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XVII. Kapitel.

Am Markt zu Naumburg, im hohen Ständehaus mit seinen winkligen, düsteren Treppen, nahm das Königspaar Wohnung. Die stille, wunderliche Stadt der hochgegiebelten Häuser war in das Hauptquartier verwandelt. Mit Pracht und Glanz zogen die Oberbefehlshaber ein, der Fürst Hohenlohe, der Herzog von Braunschweig. Marchese Lucchesini, Minister Graf Haugwitz, Geheimer Kabinettsrat Lombard etablierten sich. Herr von Lombard fand das Städtchen recht niedlich, nun würde man also ein bißchen sächseln, es sich »kemiedlich« machen, alte, schöne kursächsische Sitten aus der Zeit weiland August des Starken neu beleben! Die Mächens in Naumburg schienen anziehend und hübsch, die Gattinnen desgleichen.

Seine Majestät hatten einen Kurier an Napoleon gesandt, mit nochmaliger offener Friedenstür, denn die Generale brauchten noch Frist! Es waren auch verteufelte Wege und Passagen hierzulande. Bis all die Gepäck- und Fouragewagen eintrafen, verging noch Zeit. Am 8. Oktober mußte ein kaiserlicher Bescheid da sein. Kam er nicht, dann würde man den Feind suchen.

Und Herr von Lombard machte es sich »kemiedlich«. Der Herr Graf Haugwitz war auch nicht gegen ein Spielchen, eine kleine intime Assemblée. Empfing man doch auch bei Hof Gäste. Der Herzog von Weimar, die Kurprinzessin von Hessen und die Großfürstin Marie Paulowna erfreuten durch ihre Gegenwart. Herr von Lucchesini war mit hundert Anekdoten aus Paris eingetroffen. Zu nett, was man da alles hörte. Man wohnte so nahe zusammen in dem kleinen Ort. Die reine vie champêtre. Ein Theater, ein Lustspiel. Seine Majestät hielten immerzu Kriegsrat mit den Generalen. Man war sich nicht recht einig, wo eigentlich der Feind stand. Nun, das ging Herrn von Lombard, Gott sei Dank, nichts an. Die Diplomatie war sozusagen auf Ferien. Den Krieg mußte Seine Majestät wirklich alleene machen. Die Diplomatie hat erst die Siege auszuwirken.

Ihro Majestät fuhren manchmal durch das Städtchen. Im weißen Kleid, den Hut mit Kornblumen geschmückt. Tout le monde adorierte sie natürlich. Herr von Lombard fuhr nun auch durch das Städtchen. Im goldgestickten Rock, in elegantester Aufmachung, die Lorgnette in zierlicher Hand. Er ließ manchmal halten, winkte leutselig einen Eingeborenen heran und plauderte. Putzige Namen hatten die Leute zu Naumburg. Herr von Lombard mußte gar herzlich lachen, als er auf einem Schild das Wort Trillhase erblickte. Er befahl den Geschäftsinhaber an den Wagen, bestellte Champagner in sein Quartier.

»C'est la guerre, mein wertester Trillhase. Sagen Sie mir, wie finden Sie den Krieg? Sind Sie mit uns zufrieden?«

Der Bürger Trillhase sah auf das geputzte Affenmännchen im Wagen, der Bürger Trillhase dachte an die Flut von lachenden, scherzenden, weinseligen Offizieren, den Troß von Bedienten, Gepäckwagen und sagte:

»Da staunt der Laie.«

Lombard schlug sich entzückt aufs spitze Knie. Süperb. Ein Bonmot. Der gute Mann hatte sich wohl gedacht, im neunzehnten Jahrhundert zöge man bedürfnislos wie die Landsknechte, oder psalmensingend im Lederkoller, wie einst der Schwede, in den Krieg? Köstlich! Höchst amüsant. Herr von Lombard fuhr zu Lucchesinis Wohnung. Stimmengewirr und Gläserklingen kam aus einem geschmückten Gemach, wo die guten alten Freunde zärtlich beschäftigt mit schönen, geputzten Damen waren. Herr von Lombard stieß ein wieherndes Gelächter aus: »C'est la guerre, mes amis, nicht wahr, da staunt der Laie.«

Immer noch war man im Hauptquartier unentschlossen über den Kriegsplan. Friedrich Wilhelm, zu bescheiden, seine eigene Meinung durchzusetzen, ließ die alten Generale dominieren. Sie wollten entschiedene Angriffsbewegungen vor Ablauf der im Ultimatum gestellten Frist vermeiden. Sie hatten auch noch begründete Bedenken gegen ein Vorrücken, weil die sächsischen Truppen mit ihrer Mobilisierung nicht fertig waren. So vergingen Tage.

Sonne lag über dem Saaletal. An den grauen Berghängen leuchteten über der Muschelkalkformation die seltsamen roten Gebüsche, dieser Landschaft schönes Kennzeichen.

Die Königin fuhr durch den Herbstschein. In den Weinberghäuschen am steilen Hang war geschäftiges Leben. Singsang klang auf. Die wunderlich rührenden Stimmen der Thüringer Kinder, der Thüringer Jugend zogen wie in wehmütigen Engelstönen durch die klare Luft.

Klangen hier die Berge? Tönten die rotroten Hügel? Im Tale stiegen blaue Feuerchen auf. Der Rauch verbrannter Kartoffelkräuter mischte sich mit dem Duft des sterbenden Laubes.

Wunderliche Hügel, empfand Luise. Und dachte: »Seid ihr die Berge, von denen uns Hilfe kommt?«

Einmal, gegen Abend, ließ sie sich den Dom aufschließen, winkte dem Gefolge, zurückzubleiben, und schritt allein durch die dämmernde Halle.

Das Pathos der feierlichen Stille rührte an ihr Herz. Sie wußte nichts von der Geschichte dieses Bauwerks, nur die Empfindung leitete sie, da war irgendeine Ähnlichkeit mit dem Dom von Speier, zu Hause, am Rhein – – Und so, des Rheins gedenkend, des alten, heiligen Stroms Germaniens, wurde ihr noch tiefer bewußt, warum man hier war, warum man Napoleon gegenübertreten mußte: Es galt die Verteidigung Germaniens.

Langsam schritt sie vorwärts, gegen die Mauerdoppeltüre der Apsis zu. Und plötzlich stockte ihr Fuß, ihr Blick weitete sich, ihre Augen wurden dunkel: der steinerne Pfosten zwischen beiden Türen war der Stamm des Kreuzes. Unter den beiden ausgespannten Armen des Heilands ging der Weg zum Sakrament des Altars.

Ihre hohe Gestalt wurde ganz klein. Beben durchrann sie. Vor ihrem Wege stand – das Kreuz? –

Neuer Kriegsrat war angesetzt, ging durch Tage und Nächte. Endlich beschloß man, die Hauptarmee näher an den Thüringer Wald heranzuschieben, denn es war Nachricht gekommen, Napoleon sei schon in Würzburg. Das Hauptquartier sollte nach Erfurt verlegt werden.

Banger Oktoberabend. Nun reisen wir wieder, dachte Luise. Reisen, reisen. Ihre Kammerfrauen packten, die Hofdamen waren voll Nervosität. Der König beriet mit Haugwitz, hatte sich eingeschlossen. Luise saß allein und schrieb an ihre Kinder. Flackernde Kerzen brannten. Der Raum lag wie gestreckt von sonderbaren Schatten. Plötzlich war die alte Kammerfrau im Saal.

»Seine Königliche Hoheit der Herr Prinz Louis Ferdinand lassen fragen, ob Ihre Majestät –«

Stürmisch erhob sich Luise. Sie dachte der gräßlichen Stunde in Charlottenburg, da sie ihn hatte abweisen müssen. Gottlob, sie konnte ihm das vergessen machen, er kam!

Wortlos reichte sie ihm beide Hände. Er schien ihr seltsam gealtert, mit scharfen Zügen, mit unstätem Blick.

»Woher kommen Sie, Louis –?« Der Prinz antwortete versonnen, schwer atmend: »Ich bin das Saaletal heraufgeritten, von Rudolstadt her. Und wäre Zeit, Königin Luise, so möcht' ich Ihnen wohl noch einmal etwas vorspielen. Da ist ein Stück, das ich so liebe: die ›Eroika‹ von Beethoven. Lassen Sie es sich später von einem andern spielen, zu anderer Stunde. Ich kann Sie nur einen Augenblick sprechen, ich muß zurückeilen zu meinen Truppen.«

Sie versuchte ein Lächeln, nahm Platz. »Sie bleiben immer ein Wunderlichster, Prinz Louis. Wir stehen vor dem Krieg – und Sie sprechen von Musik.«

»Tat ich das?« Er starrte sie an. »Ich mußte Sie noch einmal wiedersehen, Luise. Morgen, übermorgen können wir schon auf den Feind stoßen, und doch ist alles – zu spät. Ein Heer mit schwerfälligem Troß und uraltem Oberkommando. Nein, nein, nur für mich kommt alles zu spät –«

Ihre Hände glitten wie verwirrte Vögel über die weißen Wolken ihres Kleides. »Louis Ferdinand, in diesen Tagen sollten wir alle einander Mut zu bringen suchen.«

Er lächelte schwermütig, stand vorgebeugt, auf den Degen gestützt. Ein müder Reiter. Aber seine Stimme bekam wieder den alten, leidenschaftlichen Ton.

»Seien Sie wachsam, Königin Luise. Wer in den Kampf geht, darf sein Testament machen. Vertreten Sie mein Herz, wenn es nicht mehr schlägt. Hören Sie auf mich, der noch in die Augen Friedrichs des Einzigen geblickt hat: der Staat Friedrichs des Großen darf nicht untergehen. Sammeln Sie die Männer, die ihn retten können, um den König: Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Blücher, Yorck. Geben Sie mir Ihre geliebte Hand, Luise, – wohl, Sie haben es versprochen.«

Sie sah ihn mit verschleierten Augen an – sah ein Leidensgesicht, sah bitteren Entschluß. »Louis Ferdinand!« Ihre Stimme schwankte. Jäh stand der Augenblick vor ihrer Seele, da sie ihn zuerst erblickt: im Lager vor Mainz, im Abendschein, im Fackellicht, getragen von den Armen und dem Jubel der Soldaten. »Ihr Stern ging so wundervoll auf, Louis Ferdinand!«

Ein flüchtiges Leuchten verjüngte seine Augen. »War es doch, daß Sie mir einmal einen Herzschlag lang nahe gewesen sind, Luise?« Sie antwortete nicht. Trübe brannten die Kerzen. Sie fürchtete den Augenblick, in dem er gehen würde.

Der Prinz stand wie ein ganz Verlassener. Seine Stimme wurde schwebend, unwirklich:

»Ich fühle das Rauschen der großen Einsamkeit über mir, und einst, Süßeste, werden auch Sie es spüren. Dann gedenken Sie meiner. Ach, vielleicht ist es, daß Sie von einem glücklichen Land gehen. Dann aber sagen Sie es Ihren Kindern: unser Preußen, jede Landschaft errungen mit tausend Opfern, jede Lebensform auferbaut aus dem Geiste der Verantwortung, muß das Salz, das Hirn Germaniens werden und bleiben. Sie, deren Herz und Temperament in süddeutscher Wärme wurzelt, Sie, die Sie Preußen als eine teuerste Wahlheimat lieben, sind geschaffen, den deutschen Gedanken weiterzutragen.«

Er stand ihr plötzlich nahe. Und doch klangen jene Worte wie aus einer tiefen Ferne herüber und fast kühl:

»Ich werde dich nicht wiedersehen, sehr Geliebte. Dich gekannt zu haben, war schön. Der Schmerz, dich nicht ganz lieben zu dürfen, war mehr als Lust.«

Er stand plötzlich straff, zusammengerafft.

»Königin, leben Sie wohl. Für immer, leben Sie wohl!«

Fast schluchzend stammelte sie: »Sagen Sie mir ein mutvolleres Wort zum Abschied.«

Er lächelte schwermütig.

»Ich durfte Ihr Schutz in diesem Leben nicht sein, Luise. So befehle ich Sie dem Schutz des allmächtigen Gottes.«

Und er verschwand. Sie barg sich in Schweigen. –

 

Die Wagen rollten ab nach Erfurt. Luise war in mißmutiger Erregung. Wieder sollte sie durch die Straßen einer Stadt fahren und sich zeigen, freundlich lächeln, Einwohner beglücken, unaufhörlich Toilette machen.

»Was wir tun sollten, weiß ich sehr wohl, was wir tun werden, wissen nur die Götter«, sagte Scharnhorst. Es bezeichnete die lastende, wirre Unentschlossenheit der Befehlshaber. Lombard hatte einen »Aufruf zum Krieg« verfaßt und Friedrich von Gentz, den berühmten Publizisten, herbeigerufen, diesem Aufruf die letzte Form zu geben. Gentz bat um eine Unterredung mit der Königin. Sie fürchtete sich ein wenig davor. Sie war es ungewohnt, sich über Politik auszusprechen. Doch als ihr der elegante, jugendlich-einnehmende, geistreiche Mann gegenüberstand, wurde ihr die Erfahrung, daß ein an Verstand überlegener Partner hinreißen und den anderen Teil ermutigen kann.

Sie fühlte sich plötzlich verstanden, sie sprach klar und besonnen, sie konnte ihre Überzeugung ausdrücken, »daß die großen Rettungsmittel ganz allein in der engsten Vereinigung aller derer zu finden seien, die sich des deutschen Namens rühmen dürfen«.

Gentz horchte auf. »Sich des deutschen Namens rühmen dürfen«, das war ein Klang, lange nicht gehört.

Friedrich von Gentz hatte einen jungen Freund mit nach Erfurt gebracht. Dieser hübsche, kleine Wiener ging getreulich eine Stunde vorm Schloß auf und ab. Ihm war versprochen, daß Gentz ihm den Dom und die große Treppe zeigen wollte, die Faustens Gretchen bestiegen hat.

Aber der Herr von Gentz sprach auf dieser Treppe gar nichts Literarisches mit dem kleinen Dichter! Der Herr von Gentz sprang die Stufen hinauf, blieb flüchtig vor einem Gewirr grauer Sandsteingebilde stehen, sagte: »Sehen S', das ist Gotik – und der Dom, das ist ein Mischstil – aber ich habe etwas gesehen, nein, Franzel, so hab' ich die Königin nicht erwartet.«

»Ist sie gar so wunderschön, wie man hört?«

Herr von Gentz blieb stehen, sah wie ein Volksredner aus und ließ Worte sprudeln: »Sie ist ja ganz kostbar. Sie hat Bestimmtheit, Selbstverständlichkeit und Feuer, und besitzt eine Klugheit, die ich selbst bei einem Mann bewunderungswürdig fände. Und doch ist sie voll tiefen Gefühls, daß man keinen Augenblick ihre Weiblichkeit vergißt. Nicht ein Wort hat sie gesagt, das nicht in vollkommenstem Einklang mit dem Gegenstand der Besprechung war. Ich habe nie eine ähnliche Frau oder Fürstin gesehen. Sie ist voll Würde und Anmut. Sie ist entzückend und bedeutend.«

»Sie schwärmen ja, Herr von Gentz. Gehen wir alsdann in den Dom?«

Gentz winkte ab. »Ich mag jetzt keine hölzernen oder steinernen Heiligen sehen. Ich habe eine Königin gesehen, die man anbeten möchte.« – –

 

Wo steht Napoleon? Hundertmal wurde die Frage anders beantwortet. Kuriere, Meldereiter gingen aus und ein. Gerüchte, Widerlegungen, neue Botschaften schwirrten auf. Der General Davoust solle gegen Kösen vorrücken? Marschall Lannes im unteren Saaletale sein?

Wo aber steht Napoleon selbst?

Man wußte es nicht! Aber plötzlich, als sich Nachrichten über einen weit ausgreifenden Umgehungsmarsch der Franzosen häuften, wurde der Entschluß gefaßt, die Hauptarmee gegen Weimar zu schieben, während ein Korps der Hohenloheschen Truppen, dessen Avantgarde Louis Ferdinand befehligte, gegen Rudolstadt-Saalfeld verlegt wurde.

Zwei, drei Tage lang befuhren die königlichen Feldwagen entsetzliche Straßen über das gebirgige Land, bis endlich das Städtchen Blankenhain, einige Wegstunden von Weimar, als vorläufiges Quartier gewählt wurde. Es schien untunlich, noch weiter in das dämmernde Land hinein vorzurücken. Ein lastendes Gefühl der Unsicherheit breitete sich aus.

Die Truppen lagerten am Rande finsterer Nadelwälder, das Königspaar, der Stab und ein Teil der Offiziere bezogen Räume in Bürgerhäusern.

Der Herbststurm raste übers Land. Luise saß mit ihrer Hofdame Gräfin Tauentzien, dem Kammerherrn von Buch und dem Hofmarschall von Massow in der kalten, guten Stube einer aufgeschreckten Familie. Das Gepäck war nicht da, nicht zu ermitteln. Die Königin sehnte sich flehentlich nach der Wohltat frischer Wäsche, nach Leinwand, die ermatteten Glieder zu erfrischen. – Eine Frau brachte ein winziges Waschbecken – ein kleines Dienstmädchen kniete am gemauerten Ofen und blies mit vollen Backen in ein wenig Glut. Aber der Herbststurm trieb aus weiter Esse den Rauch ins Zimmer zurück. Lisinka Tauentzien trat an den Ofen, gab Befehle.

»Nu da, es wärden Krähen in die Asse ihre Nester gebaut haben«, meinte das Mädchen.

Wütend über eine neue beizende Rauchwolke, rief die Tauentzien: »Im Oktober bauen doch die Krähen keine Nester.«

»Nee, knädche Dam', im Frühjahre. Aber mer heizen hiere doch kewehnlich nie.«

Die Gräfin sandte einen Blick zur Decke und meldete der Königin: »Ihro Majestät, das Wappen von Sachsen-Weimar ist die einzige Herzerwärmung an diesem Ofen.«

Luise lächelte matt.

Wenn doch ein wenig Stille wäre, flehte ihr Herz. Aber der Wind heulte in gräßlichen Stößen, in eintönigem Marsch zogen Truppen durch die Gasse, über die Treppe des Hauses ging unablässig Säbelgeklirr. Türen schlugen auf und zu, Fenster klapperten im Wind.

»Kann denn jetzt – im Oktober – noch ein Gewitter sein?« Luise fuhr erblassend aus einer harten Sofaecke hoch. Sekundenlange Stille! Dann ein neues, heftiges Donnern. Buch stand bleich. Massow schlotterten die Knie. Luisens fragender Blick irrte von einem zum andern.

Da kreischte Lisinka Tauentziens Stimme auf: »Großer Gott, das sind Kanonen –«

Nach wenig Augenblicken war das Zimmer voll von Offizieren: Ihre Majestät mußte es erfahren, man befand sich sozusagen plötzlich mitten im Krieg. Franzosen zeigten sich in nächster Nähe des Ortes, von allen Seiten klang über die Wälder herüber der Donner der Kanonen. »Man fürchtet, der Feind ist im Anmarsch. Seine Majestät haben befohlen, in den Straßen der Stadt, in der ganzen Umgebung unaufhörlich Generalmarsch schlagen zu lassen, um von allen Seiten Truppen zum Schutze des Hauptquartiers herbeizurufen.«

»Wo ist der König?« Luises Stimme war schrill.

Ein hoher Offizier wich vor ihr zurück, senkte die Augen. »Seine Majestät werden hier sein, sobald die letzten Befehle gegeben sind.«

Vorm Fenster dröhnte der Generalmarsch auf – – Von den Wäldern herüber kam die unablässige dumpfe Welle des Kanonendonners.

 

»Fort, aus dieser Hölle fort!« rief Luise.

Die kleine Tauentzien lächelte flüchtig, und aus dem Lächeln wurde ein Schrei der Angst. – –

 

Eine Handbewegung des Königs scheuchte Menschen aus seiner Nähe. Friedrich Wilhelm stand an der Treppe des alten Hauses. Seine Hand umspannte ein hölzernes Eichhörnchen, das als Schmuck des Pfostens angebracht war. Seine Hand klammerte sich an den kleinen Zierat, um nicht zu zittern. Seine Majestät dachte nicht an den Donner der Kanonen, das war der Krieg, ihm nichts Fremdes. Seine Majestät dachte nicht an das Schreckliche, daß man bis zum Morgengrauen an diesem höllischen Orte bleiben mußte, verdammt in eine Nacht der Untätigkeit, umlauert, umzingelt vom Feinde. Friedrich Wilhelm dachte an einen Satz, den er im August, als überall noch Blumen blühten, zu Charlottenburg gesprochen:

»Ihre Majestät ist für Seine Königliche Hoheit den Prinzen Louis Ferdinand nicht zu sprechen.«

Auf der Stirn des Königs perlte Schweiß. Seine Hand ließ das hölzerne Eichhorn fahren, strich zitternd über feuchtes Haar. Hat – sie vielleicht den Satz aus Charlottenburg vergessen? Das – wäre gut. Der König gab sich einen Ruck. Die Decke war niedrig am Ausgang der alten Treppe, der König mußte sich bücken. Bücken auch unter einer Türe.

Der König trat ein. Er wollte niemand ansehen. Er wollte sagen: Die Avantgarde ist bei Saalfeld geschlagen. Rudolstadt ist in den Händen der Franzosen. Haben Verluste gehabt. Werden sie einbringen. Bitte, sich nicht erst schlafen zu legen. Werden in aller Frühe nach Weimar aufbrechen.

Aber ehe er seine Stimme gefestigt, war Luise neben ihm. Blaß, mit zuckenden Lippen, mit versteinten Augen:

»Was hast du? Großer Gott, was hast du erlebt?«

Friedrich Wilhelm antwortete leiernd, mit zerhackter Stimme: »Bei Saalfeld – starb den Heldentod für sein Vaterland – Louis Ferdinand, Prinz von Preußen –«

Er zuckte zusammen vor dem Ausbruch, der kommen mußte. Tödliche Stille weitete den Raum. Der König sah auf, starrte Luise an. Sie weinte – nicht. Sie sagte kein Wort. Sie brach plötzlich in die Knie. – –

 

Entsetzliche Nacht. Ununterbrochen erdröhnte der Generalmarsch. Fern – unbegriffen wo – hallte Kanonendonner. Wachtfeuer waren in den Gassen, waren gegen die finsteren Wälder zerstreut. Niemand wagte, sich niederzulegen. Gepeinigte, vor Nervosität frierende Gestalten liefen, standen umher.

Luise schleppte sich zu den Fenstern, starrte zum Oktoberhimmel auf. Zwischen Wolkenfetzen zeigte sich manchmal ein trüber Sternenschein.

Alarmrufe gellten durch die Gassen, ebbten wieder ab. Entsetzliche Nacht. Nahm sie kein Ende?

Die Königin irrte über den Flur des unbekannten Hauses. Nur um einen Augenblick keine Menschen sehen zu müssen. Es war ein altes, winkeliges Thüringer Haus. Kerzenstummel, auf Flaschen gesetzt, sparsam verteilt, warfen ärmliches Licht. Ihr Fuß glitt leise im weichen Schuh. Der Korridor hatte eine Wendung, verbreiterte sich. Luise stand an einem geländerumgebenen Schacht nach dem Erdgeschoß. Da unten kauerten erschöpfte Soldaten, Meldereiter wohl. Sie hörte: »Bis aufs Hemd haben sie ihn ausgezogen – die Hunde – die gottverdammten Hunde –« Eine andere Stimme raste auf: »Den Prinzen, den großen königlichen Mann – haben sie nackt – wie, wie Adam, den ersten Menschen –«

Die Königin entfloh den folternden Worten. Sie rannte, ein hoher weißer Schatten, über verbogene Dielen, an Flaschen vorbei, auf denen Kerzenstümpfchen ihr armseliges Licht gaben. Die Trommler schlugen ihre betäubenden Töne – die Treppe herauf stürzte ein junger Kornett, taumelte zurück, schrie: »Die weiße Frau«, verschwand.

Sie tastete nach einem Zimmer zurück, lehnte sich an den Türpfosten, schrak wieder hoch von dem marternden Aufheulen von Signalen. In ihrem Innern klang fern, geisterhaft eine nun erloschene, ach, für immer erloschene Stimme: »So befehle ich Sie dem Schutz des allmächtigen Gottes.«

Im Morgengrauen des elften Oktobers raste der Wagen der Königin, von Offizieren eskortiert, nach Weimar. Der König und die Generalität folgten. Unterwegs kam die Meldung, daß auch Naumburg in den Händen der Franzosen war.

Wo aber stand Napoleon?

Darüber rätselte man, von Stunde zu Stunde neue Pläne machend.

 

Der Kaiser der Franzosen befand sich in guter Laune. Alles ging vortrefflich. Das preußische Heer war umzingelt, es würde sein Austerlitz erleben. So ausgezeichneter Laune war der große Kaiser Napoleon, daß er sich niedersetzte, einen Brief an den König von Preußen zu schreiben. Vermutlich erreichte er den friedensseligen Mann der schönen, kriegslüsternen Luise erst nach seiner Niederlage. Aber der Brief konnte, etwa als Bulletin der großen Armee gegeben, seine Wirkung in Europa machen.

»Kaiserliches Lager, Gera, 12. Oktober 1806.

Mein Herr Bruder, ich habe den Brief Eurer Majestät vom 26. September erst am 7. Oktober erhalten. Sie hat mir auf den achten ein Stelldichein gegeben. Als galanter Ritter habe ich ihr Wort gehalten: ich stehe in der Mitte von Sachsen. Eure Majestät darf mir glauben, meine Streitkräfte sind derart, daß all ihre Kräfte meinen Sieg nicht lange aufhalten können. Aber warum so viel Blut vergießen? Zu welchem Zweck? Ich werde zu Eurer Majestät in derselben Art sprechen, wie zwei Tage vor der Schlacht bei Austerlitz zu Kaiser Alexander. Aber warum wollen wir unsere Untertanen auf die Schlachtbank führen? Eure Majestät steht heute unangetastet da und kann mit mir verhandeln. Sie wird, ehe ein Monat vergeht, in einer anderen Situation mit mir verhandeln.

Ich habe Eurer Majestät keinerlei wirkliche Ursache zum Krieg gegeben. Wenn sie in mir auch keinen Bundesgenossen mehr findet, so wird sie doch einen Mann finden, der nur Kriege führen wird, die für die Politik meiner Völker unumgänglich sind. Ich bitte Eure Majestät, in diesem Briefe nichts anderes als meinen Wunsch zu finden, das Blut der Menschen und einer Nation bittere Reue zu ersparen. Nunmehr bitte ich Gott, mein Herr Bruder, er möge Sie in eine heilige Obhut nehmen.

Eurer Majestät guter Bruder
Napoleon.«

Ein schöner Brief. So human. So edel. Er forderte vom Gegner nur die Streckung der Waffen. Sonst gar nichts. Er verlangte bloß, daß das preußische Heer, ehe es zum Entscheidungskampf gekommen, sich die Friedensbedingungen eines Siegers diktieren ließ. Aber das war doch verhüllt unter großmütigst klingenden Worten. Für Europa eine schöne Geste. Der Herr Bruder aber würde den Brief wohl kaum erhalten, ehe sein Austerlitz hereingebrochen war. –

 

Die Armee bewegte sich den Weg zurück, den man vor acht Tagen gekommen.

Luise fuhr dem König nach, wie er es wünschte. Ihre Damen, Voß, Vieregg und Tauentzien begleiteten sie. Es war auf zerfahrenen und teils gebirgigen Wegen eine auch körperliche Quälerei. Nebel lasteten über der Landschaft. Man fuhr schon in die Dämmerung hinein und in bangste Ungewißheit.

Da wurde plötzlich der Wagen angehalten. Luise sah den ihr so unsympathischen General Zastrow. Er schrie in fassungsloser Erregung der Königin zu, sie müsse umkehren, sie führe ja direkt in ein schon vom Feind besetztes Dorf hinein.

»Wo ist der König?« fragte Luise. Da sprengte der Herzog von Braunschweig herbei: »Um Gottes willen, was tun Ihre Majestät hier?« Sie antwortete in fiebernder Erregung: »Der König glaubt, daß ich nirgends sicher bin als im Rücken der Armee, da der Weg, den ich nach Berlin einschlagen sollte, nicht mehr sicher ist.« Die Hofdamen begannen zu schluchzen. Der greise Feldmarschall machte verzweifelte Gebärden, zeigte mit zitternder Hand in das nebelverhüllte Land hinaus.

»Aber mein Gott, sehen Majestät nicht das Schloß von Eckartsberga? Dort sind Franzosen, uns gegenüber, sie stehen auch in Naumburg, und morgen werden wir einen blutigen und entscheidenden Tag haben. Majestät können hier nicht bleiben, es ist ganz unmöglich.«

Luise, ratlos und gepeinigt, sagte, daß der König ihr Verhalten zu bestimmen habe. Man fand ihn endlich. Mit düsterer und sorgenvoller Miene trat er an den Wagenschlag heran, entschied, Luise solle nach Weimar zurückfahren und sich dort vom General Rüchel den Reiseweg nach Berlin sagen lassen.

Wagenwechsel wurde vorgenommen. Kürassiere wurden zur Bedeckung bestimmt. Nun kam der Abschied. Luise kämpfte mit Tränen. Sie wollte ihm, den sie nun verlassen mußte, sagen und zeigen, wie sehr ihr Herz bei ihm war. Doch sie wußte, daß sie keine »Theaterszene« machen durfte. Friedrich Wilhelm drückte ihr wortlos die Hand. So schieden sie auf der Straße nach Auerstädt, auf ödem Feld, über dem die Nebel lagen, wirren Flugs die Krähen auftaumelten.


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