Annie Hruschka
Der Feind aus dem Dunkel
Annie Hruschka

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XXIII.

Das Schubfach schien nicht zu enthalten, was man suchte. Es wurde zugeschoben, und der Eindringling machte sich an ein anderes. Seine Finger wurden immer nervöser, sein Gesicht, das Hempel jetzt genau sehen konnte, immer unzufriedener. Zuletzt hob er alle Fächer heraus auf den Boden und suchte in den leergewordenen Räumen dahinter offenbar nach einem Geheimfach.

Dabei nahm sein Gesicht nach einer Weile plötzlich einen triumphierenden Ausdruck an. In dem Aufsatz, der drei kleine Fächer enthielt, tat es unter seiner tastenden Hand einen kurzen scharfen Ruck im Mittelfach, wodurch sich die Rückwand desselben nach vorne legte.

Gierig riß die Hand, die den Mechanismus des Geheimfachs in Bewegung gesetzt, an sich, was darin lag. Etwas klirrte dabei leise auf. Hempel konnte nicht genau sehen, was es war, aber er sah, wie der Mann einen kleinen Metallgegenstand, der in den Messingständer der elektrischen Kipplampe gefallen war, hastig aufgriff und nebst einigen Papieren oder Briefen, die sich gleichfalls in dem Geheimfach befunden hatten, in seine Rocktasche schob.

Einen Augenblick stand er noch überlegend, dann schaltete er das Licht in der Kipplampe aus und wandte sich, eine Taschenlampe in der Hand, zum Gehen.

Indes hatte Silas zuvor schon überlegt, daß der Mann bei der herrschenden Finsternis ihm trotz aller Vorsicht dennoch entkommen könnte. Kaum hatte dieser die gefundenen Dinge in die Tasche gesteckt, war Silas daher blitzschnell an den Lichtschalter an der Eingangstür geglitten und hatte das Licht im Vorraum eingeschaltet.

Nun wartete er, den Revolver in der Hand, das Auge auf die Zimmertür gerichtet. . . .

Eine Minute später wurde diese geöffnet und der Mörder – blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, geblendet, verwirrt, bestürzt über das Licht, auf das er nicht gefaßt gewesen. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, den er zögerte, aber er genügte, um Hempel ruhig sagen zu lassen: »Hände hoch!«

Ein Ruck ging durch den Körper des Angeredeten, ein Blitz, scharf wie ein Dolch, zuckte aus seinen hellen Augen, dann hatte er die Situation erfaßt, und im selben Augenblick warf er sich, blitzschnell sich bückend, von unten herauf auf Hempel, ihm durch einen heftigen Stoß gegen den rechten Arm den Revolver aus der Hand schleudernd. Durch den Anprall kamen beide zu Fall. Der Mörder, der Kraft und Gewandtheit besaß, suchte sich loszureißen. Hempel, der eiserne Muskeln hatte, hielt ihn fest, entwand ihm den gezogenen Revolver und warf diesen weg. Sie rollten ringend der offenstehenden Außentür zu, wo es dem Mörder gelang, den Kopf des Detektivs so heftig an den Türstock zu stoßen, daß es Silas einen Augenblick lang schwarz vor den Augen wurde.

Dieser Augenblick, wo seine Muskeln unwillkürlich nachließen, genügte dem andern, sich loszumachen, aufzuspringen und die Flucht zu ergreifen – aber er genügte auch Hempel, um zu begreifen, was auf dem Spiele stand. Mit übermenschlicher Anstrengung schüttelte er die halbe Betäubung, die ihn überkommen wollte, ab und sprang, während der andere zur Eingangstür hinaus eilte, auf und rannte ihm nach gegen die Treppe, über die er ihn entflohen glaubte.

Das war Hempels Verhängnis. Denn der Mörder war noch gar nicht auf der Treppe, sondern außerhalb der Wohnungstür stehen geblieben. Als Silas im Dunkel des Stiegenhauses die erste Treppenstufe erreicht hatte, bekam er von rückwärts einen Stoß, daß er kopfüber die Treppe hinabstürzte. Der an ihm vorüberhuschende Schritt des fliehenden Mörders war der letzte bewußte Eindruck, den er hatte. Dann vergingen ihm die Sinne.

Silas erwachte erst viele Stunden später, als das kalte Grau der ersten Morgenstunden bereits das Treppenhaus mit ungewissem Dämmerlicht erfüllte. Und dieses Grau unbestimmt aufdämmernder Gedanken erfüllte auch seinen heftig schmerzenden Kopf, als er sich zu besinnen suchte, was mit ihm geschehen sei, bis es dann plötzlich wie ein Vorhang vor ihm zerriß und alles klar dalag vor seinem geistigen Auge.

Eine wahnsinnige Aufregung bemächtigte sich Hempels, als er begriff: Du hast den Mörder heute nacht in Händen gehabt, und er ist trotzdem entkommen!

Wie war es möglich gewesen? Er war doch weder schwächer, noch weniger gewandt und dazu im Vorteil gewesen, indem der andere überrascht wurde. Und dennoch . . .?

Er grübelte, wo der Fehler gelegen hatte, und kam zur Erkenntnis, daß er zwar alles tat, was die Umstände geboten, der Mörder ihm aber in List und Geistesgegenwart über war. Und das war schließlich begreiflich, wenn man bedachte, daß es für den Mörder um Tod oder Leben ging. Da holt einer die letzten Möglichkeiten aus sich heraus . . .

Trotzdem wäre alles anders gekommen, wenn Rosner mitgeholfen hätte. Hätte er nur eine Sekunde den Mörder aufgehalten, – – –

Wo war Rosner geblieben? Diese Frage, jetzt zum erstenmal auftauchend, beunruhigte Silas ernstlich. Wenn der alte Mann den Fliehenden vielleicht unten hätte aufhalten wollen und dabei von diesem getötet worden wäre?

Die Vorstellung erregte den Detektiv so heftig, daß er mit einem Ruck in die Höhe fuhr – allerdings nur, um mit einem Wehlaut wieder zurückzusinken. Denn ein Gefühl, als wären alle Knochen im Leib gebrochen, verursachte ihm furchtbare Schmerzen. Er erschrak. Sollte er beim Sturz über die Treppe wirklich etwas gebrochen haben? Das könnte ihm jetzt gerade passen. . . .

Alle Willenskraft zusammennehmend, versuchte er, sich ans Stiegengeländer anklammernd, noch einmal langsam aufzustehen und kam wirklich glücklich auf die Beine . . . allerdings unter Schmerzen, die sehr heftig waren.

Immerhin – gebrochen schien nichts. Er konnte Beine und Arme halbwegs bewegen, auch mühsam ein paar Schritte vorwärts machen. Es schien sich also gottlob nur um Quetschungen zu handeln, die ihm die kantigen Treppenstufen beibrachten. Der Kopf brummte ihm wie bei einem schweren Kater, und ein Gefühl ungewöhnlicher Schwäche ließ ihn hin und her schwanken, daß er sich der Mauer als Stütze bedienen mußte.

Aber das würde wohl vergehen. Wenn nur Rosner nichts geschehen war. . . .

Langsam tastete Silas sich an der Wand hin nach der Wohnungstür des Hauswarts. Diese stand noch angelehnt, wie er selbst sie gelassen hatte, als er nachts heraustrat. Von Rosner war außen im Flur nichts zu sehen. Silas öffnete die Tür und durchschritt den ersten kleinen Raum, den der Hauswart als Küche benützte. Er öffnete die zweite Tür, zum Zimmer, und hier bot sich ihm ein so unerwarteter Anblick, daß Silas ganz verdutzt am Türrahmen lehnend stehen blieb: Rosner lag ruhig schlafend im Bett, genau so, wie er ihn verlassen hatte!

Hätte sich Hempel nicht durch die erlittene Niederlage und die Schmerzen in so grimmiger Stimmung befunden, er würde laut aufgelacht haben.

Da war der Mörder im Haus gewesen, er hatte mit ihm gekämpft und sich an der verdammten Treppe halb tot gefallen – und Rosner hatte von all dem nichts gemerkt, sondern ruhig weitergeschlafen!

Da es aber Silas heute gar nicht nach Lachen war, so humpelte er nun durchs Zimmer auf Rosner zu und rüttelte ihn unsanft wach.

»Warum sind Sie mir nicht nachgekommen, Herr Rosner? Dazu habe ich Sie doch geweckt!«

Der alte Mann starrte ihn blöde an.

»Sie . . . mich geweckt? Davon weiß ich nichts . . .« stammelte er noch schlaftrunken. Aber dann sich rasch ermunternd rief er erschrocken: »Um's Himmels willen, wie sehen Sie denn aus, Herr Hempel? Was ist geschehen? Wer hat Sie so schrecklich zugerichtet?«

Der Detektiv warf einen Blick nach dem Spiegel. Ja, er sah wirklich jämmerlich aus! Am Kopf, den ihm der Mörder so heftig an den Türstock geschmettert hatte, wuchs eine große Beule, das bleiche Gesicht war von geronnenem Blut überkrustet, ebenso die Kleider, die vielfach zerrissen waren. Offenbar hatte er durch den Treppensturz Nasenbluten bekommen, ohne es zu wissen.

Rosner war aus dem Bett gesprungen und kleidete sich bereits hastig an.

»Aber so erzählen Sie doch, was geschehen ist, Herr Hempel?« fragte er abermals.

Silas zuckte ärgerlich die Achseln.

»Was soll geschehen sein? Der Mörder war oben und hat diesmal gefunden, was er suchte. Ich konnte allein nicht mit ihm fertig werden, so ist er entkommen. Wären Sie mir nachgekommen, säße er jetzt schon hinter Schloß und Riegel.«

Hempel sagte es mit mürrischer Verbissenheit, denn zu allen andern Schmerzen fing jetzt auch sein kranker Zahn wieder zu toben an. Mutlos sank er auf den Rand von Rosners Bett.

Rosner war außer sich über das Gehörte. Er hatte wirklich nicht gemerkt, daß er geweckt worden war, hatte Hempels Rütteln für einen Traum gehalten und danach ruhig und tief weitergeschlafen. Und nun war der Mörder entkommen durch seine Schuld! Er erging sich in wortreichen Entschuldigungen, die Silas kurz mit den Worten abschnitt: »Es nützt jetzt nichts, weiter darüber zu reden. Geben Sie mir lieber etwas Kräftiges zu trinken, damit ich die verdammte Schwäche los werde und wieder auf die Beine komme, denn es gibt eine Menge zu tun.«

Rosner brachte Rotwein und sprudelte Eier in Kognak, während sich Silas die schmerzenden Glieder massierte. Der Alkohol tat Wunder. Die Schwäche verlor sich und die Gliederschmerzen ließen nach, nachdem Rosner die schmerzenden Stellen mit Franzbranntwein eingerieben.

Hempel wusch sich und wechselte die Kleider.

»So,« sagte er dann befriedigt, »nun fühle ich mich wieder halbwegs als Mensch, wenngleich der infame Zahnschmerz nicht nachlassen will.«

»So gehen Sie doch zuallererst endlich mal zum Zahnarzt, Herr Hempel, und lassen Sie sich wenigstens den Nerv töten!«

»Geht nicht. Vorderhand habe ich noch viel Wichtigeres zu tun. Wenn ich damit fertig bin, lasse ich mir den Zahn einfach ziehen.«

 


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