte Henter nicht wirklich betrunken gewesen sein oder eine andere Frau für Lydia gehalten haben?

Eigentlich sah ja die ganze Sache Lydia wirklich gar nicht ähnlich, und er hatte sie auch von Anfang an mit Mißtrauen betrachtet.

Wenigstens bildete er sich dies jetzt ein. . . .

Man wartete also, bis Lydia erwachte, und fragte sie dann: 1. Ob sie je nachts das Haus verlassen habe? 2. Ob sie mit Alwingens verkehre? – was ihr doch seinerzeit verboten worden sei. Und 3. ob sie sich vielleicht mit Geistersehen, Spiritismus oder ähnlichem Schwindel befasse?

Lydia stutzte zuerst, blickte einen Augenblick verloren und grübelnd vor sich hin, schüttelte dann aber sehr bestimmt den Kopf und verneinte alle drei Fragen.

»Ich wußte es ja!« atmete die Majorin erleichtert auf. Auch der Major atmete auf und war beruhigt. Gottlob, so war alles nur dummes Geschwätz von Henter gewesen!

Am Nachmittag desselben Tages war dann Serena v. Eltz gekommen. Marchstättens wunderten sich darüber, denn der Verkehr mit dem Hause Eltz hatte ja ganz aufgehört, und der Major konnte sich auch denken warum. . . .

Serena war entsetzt über der Freundin schlechtes Aussehen und fand sie auch sonst sehr verändert, still, zerstreut, schweigsam und grüblerisch, wie sie früher nie gewesen. Aber sie konnte durchaus nichts bemerken von »zerrütteten Nerven« oder »beunruhigender Geistesverfassung«. Hartwig mußte sich getäuscht haben. Denn daß Lydia nicht mehr strahlend lebenslustig sein konnte wie früher, daß sie als Witwe still und traurig geworden war und darüber nachgrübelte, wer ihren Mann getötet habe, das war ja alles nur zu natürlich.

Und sie schrieb noch am Abend ein paar Zeilen in diesem Sinn an Hartwig.

Der Major aber konnte die Sache doch nicht los werden. Jeden Morgen, wenn er seinen einsamen Morgenspaziergang auf den Schloßberg machte, grübelte er darüber nach, und manches kam ihm in den Sinn, das er früher nicht beachtet hatte. Vor allem das Wechselnde in Lydias Wesen. Bald war sie matt und apathisch, dann wieder von grenzenloser Unruhe erfüllt, verstört, ängstlich oder schreckhaft. Er hatte bisher alles auf ihre Trauer geschoben. Jetzt kam ihm manchmal vor, als sei damit doch nicht alles erklärt, als ginge vielleicht noch etwas anderes in ihr vor, das sie vor den Eltern verbarg. Ja, er ertappte sich auf dem Gedanken, daß Lydia, wenn sie gewollt, sehr leicht nachts hätte fortgehen können, ohne daß irgend jemand im Haus es gemerkt haben würde.

Ihr Zimmer, das einen eigenen Flurausgang besaß, lag durch mehrere Räume vom Schlafzimmer der Eltern getrennt. Da man im eigenen Hause wohnte, gab es sonst keine Mitbewohner. Sämtliche Dienstboten schliefen oben in den Mansardenzimmern. Der Hauswart und seine Frau wohnten wohl unten, nahe dem Hauseingang, aber der Raum, in dem sie schliefen, lag gartenseitig. Lydia besaß seit jeher ihre eigenen Schlüssel zu Tor und Wohnungstür. . . .

Wohin verirrten sich seine Gedanken? Der Major, der eben vom Morgenspaziergang heimgekehrt war, warf ärgerlich seine Handschuhe auf den Tisch und stellte den Stock in den Ständer. Während er Hut und Mantel ablegte, dachte er noch: »Wenn ich wenigstens mit offenen Karten spielen könnte und sie offen fragen dürfte, ob sie Henter in der letzten Zeit überhaupt gesehen hat? Aber daß ich seinen Namen ihr gegenüber gar nicht erwähne, darauf hat er mir ja das Ehrenwort abgenommen!«

Er warf sich in einen Stuhl und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Welch ein Narr bin ich!« murmelte er. »Als ob es nicht genügte, daß Lydia alles andere in Abrede stellte – sie, die nie gelogen hat!«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür und der eintretende Diener überbrachte dem Major eine Karte.

»Der Herr ersucht um eine Unterredung mit dem Herrn Major.«

Marchstätten las: »Silas Hempel, Beamter der Kriminalpolizei in Wien.«

Ein jäher Schreck durchfuhr den Major, so daß ihm für Sekunden schwarz vor den Augen wurde.

War es doch wahr und hatte die Kriminalpolizei von der nächtlichen Zusammenkunft erfahren? Kamen sie, um Lydia zu holen?

Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder gefaßt.

»Ich lasse bitten,« sagte er ruhig.

Hempel trat ein. Der Major bot ihm Platz an und fragte höflich, womit er dienen könne?

Der Detektiv antwortete: »Ich komme, eine Auskunft von Ihnen zu erbitten, und möchte, um Ihnen deren Wichtigkeit verständlich zu machen, einiges vorausschicken, was Ihnen bisher sicher unbekannt blieb. Doch kann ich Ihnen diese Mitteilungen erst machen, wenn ich Ihrer Verschwiegenheit sicher bin; denn sie müssen vorläufig strengstes Geheimnis bleiben.«

»Sprechen Sie ruhig,« erwiderte Marchstätten, »ich bin keine Klatschbase und gebe mein Wort, was Sie mir sagen, bei mir zu behalten!«

»Es handelt sich um den Mörder Ihres Schwiegersohnes, mit dessen Ausforschung ich mich unabhängig vom Untersuchungsgericht seit Wochen befasse. . . .«

»Unabhängig vom Untersuchungsgericht,« unterbrach ihn der Major rasch, »soll das heißen . . .«

Hempel nickte.

»Ja, das soll heißen, daß ich den dort gehegten Verdacht nie geteilt habe und daher bei meinen Nachforschungen andere Wege einschlug.«

»Gott sei gelobt! So gibt es doch wenigstens einen Menschen, der in meiner Tochter keine Mitschuldige an dem Verbrechen sieht!«

»Nein, die sehe ich bis jetzt allerdings nicht in ihr und hoffe, daß sich diese Meinung aufrechterhalten und späterhin auch beweisen lassen wird, obwohl ich gerade durch Ihre Tochter die Person des Mörders feststellen konnte.«

Der Major prallte zurück.

»Durch meine Tochter? Was hat meine Tochter mit dem Mörder zu schaffen?«

»Beruhigen Sie sich, Herr Major, Sie werden alles begreifen, wenn ich Ihnen von Anfang an erzähle, was ich bisher Schritt für Schritt einwandfrei feststellen konnte.«

Und er berichtete nun mit übersichtlicher Deutlichkeit alles, von den ersten Fußspuren des Mörders im Schuppen an bis zu den Ergebnissen der letzten Nacht, die ihm den Mörder von Angesicht zu Angesicht gezeigt und den Beweis erbracht hatte, daß er ein Bekannter Frau Holzmanns sei.

Im Anschluß daran versuchte Silas, dem Major seine eigene Überzeugung zu erklären, daß Frau Holzmann nämlich wahrscheinlich selbst keine Ahnung davon habe, in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Mörder ihres Gatten zu stehen, und sicher gar nicht wisse, daß ihr Bekannter überhaupt der Mörder sei. Er wollte zum Beweis, wie möglich dies sei, verschiedene Versuche anführen, die Professor Charcot an der Klinik in Nancy seinerzeit mit Personen, die er hypnotisierte, vorgenommen hatte.

Aber hier unterbrach ihn der Major, der bis dahin mit größter Spannung zugehört hatte, ungeduldig.

»Bleiben wir bei der Wirklichkeit, den nackten Tatsachen, Herr Hempel! Alles, was Sie mir da erzählt haben, scheint mir logisch und klar, und ich bin überzeugt, daß der Mann, den Sie heute nacht neben dem Auto hinter der Holzmannschen Villa gesehen haben, tatsächlich der lang gesuchte Mörder ist. Nur bin ich ebenso fest überzeugt, daß Sie in der Annahme irren, meine Tochter habe irgend etwas mit der Sache zu tun. Die Frau, welche heute nacht in die Villa eindrang und dort etwas suchte, ist jedenfalls eine Komplizin des Mörders und sieht meiner Tochter vielleicht ähnlich, so daß der Irrtum entstand, sie sei es selber!«

»Aber ich versichere auf das bestimmteste, Herr Major, daß ein Irrtum ganz ausgeschlossen ist! Der Hauswart, der Frau Holzmann doch sehr genau kennt, kann Ihnen bezeugen, daß sie selbst es war, die wir beobachteten! Auch nicht der leiseste Zweifel kann darüber bestehen!«

»Ich zweifle durchaus nicht daran, daß Sie und Rosner davon überzeugt sind. Trotzdem haben Sie sich eben getäuscht, denn es ist einfach unmöglich! Nacht und künstliche Beleuchtung täuschen sehr leicht, außerdem sagen Sie selbst, daß das Gebaren jener Frau Sie befremdete und Ihnen unnatürlich erschien. Darin liegt ja eigentlich schon die Erklärung: Es war eine andere, und darum erschienen Ihnen eben Blick und Bewegungen anders als bei meiner Tochter!«

»Durchaus nicht, beides war nur gebunden durch den hypnotischen Schlaf, in dem sich Frau Holzmann befand.«

»Hypnose! Unsinn! Das ist auch so ein moderner Schwindel wie Spiritismus und Geisterbeschwören! Ich wundere mich, daß ein Kriminalist ernsthaft solche Dinge in Betracht zieht, um etwas zu erklären, was sich durch den gesunden Menschenverstand überhaupt nicht erklären läßt!«

»Verzeihen Sie, Herr Major, Hypnose ist kein ›moderner Schwindel‹, sondern eine ärztlicherseits festgestellte Tatsache. Sie haben sich wahrscheinlich bisher nicht dafür interessiert und darum . . .«

»Nein, ich habe mich nie dafür interessiert und habe auch jetzt nicht das leiseste Interesse für diesen Gegenstand. Bleiben wir also bei den Tatsachen. Da kann ich Ihnen auch eine mitteilen, die als Beweis für meine Behauptung, daß es sich um eine Verwechslung handelt, dienen kann. Vor wenigen Tagen wurde mir von einem Bekannten, der Lydia ebenso genau kennt wie Rosner, auf das bestimmteste mitgeteilt, er habe meine Tochter nachts auf der Landstraße neben einem beschädigten Auto angetroffen und kurze Zeit mit ihr gesprochen. Sie habe ihm einen seltsam verstörten und gegen früher stark veränderten Eindruck gemacht. Lydia habe ihm auch erzählt, daß sie aus einer nahen Villa komme, die Bekannten gehört, mit denen sie jetzt häufig verkehre.«

Hempel horchte auf. Was er da hörte, interessierte ihn mehr, als er merken lassen wollte.

Der Major fuhr fort: »Ich hatte die Mitteilung gleich mit einem gewissen Mißtrauen vernommen, und es stellte sich nachher heraus, wie gerechtfertigt das war. Denn als ich Lydia deshalb befragte, stellte sie alles auf das entschiedenste in Abrede. Nun hat meine Tochter niemals gelogen, und wenn sie es bei dieser Gelegenheit vielleicht hätte versuchen wollen, so würden meine Frau und ich es gewiß sofort an einer gewissen Unsicherheit gemerkt haben. Aber Lydia verneinte mit vollster Unbefangenheit. Es kann sich damals also nur um eine Verwechslung gehandelt haben, woraus sich ergibt, daß meine Tochter eine Doppelgängerin haben muß. Diese Doppelgängerin kommt jedenfalls auch für die heutige Nacht in Betracht.«

»Und die Schlüssel? Woher sollte die Doppelgängerin die Schlüssel haben für sämtliche Schlösser, die sie öffnete?«

»Schlüssel können gestohlen oder nachgemacht werden! Aber ich sehe, daß Sie noch immer nicht überzeugt sind, Herr Hempel! Soll ich meine Tochter rufen? Wollen Sie sie selbst befragen?«

»Danke, ich verzichte darauf; denn ich bin überzeugt, daß es kein Resultat hätte. Da sie nach meiner Überzeugung im hypnotischen Schlaf handelte und man ihr sicher Schweigen anbefohlen hat, würde sie im Wachzustand doch nicht mehr wissen, was sie heute nacht tat, und daher vollkommen unbefangen alles in Abrede stellen.«

»Sie halten also immer noch an der Fiktion dieser märchenhaften ›Hypnose‹ fest?« sagte der Major, unruhig auf seinem Stuhl herumrückend.

»Es ist nichts Märchenhaftes dabei. Ich werde mir erlauben, Ihnen ein Buch über diesen Gegenstand zu schicken, das Sie über die Tatsächlichkeit meiner Annahme vielleicht anders denken läßt. Im übrigen handelt es sich gar nicht um Meinungsverschiedenheiten darüber zwischen uns, sondern um die Person des Mörders. Über ihn will ich Auskunft von Ihnen erbitten!«

»Aber ich habe doch keine Ahnung. . . .«

»Das ist unmöglich! Da Ihre Tochter ihn kennt, und zwar wahrscheinlich sehr gut, – denn sonst hätte er wohl nie Gelegenheit gefunden, ihr Befehle zu erteilen, – so muß er notwendigerweise zu Ihrem Bekanntenkreis gehören. Besinnen Sie sich genau, Herr Major, ich werde Ihnen noch einmal ein genaues Bild seiner Person geben . . .« und er schilderte den Mörder, wie er ihn heute nacht gesehen hatte. »Nun – erinnern Sie sich jetzt, Herr Major?«

»Nein! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich einen Mann, der Ihrer Beschreibung entspricht, weder kenne noch je gesehen habe!«

Hempel blickte lange stumm vor sich hin. Er zweifelte keinen Augenblick, daß der Major die Wahrheit sprach. Aber dann? Wie war es zu erklären? Stimmte doch etwas nicht in seinen Annahmen?

 


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