Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVIII. Kapitel.

Die Königin lief beflügelten Schrittes durch die dunkle Fichtenallee im Park von Charlottenburg. Sie war wie außer sich vor freudiger Erregung. Auf ihren Wangen lag trügerisch die Röte blühender Gesundheit, ihre blassen Hände bebten, ihr Atem flog.

Sie mußte es dem Park erzählen, was ihr der König, ihr goldiger, einziger Fritz geschenkt:

Die tausendmal ersehnte Reise, heim nach Hohenzieritz!

.

Das Glück der Gewährung wollte ihr fast die Brust zersprengen. Sie mußte es dem Vater mitteilen, daß sie kommen durfte.

Während sie mit zitternden Händen Papier aus der Mappe nahm, unter Kielfedern wählte, stieß sie die Streusandbüchse um, bekam vom schnellen Eintauchen einen Tintenfinger, mußte lachen, sie war ja rein verdreht, wie einst die kleine Luvitze in Darmstadt. Und jener Heimat und der Großmutter gedenkend, verfiel sie in den alten Dialekt, der sich in hemmungsloser Schreibweise ausdrückte:

»Bester Päp, ich bin tull und varucky. Im Augenblick hat mir der gute König die Erlaubnis gegeben, zu Ihnen zu kommen, bester Vater. Ich bin ganz Toll, noch ein mahl ich komme. Den Montag komme ich – ohne Sang und Klang, nur als ergebene Tochter möcht' ich empfangen werden –«

Sie siegelte den Brief, ließ, in der Eile Lack auf die Hand tropfen, merkte es kaum. Alles an ihr bebte und fieberte vor Glück. Nur ein Tag trennte sie noch von der Abreise. Sie strahlte in Heiterkeit bei dem großen Tee im Charlottenburger Schloß. Ihr war's, als liebte sie alle Menschen, und es fiel ihr ein, sie möchte jedem etwas schenken. Sie entfernte sich, eilte in ihre Privatgemächer, kam aus Gewohnheit in ihr früheres Schlafzimmer, das sie doch nicht mehr betreten, seit Napoleon es benützt hatte. Sie hastete von dieser bösen Erinnerung fort, ging suchend zu ihren Schränken, und raffte eine Menge kleiner Gebrauchsgegenstände zusammen, Spitzentücher, Miniaturen, Bücher. Die Gäste wurden betreten, als die Königin diese Dinge wie Erinnerungsgegenstände austeilte. Doch sie war so heiter und strahlend, daß man die auffällige Handlungsweise bald nur als gute Laune nahm. Nach dem Tee ging Luise noch mit dem ganzen Hof auf der Schloßterrasse hin und her. Sie trug schon ihren neuen Reisestrohhut, und der König flüsterte ihr zu, er kleide sie allerliebst, und nie sei sie schöner gewesen als heute. Dies zu hören, tat wohl. Der Spiegel hatte ihr in den letzten Zeiten zu oft erschreckenden Verfall, eingesunkene Wangen, matte Augen, eine kranke Blässe gezeigt. Wie gut, wenn sich Vater, Großmutter, Geschwister bei ihrem Anblick nicht erschraken.

Aufbruch! Aufbruch! Süßes Wort!

Luise schlief kaum in der Nacht. Es war ihr wie in Kindertagen, wo man ein Fest, eine Reise nicht mehr erwarten kann. Als der Morgen graute, lief sie von Bett zu Bett der Kinder, kuschelte ihr Gesicht an die heißen Wangen der Schläfer, streichelte Blondhaar, sagte hundertmal Lebewohl.

Der König wollte ihr nachfahren, ihr die erste Wiedersehensfreude allein überlassen.

So verließ sie Charlottenburg.

Die Räder mahlten durch märkischen Sand. Eine sengende Hitze herrschte. Sie Sonne strahlte aus endloser Bläue. Und Luise dachte auf dieser glückseligen Fahrt wie ferner, banger Träume der furchtbaren Straßen, die sie nach dem Schicksalstag von Jena und Auerstädt gezogen war – in der besinnungslosen Angst, sie würde weitergetrieben werden über die preußische Grenze.

Die preußische Grenze? Schlagbäume und Zollbeamte kündeten an, daß man sie jetzt überschritt!

Luise erblaßte, legte die Hand auf das rascher pochende Herz. Warum quälte sie das Erinnern?

Sie ging doch ins Vaterhaus! –

Sie kamen ihr entgegen: der Vater, Ika, George. Sie holten sie festlich-triumphierend ein.

Und am Schloßportal von Neu-Strelitz stand als Überraschung Frau von Berg neben der Großmutter. Daß es sie noch gibt, großer Gott, daß sie noch lebt! Luise umfing die teure, ach, so hinfällige Gestalt, sah die ganze Tragödie hohen Alters in den rührend und entsagungsvoll gewordenen Zügen, stammelte »Mutter, Mutter«. Warum weinte die alte Fürstin? Sie war vorbereitet von George und Ika, daß Luise krank aussähe, eine Badekur nötig habe – – Dem Leben der alten Fürstin waren viele Gesichter, die sie im Glanze von Jugend gekannt, erblaßt und versunken. Sie täuschte nichts mehr. Was sie da sah, war der Ausdruck von Luisens Mutter vor ihrem frühen Tod.

»Großmäme,« bettelte Luise im alten Pfälzer Dialekt, »ich komme ohne meine Kinder, ich bild' mir ein, ich bin selber noch ein Kind, und Ika und George und ich machen der Großmäme recht viel zu schaffen. Ganz klein will ich bei euch sein, rasend toll vor Freude bin ich. Nur die Rätin Goethe können wir nicht mehr besuchen.«

Die alte Fürstin sagte rasch: »Dann eßt ihr bei mir Specksalat und Eierkuchen. Aber du bekommst noch etwas anderes von Goethes. Doch das gibt dir George, ich darf es nicht verraten.«

Der Erbprinz entschleierte sein Geheimnis bald. Am nächsten Tag, nach der Hoftafel, bat er die Schwestern, ihm durch den Park nach der Koppel zu folgen. Sie gingen, am schon gedeckten Teetisch unter den Eichen vorbei, über eine weite Rasenfläche zu einem höher gelegenen Gartenhaus. Der Prinz schleppte Kissen heran, und man lagerte auf der besonnten, flachen Steintreppe. George hob mit feierlicher Stimme an:

»Luise, ich bringe dir Goethes Faust.«

Rot färbte Luisens Wangen. Sie war beglückt, daß der Bruder ihr ein Verständnis für diese so lange von Deutschland erwartete Dichtung zutraute.

»Lies, lies, mein George.«

Und der Erbprinz begann die »Zueignung«.

»Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten –

*

Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb' und Freundschaft mit herauf.«

*

Was ich besitze, seh' ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten –«

Sie hörte zu, überflutet von Wehmut, die überging in Erwartung. Schauernd vernahm sie Fausts Ringen, seinen Entschluß zum freien Tod – die Wendung im Klang der Osterglocken.

Der Prinz, sich überstürzend, las weiter, las den Osterspaziergang:

»O glücklich, wer noch hoffen kann,
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen.
Doch laß uns dieser Stunde schönes Gut
Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern!
Betrachte, wie in Abendsonne-Glut
Die grün umgebnen Hütten schimmern.
Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt,
Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.
O daß kein Flügel mich vom Boden hebt,
Ihr nach und immer nach zu streben!
Ich säh' im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füßen,
Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal,
Den Silberbach in goldne Ströme fließen.
Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf
Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten,
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.
Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken;
Allein der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.
Ein schöner Traum, indessen sie entweicht.
Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.
Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.«

Der Prinz ließ das Buch sinken. Er sah in Luises Augen. Sie waren in ihrem dunkelsten Blau, in einer Seligkeit, die dem Schmerz verwandt scheint.

»Das ist – Deutschland!« sagte sie atemlos. »Alles, alles liegt darin, was wir lieben. Die Hügel, die Täler, die Wälder, und die Wandervögel und das Herz unserer Heimat. Daß ich erlebe, dies zu hören! Es wird der ewige Ausdruck Germaniens sein. Es ist so namenlos schön. Es sagt, was unsere Sehnsucht und unser Besitz ist. Ich bin glücklich, ich erlebe das Lied Germaniens. Mein George, heute nicht weiter, lies das letzte noch einmal!«

Sie saß vorgebeugt, wiederholte in einem singenden, fragenden Ton:

»Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht?«

Ika wurde sonderbar angerührt. War das große Buch zu schwer für Luise? Sie saß so versonnen, als dächte sie angestrengt. Man mußte sie schonen.

Ika hob die Hand, zeigte zu dem fernen Teetisch jenseits des Rasengeländes.

»Großmama wartet schon auf uns.«

»Müssen wir gehen? George, wie kann ich dir danken?«

Ika lächelte: »Wir müssen nicht gehen, großmächtige Königin, aber wir können tanzen! Dies ist eine Wiese wie einst auf der Reise nach Frankfurt. Laß uns zu der Großmutter herantanzen, es wird sie erfreuen.«

Und sie breitete Luise die Arme entgegen.

Flieg, meine weiße Taube, flieg!«

In Luisens Seele flossen Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Ewige Worte klangen ihr nach, sie kam sich vor wie geführt, wie in einem Schweben. Das ging über in die unnennbare Lust der Bewegung. Und wie einst in holden, verklungenen Tagen tanzten die Schwestern miteinander hin über den Wiesengrund, der alten Frau zu.

Andern Tags kam der König. Luise war zärtlichstolz, ihn zum erstenmal im Hause des Vaters begrüßen zu können. Sie zeigte ihm alles, was zu zeigen war, und im Arbeitszimmer des Herzogs ging sie zum Schreibtisch. Sie ließ gern kleine, offene Briefe finden.

»Mein lieber Vater, ich bin heute sehr glücklich als Ihre Tochter und als die Frau des besten Gatten.

Neu-Strelitz, den 28. Juni 1810.

Luise.«

Man fuhr hinaus nach Hohenzieritz.

Die Königin schritt am Arme Friedrich Wilhelms die hohe Freitreppe hinauf, lächelte ihm zu: »Das Haus ist doch Paretz ein wenig ähnlich«, und bat, ob der König nicht länger mit ihr bleiben wolle als nur einen einzigen Tag. Er küßte ihre Hände und versprach nach seiner unbestimmten Art, es zu überlegen. –

 

Der Entschluß über diese Abreise war nicht mehr Sache des Königs.

Am 3. Juli nahm er, den dringende Geschäfte nach Berlin zurückriefen, von einer sehr Kranken Abschied. Luise, von einer Lungenentzündung befallen, die schwere, angstvolle Herzkrämpfe mit sich brachte, lag im Fieber.

Ach, sie war ja so oft krank gewesen, sie nahm es nicht schlimm. Sie scherzte wohl, daß sie den ihrigen »zur Last fiele«, und nahm das auch nicht schlimm. Wenn sie schon krank sein mußte, der gute König brauchte es dann nicht so zu sehen! Wenn sie schon krank sein mußte, wie lieb, daß es zu Hause war, in der Urheimat, bei Vater, Großmutter, den Geschwistern. Auch war ja die treue Freundin Berg da und die allwissende Voß.

Des Vaters Leibarzt Hieronymi behandelte sie. Er sagte, es sei eine etwas langwierige Angelegenheit. Er empfahl auch einen Zimmerwechsel, denn die Königin lag in einem engen, heißen Raum. Mit einigem höflichen Widerstreben, aber doch ganz gern, zog sie in das Schlafgemach ihres Vaters ein.

Beunruhigt war sie erst, als von Berlin die Nachricht kam, daß der König am Wechselfieber litt und ihr Hufeland nicht schicken konnte, denn er hatte zum König von Holland reisen müssen. Dafür sollte der berühmte Heim kommen. Ein neuer Arzt? Das war lästig, wenn man bei jedem Wort husten mußte, so schwer atmete, und doch dem neuen Arzt alles auseinandersetzen sollte. Ika und Frau von Berg versprachen, für sie zu sprechen.

»Schlaft ihr denn auch manchmal?« fragte Luise, denn es kam ihr vor, sie erblicke ihre Gestalten zu allen Stunden des Tages und der oft so schlaflosen Nächte. Sie ließ sich gern die Hände von beiden halten, das tat wohl und gab ein Gefühl von Sicherheit. Es war so wunderlich, da zu liegen, im Vaterhaus. Wenn der Husten nicht so fürchterlich quälte, wenn die Herzkrämpfe verebbten, war es sogar schön. Die große Stille tat wohl. Und man hörte draußen die Linden rauschen. Es roch so seltsam nach altem Holz und nach Heu. Und gewiß hatte Papa manchmal Äpfel im Zimmer; es roch auch danach.

Luise wußte nicht, wie krank sie war. Denn jeder glättete sein Gesicht, der zu ihr trat. Sie wußte nichts von den Konferenzen der Ärzte, die einander ihre Ohnmacht bekannten angesichts der tödlichen Schwäche der Königin, sie wußte nichts von den Tränen der ihrigen, nachts in Kissen verweint. Es gingen ja lauter Menschen bei ihr ein und aus, die ihr Leben an Höfen zubrachten und als erstes Gesetz die Beherrschung kannten. Sie wußten Besserung festzustellen, wo unerbittlicher Verfall seine Zeichen aufprägte. Sie wußten kleine heitere Geschichten zu erzählen, während ihnen das Herz zitterte. Und die Ärzte, der Frage der Kranken gewärtig, ob Gefahr sei, trugen längst »schickliche Beruhigungsworte« als fertige Rezepte bei sich.

So vergingen zwei Wochen.

Erstickungsanfälle hatten eingesetzt. Wenn diese unaussprechlichen Qualen wieder einer gewissen Ruhe Raum gaben, war Luise viel zu schwach, um etwas denken zu können. Die Großmutter beugte sich dann wohl über sie, und es war Luise, als sei sie noch die kleine Prinzeß und zu Hause in Darmstadt. Bis wieder jäh die Angst um den König, die Sorge um ihre Kinder sie weinen ließ. –

Die Fiebernde, mit unaussprechlicher Schwäche Ringende, wußte nicht, welchem dunklen Weg sie entgegenging. Doch in den Herzen ihrer Umgebung steigerte sich Ahnung zu verzweifelter Angst: dem Leben der Königin war ersichtlich das Ziel gesetzt. Sie, in der Preußen seine ideale Hoffnung sah, sie, die über all ihre Leiden sich erhoben hatte zu reiner Selbstlosigkeit und edelster Charakterstärke, mußte sterben. Mußte sterben, ehe ihr geliebtes Vaterland sich in neuer Kraft erheben konnte, ehe Preußen seine Freiheit wieder besaß.

Die Königin mußte sterben, weil ihr Herz zu viel erduldet hatte. –

Und es kam die Nacht, da niemand mehr schlief im Schloß zu Hohenzieritz als müde Lakaien. Die Ärzte waren bei der Königin. Aber sie fanden kaum noch ein Linderungsmittel gegen die furchtbaren Erstickungsanfälle.

Man wartete auf die Ankunft des Königs. Es war um dringende Eile gebeten, es bestand keine Hoffnung mehr.

Über der Julinacht standen die Gestirne der Erntezeit. Noch nicht hatte die Milchstraße die Scheitelhöhe des Himmels erreicht; dem Blick, der sie suchte, war es, als sei sie abgeglitten wie ein fallendes weißes Band.

Ika Solms starrte auf das Kreuz des Schwans, stammelte verwirrt: »Unser weißer Schwan zieht fort«, grub schmale spitze Nägel in die Handflächen und sandte ein Gebet zu den ewigen Mächten, an die sie sich sonst selten erinnerte. Es hieß: »Großer Gott, sie darf mich nicht fragen, ob ich noch das Versprechen von Alexandersbad weiß, zum Sterben bei ihr zu sein. Großer Gott, laß sie dies nicht sagen, sonst zerfließe ich. Das unermeßliche Elend, in solchen Qualen weiterzuleben, kann man ihr ja nicht wünschen.«

Ika strich mit dem Tuch über ihre heißen Augen, sie ging und legte Puder auf.

»Ich verliere meinen einzigen Halt, wenn sie geht«, wußte die kleine, verpielte Rokokoseele. »Ich versinke.« Ihre kindhaften Hände rangen in Verzweiflung, ihr Mund brannte wie eine Wunde. »Du kannst ja nachher endlos weinen«, sagte ihr zuckendes Herz. Und Ika Solms schritt der Türe zu, verwandelte sich, schickte sich an, den schon wie heiligen Raum, der die Schwester umfing, wieder zu betreten. Sie stieß im Korridor auf Bruder George.

Er lehnte an der Wand, mit dem einen Arm Halt suchend am Träger eines Windlichts, den andern sinnlos von sich gestreckt. So hing er wie ein Gekreuzigter, in körperlicher Verzweiflung.

»George, fasse dich!«

Der Bruder stürzte auf Ika zu: »Ich kann nicht hinein zu ihr – ich ertrage es nicht – aber ich horche hier – es ist so schauerlich – aber es ist doch der Laut des Lebens. Sage mir, daß alles nicht wahr ist –«

Sie sah in sein schmerzzerrissenes Gesicht, Erbarmen kam ihr.

»Alles bleibt wahr«, sagte sie feierlich.

»Aber sie – sie stirbt?«

Er hatte es ausgesprochen, was als Gespenst durch das Haus lief in der bangen Nacht.

Die Prinzessin zog den Erbprinzen zu einem alten, hohen Stuhl, drängte ihn, niederzusitzen. Er fiel wie ein Verwundeter gegen die Lehne. »George, ich rufe dich, später. Sei tapfer. Ich muß es auch sein.«

Sie strich ihm mit zarter, fraulicher Bewegung das wirre Haar aus der Stirn, küßte ihn, ging. Hinein zu Luise.

Und sie kam leichten Schritts, behend wie ein Eichkätzchen, kniete am Bett, streichelte Luisens schlaff herabhängende Hand: »Bald wird es Tag, Luise, und alles besser. Ich fühl' es so, zum Frühstück ist dein König da. Und er soll auch dicke Milch und Erdbeeren haben, nicht finden, er ist bei unaufmerksamen Verwandten.«

Luise war ein Augenblick der Erleichterung geschenkt, sie lächelte. –

.

Frau von Berg schlich sich weg vom Kopfende des Bettes. Sie war halbtot von der fürchterlichen Nacht. Es mußte um Sonnenaufgang sein. Dann konnte der Engel die Züge seiner Umgebung wieder deutlich sehen. Man mußte sich das Gesicht ein wenig erfrischen, es vor dem Spiegel besehen, mit Essenzen einreiben und schminken, damit der Engel sich nicht entsetze.

Sie schlich sich hinaus. Für sie starb der Stolz und das Angebetete ihres Lebens. Für sie starb nicht nur ein Mensch, für sie erlosch das Licht.

Sie kam in ihre Schlafkammer.

Da war die alte, alte Gräfin Voß.

In der Not ihres Herzens hatte sie sich verirrt, hantierte da in einem fremden Zimmer und fand nicht ihr Riechfläschchen, nicht ihren Melissengeist für die Augen. Sie zitterte und bebte vor Schwäche. Doch beim Anblick der Frau von Berg straffte sich ihr alter Rücken wieder:

»Sogleich, sogleich, ich suchte nur ein wenig Fassung!«

Und sie erhob sich mühselig von dem Putztisch, nahm wie eine Waffe ihre Hofdamenhaltung auf. Doch aus den Augen schossen die Tränen wie Wasserbäche. Frau von Berg nahm die alte Frau in ihre Arme. Die Voß stammelte: »Das Haus des Königs wird eine Wüste sein, wenn – – sie fort muß.«

Die Berg schluchzte: »Besser verlöre Preußen noch seine ältesten Provinzen als diese junge Königin, die Königin. Sie ist ja die Seele des Vaterlandes geworden.«

Die Voß sah aus dunklen, alten, wissenden Augen ins Leere.

Sanfter wurden die Schatten über dem Lande. In feierlich kühlem Licht erwachte die Erde.

Der alte Herzog von Mecklenburg ging, lässig in eine Pekesche gekleidet, auf den Stock gestützt, an der Freitreppe des Schlosses auf und ab. Er hatte die Morgenstunde zitternd erfleht. Nun war sie da. Und kein Trost mit ihr. Es ging ihr schlecht, die sein Kind war. Und er lebte, war gesund, würde die alten Glieder an der Sonne wärmen. Instinktiv wanderte er zu dem Platz am Kavalierhaus, den sie zuerst beschien.

Da sah er auf einer weißen Bank eine alte Frau. Sie hatte eine große Haube auf, in der verschwand fast das winzige Gesicht. Kinderklein gewordene, müde Hände lagen hilflos im müden Schoß.

»Frau Mutter.« Die alte Fürstin sah auf.

»Herr Sohn.«

Der Herzog beugte sich, nahm die welke Hand an seinen Mund. »Und ich bin immer noch da«, sagte gramvoll die alte Frau. Und ihre Augen, die den Aufgang des Ruhms Friedrichs des Großen gesehen, spiegelten letzte, tiefste Resignation.

»Ich bin immer noch da, und das Kind – die Königin –«

»Gott helfe uns allen!« begütigte der Herzog.

Und dann saßen sie nebeneinander. Trost lag in dieser Nähe. Aber sie wagten es nicht, die blicklosen, entfärbten Augen aufeinanderzurichten. –

Prinz George hatte sich bis vor Luisens Tür geschlichen. Da stand er, den verzerrten Körper an die Wand gelehnt, und horchte. Horchte auf die Töne, die ihm das Herz zerrissen, und die zu hören doch besser war als das angstaufpeitschende Schweigen.

Durch sein weltmännisches Herz rasten Versprechungen, Gelübde. Nicht zu dem Gott von Mecklenburg-Strelitz. Der war seiner Jugend fern. Er rief zu den wundertätigen Madonnen Italiens, deren Wallfahrtskirchen lächelnd sein Fuß gestreift. Er bot dem Himmel Jahre seines Lebens an, das Leben der angebeteten Schwester damit zu verlängern.

Lakaien rannten über den Korridor, schraken zurück vor dem Anblick Seiner Durchlaucht, rannten weiter. Geheimrat Heim wurde sichtbar, hinter ihm die Prinzessin Solms.

Sie ergriff Georges flatternde Hand.

»Der König ist angekommen. Heim wird ihn langsam vorbereiten –« Sie hielt entsetzt inne, ein jammernder Ruf kam aus Luisens Zimmer, verscholl.

»Sie ist bei Besinnung, wer weiß, wie lange noch. Sprich sie einen Augenblick allein, ehe der König zu ihr geht.«

Prinz George straffte seine Haltung, machte einen Schritt auf die Tür zu, langsam, automatisch.

»Sag' ihr ein brüderliches, ein erhebendes Wort. Du weißt Worte, die ihr wohltun.«

Der Erbprinz nickte, ging einen kurzen Weg – bäumte sich aufschluchzend zurück: »Ich – kann – nicht!«

Er raste wie ein Wahnsinniger den langen Flur hinab, über Treppen, erreichte eine Türe ins Freie, stürzte durch den Garten.

Die Sonne war aufgegangen. Sie hielt ihr ewiges Gleichmaß. Und der Prinz warf sich nieder auf ein Stück Wiese, barg sein Gesicht im Gras und schrie sein Leid der Erde zu.

 

Der Arzt stand vor dem König. Vor einem verzweifelten Mann. Vor Knaben, in deren Augen Entsetzen lag.

»Eure Majestät müssen Ihre Majestät um Dero letzte Wünsche fragen.«

Der König sah entsetzt auf. »Wie darf – ich sie so erschrecken?« Sein Gesicht war alt. »Sie stirbt, weil sie meine Frau ist –«

Der Arzt hob erneut an. Man könne doch nach Wünschen fragen. Ihro Majestät selbst habe bemerkt, sie müsse dem König noch von dem Freiherrn von Hardenberg reden. Sogar gestern, an ihrem schlimmsten Tag, zwischen Erstickungsanfällen, habe sie mehrmals hervorgebracht, ihr dringlicher Wunsch sei, daß der König und sein Staatskanzler miteinander ausharren sollten, bis der Tod sie trenne.

»Ihre Majestät fragte,« fuhr Heim fort, »ob Lebensgefahr für sie sei. Ich beruhigte sie auf die schicklichste Weise. Ich darf untertänigst Eurer Majestät den Wink geben, vielleicht in einer Frage um Rat Ihre Majestät auf das zu bringen, was Dero letzte Wünsche sind.«

Der Kronprinz und Prinz Wilhelm standen mit schneeblassen Gesichtern.

Der König taumelte an Luisens Tür.

Dann ging er, zum Äußersten entschlossen, in fester Haltung auf ihr Bett zu, umfaßte mit einem Blick das geliebte, ach, so veränderte Gesicht, und sank weinend über ihrer Hand auf die Knie.

Sie fragte ihn zärtlich nach Befinden und Reise.

»Es kann nicht Gottes Wille sein, uns zu trennen«, sagte er schluchzend. »Ich bin ja nur durch dich glücklich, und nur durch dich hat das Leben Reiz für mich. Du bist ja mein einziger Freund, zu dem ich Zutrauen habe –«

Sie antwortete laut: »Und Hardenberg. Vergiß Hardenberg nie.«

Der König stammelte fassungslos:

»Sollte Gott es aber anders gebieten, so nimm mich mit.«

Er erschrak vor seinen Worten, versuchte mit letzter Kraft ein Lächeln. Da beugte sie sich zu ihm herüber und küßte seinen Mund.

»Sprich nicht so, Fritz – dein Glück und die Erziehung der Kinder, das sind meine Wünsche. Bedaure mich nicht, – ach, sonst sterbe ich.«

Er raffte sich zusammen, bat, für eine Minute die Kinder holen zu dürfen. Dann wollten sie alle gehorsam warten, bis sie sie wieder rufen ließe, sobald ihr wohler sei.

Die beiden Prinzen kamen angstbebend herein. Ika half allen über den Augenblick hinweg. Sie sah, daß Luise mit Weinen kämpfte. Sie winkte dem König, er möge seiner Frau ganz nahe kommen.

Und Luise küßte mit fieberhaften Lippen den Mund des Verzweifelten.

Dann waren Ika und Frau von Berg wieder allein mit ihr.

»Der König kann sich hier bei uns gut erholen«, sagte Ika. »Wie groß sind deine Jungs. Ach, Luise, Jungs in Krankenzimmern, nein, das ist nichts.«

Die Königin wollte lächeln. Aber ihr Gesicht verzerrte sich.

»Luft, Luft!« keuchte sie.

Die Berg flog zur Türe. Die Ärzte eilten herbei. –

 

Luise kam noch einmal zu halber Besinnung, wußte: Ich kann nicht mehr – irgendwo, fern ist Paretz – den Tod für sein Vaterland starb Louis Ferdinand, Prinz von Preußen – einmal floh ich über die Kurische Nehrung – nun soll ich ganz fort – meine Kinder, der König – großer, barmherziger Gott, ich habe getan, was ich konnte, verzeih meiner Schwachheit – laß mich das Ende nicht mehr begreifen

Ihr Blick wurde dunkel.

»Luft, Luft«, rief der arme Mund.

Ikas kleine bebende Hand führte ein Tuch über die feuchte Stirn. Ika, Ika – nein, nichts mehr begreifen.

Luise fühlte, wieder wollte die fürchterliche, unsichtbare Macht nach ihrem Herzen fassen. Luisens dunkle Stimme formte das letzte Wort:

» Herr Jesus, mach' es kurz

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Und aus der Welt der Schatten herüber breitete sich ein mitleidiger grauer Schleier über ihre Stirne, über ihre Augen.

Von den Fenstern herein kam erster Lindenduft.

Die Bäume Germaniens erblühten im Sommerwind.

Die Königin war entschlafen.

.

 << zurück