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XIV. Kapitel.

Die Königin hatte in einer Dezembernacht einem Sohn das Leben gegeben. Trotz all seiner Abneigung gegen die »Ferdinanderie« hielt es der König für eine Pflicht der Schicklichkeit, dem einzigen noch lebenden Bruder Friedrichs des Großen die Ehre der Patenschaft zu geben. Luise erholte sich langsam.

Am Tage der heiligen drei Könige klangen vom Dom die Totenglocken, Friedrich Wilhelms Mutter war abgeschieden. Die Totenglocken zum Gedächtnis für eine Frau, die ihren Gatten mit zwei Nebenfrauen und unzähligen Mätressen hatte teilen müssen, hallten durch die Mittagsstunden eisiger Januarwochen. Luise, noch schwach von der Entbindung her, traurig um den Kummer ihres Mannes, flehte manchmal mit gepeinigten Nerven, diese Totenglocken möchten endlich aufhören. Aber unerbittlich, unerbittlich durchschnitt ihr Ton Ohr und Herz. Kein Windtreiben milderte sie. Durch kalte, gläserne Stille schallte ihr Klagen. Luise zwang sich, beim Klang dieses Mittagsgeläutes ein Andachtsbuch zur Hand zu nehmen. Aber eine rätselhafte, peinigende innere Unruhe trieb sie von Zimmer zu Zimmer, in der Hoffnung, irgendwo höre man das Geläut nicht.

Waren diese Totenglocken im jungen Jahr nicht – eine böse Vorbedeutung? Sie schalt sich selbst. Hatte sie denn jemals an Ahnungen und schlimme Zeichen geglaubt? Die Königin-Mutter war eine alte Frau gewesen. Und die Großmama in Darmstadt, ach sie war ja gesund. Im Sommer gab es das Wiedersehen.

Luise eilte bis an die Schwelle der Tür des kleinen Ferdinand, hemmte dann den Fuß. Er schlief, er brauchte nicht zu erwachen, um die Glocken zu hören. Sie ging dem Unterrichtszimmer zu. Der Kronprinz machte ihr oft Sorge. Er entwickelte sich nicht ganz regelmäßig, hatte manchmal Fieber, und noch öfter einen herrischen Eigensinn.

Die Voß kam ihr entgegen. Sie erriet die Nervosität der Königin. »Frau von Berg hat französische und deutsche Gazetten für Ihro Majestät gesandt«, sagte sie, froh, eine Ablenkung zu wissen. Denn man lebte gar still, ohne jeden Wechsel, in trübseligem Einerlei.

Die Königin eilte in ihr Schreibzimmer, saß nieder, entfaltete die Blätter, fand farbige Anstriche an einzelnen Artikeln und las:

»Es gilt, das historische Recht zu bewahren gegen das Recht der Volkssouveränität, das den Plebejer auf den Thron Frankreichs gehoben hat. Die Anerkennung dieser Krone wird den Unersättlichen, der nur groß ist durch die Kleinheit seiner Knechte, zu neuen Übergriffen ermutigen. Es gilt, das historische Recht zu bewahren, und sei es mit dem Mittel des Krieges. Will das alte, heilige Reich den Becher der Schande bis zu Ende leeren? Auf dem Regensburger Reichstag hat Baden, schon Buonaparte hörig, inständig gebeten, die krasse Angelegenheit der Ermordung des Herzogs Enghien nicht weiter zu verfolgen. Die übrigen deutschen Gesandten, unfähig zu einem Protest, traten vor der Zeit ihren Urlaub an und entzogen sich durch feige Flucht der Verantwortung – .«

Luise starrte vor sich hin. –

Immer noch wimmerten über Berlin die Totenglocken vom Dom. Sie schauerte zusammen, las weiter.

»Die kleinen Reichsstände haben dem gekrönten Unhistorischen Glückwunschschreiben voll niedrigster Schmeichelei gesandt. Diese Seiner Majestät alleruntertänigste und allergehorsamste Diener erblicken in Bonaparte den Beschützer der deutschen Rechte, ergießen sich in Paroxismen der Freude über den neuen Cäsar, der dem ersten Kaiser, Karl dem Großen, so ähnlich sei.

In Aachen, in Mainz hat er seine prunkenden Hoftage gehalten. Die Fürsten des Südens und des Westens sind herbeigeeilt, dem Nachfolger Karls des Großen ihre Huldigungen darzubringen. Alles ergeht sich verzückt in karolingischen Erinnerungen. Schon bespricht man Pläne für einen zweiten, rheinischen Bund.

Was hat dieser Korse gemein mit dem alten, königlichen Bauersmanne der Germanen, der nachts die Reben des rheinischen Winzers segnet? Was weiß er von jenem Zauberring der Fastrade, der einst den deutschen Karl zum deutschen Strome zog?«

Sie weinte plötzlich. Sie hörte den Rhein rauschen. In ihrem Herzen rauschte der Rhein. Der Strom ihrer unvergeßlichen Jugend, der Strom Germaniens. Sie raffte die Blätter zusammen, durchmaß die Räume, eilte die schmale Wendeltreppe hinunter, die zu den Gemächern des Königs führte.

Der König saß über Akten gebeugt.

Sie fragte rasch: »Hast du gelesen, daß sie den – Parvenü in Paris jetzt als neuen Charlemagne feiern? Und dies bei uns – im Reich – am Rhein. Großer Gott – am Rhein!«

Friedrich Wilhelm unterbrach sie: »Echauffiere dich bitte nicht so, du vergißt, wir sind in guten Beziehungen zu der neuen französischen Regierung.«

Das wußte sie wohl. Und weil sie zu ungeschult war, ihren Bedenken eine sachliche Form zu geben, ging sie ins Persönliche über.

»Der Zar hat nach der Ermordung des Herzogs von Enghien mit Frankreich gebrochen. Er hat sich mit England verbündet. Alexander fühlt die Berufung, Europas Freiheit zu beschützen. Und du – du stehst nicht auf Alexanders Seite. Du hältst nicht zu unserem Freund?«

Eine Pause weitete den Raum. Alexanders Name stand zwischen den beiden als eine geliebte und gefürchtete Phantasie. Die Königin hatte die Finger schmal zusammengepreßt, sie wollte das Beben ihrer Hände bemeistern: Großer Gott, warum besaß sie nicht einmal, ach, einmal die Kraft, durch einen Gedanken fortzureißen – warum war sie verurteilt, immer nur durch Anmut zu siegen?

Der König strich sich den Uniformrock glatt.

»Ich habe für die Wohlfahrt und die friedliche Ruhe des preußischen Staates einzutreten. Nicht für die Menschenrechte und das Glück Europas. Würde – abdanken müssen, wenn ich die Aufgabe erfüllen sollte, alle Völker Europas glücklich zu machen.

Habe zu arbeiten«, schloß er ab und fügte mit einem schmalen Lächeln hinzu: »muß meiner Frau genügen, daß ich für den preußischen Staat arbeite. Laß die Politik. Wir reisen ja in einer Woche.«

Die Königin ging. Sie war doch schon so lange eine gehorsame Ehefrau geworden. Sie hatte so viel niedergekämpft. Wann kam endlich, daß sie alles recht machte? – –

Luise fuhr allein voraus ins Fichtelgebirge. Wie liebte sie dieses Land. Die weichen Buchenhügel, die verblauenden Fernen, den Glanz blühender Landschaften, die Wellen von Wald und Korn.

In Alexandersbad eilte ihr Ika entgegen. Luise wußte leider, daß ihre zweite Ehe vielleicht noch trauriger war als die erste: denn jetzt sah sich wirkliche, heftige Neigung enttäuscht. Doch Ika, reizender als je, sehr elegant, sehr große Dame, lief ihr wie eine Beseligte entgegen.

»Weil ich dich nur wieder habe, Luvitze, große Schwester, goldige Luis', Landesmutter, Engel von der Luisenburg, Beherrscherin der Kusine-Kösseine, Gnadenspenderin über diese fränkischen Täler und Berge, anmutigste Königin des Erdballs –«

»Fasse nur Atem, mein kleines Ikamädchen«, lachte Luise.

»Ich habe mich so maßlos auf dich gefreut«, rief Ika und breitete die Arme aus. Die Königin vergaß Ermüdung, vergaß ihre Hofchargen, vergaß, daß ein Ständchen ihrer wartete, und daß Jean Paul im Saal des alten Markgrafenschlosses bereit war, die »himmlischen Schwestern auf dem Throne« erneut zu feiern.

»Ich muß die Quelle begrüßen«, rief die Königin, durcheilte die Einfahrt, deren Tor auch nach rückwärts offen stand.

In unveränderter grüner Schwermut senkten sich die alten Alleen auf sanftem Gefälle des Bodens. Luise faßte die Schwester an der Hand. Ein Blick, ein Lächeln, und wie einst auf der Reise nach Frankfurt liefen sie miteinander, beseligt vom Rhythmus der Bewegung – dem Ziel entgegen. Die Quelle war einsam und verlassen. Luise saß am steingefaßten Rand nieder und ließ das Wasser durch ihre Hände rieseln.

»Ikakind, ist's nicht, als wären wir wieder zwei kleine Mädchen? Sag', werd' ich noch einmal wieder jung? Ich hab' das Land hier lieb, als wär' ich in Franken geboren.«

Die Prinzessin Solms lächelte ein wenig. »Wir brauchen noch nicht um verlorene Jugend zu seufzen. Frau Königin, immer noch seid Ihr die Schönste im ganzen Land.«

Luise sah in den Wasserspiegel. Der war grün verhangen von den alten, alten Bäumen.

»Und wenn ich einmal sterbe, Ika, dann bist du bei mir!« Ihre Stimme dunkelte.

Ika Solms kühles, mondänes Lächeln versank. Sie nahm Luises Hände, rieb sie mit dem Batisttüchlein trocken, streichelte darüber hin:

»Laß uns nur erst im Leben wieder mehr zusammen sein, du. Weißt du, wie in deinen teueren fränkischen Provinzen die Menschen zueinander sagen, wenn sie sich gut sind?

›Herzele, halt mich lieb‹, sagen sie.«

Sie faßte Luise unter. »Ich habe es sehr nötig, daß du mich liebhältst, ich bin wieder recht leichtsinnig gewesen, und da ich aber durchaus jetzt nicht sterben und untergehen möchte, so mußt du mich liebhalten.«

Sie hob den graziösen Fuß, lachte und wirbelte mit Luise um das alte Quellenrund.

 

Bei der Rückkehr nach Berlin fand Luise den König in verzweifelter Unruhe, nervös und rastlos.

Was war geschehen? Der König antwortete ihr ausweichend, es ginge um Hannover. Aber sie solle sich nicht in Politik mischen. Sie stand in Angst vor ihm: wie sah er aus, gealtert, unstät, ein Zerrbild seiner selbst. Sie legte ihre bebenden Hände auf seine Schultern: »Fritz, ich beschwöre dich, laß mich deine Sorgen teilen. Ich sage ja kein Wort dazu, wenn du dies nicht leiden kannst – aber laß mich doch wenigstens nicht wie eine Fremde neben deinem Kummer stehen.«

Sie bettelte, sie flehte. »Ich schäme mich, wenn ich, als deine Frau, immer andere fragen soll. Und ich will nicht die Meinung anderer hören, ehe ich weiß, was dich quält.«

Der König sah gepeinigt an ihr vorbei. Und endlich lösten sich Worte von seinen schmalen Lippen:

»Soll mich zur Unterstützung Frankreichs verpflichten, falls irgendeine Macht seinen Besitzstand in Italien angreifen wird. Soll dafür Hannover erhalten. Habe gleichzeitig Angebot des Zaren, mich Rüstungen gegen Frankreich anzuschließen. Der Zar will sich mit Pitt verbinden, mit England.

Der Zar verlangt die Erlaubnis zum Durchmarsch russischer Truppen, wenn er Napoleon den Krieg erklärt.«

Sie rief entflammt: »Du kannst keine Wahl haben. Dein Weg geht mit Alexander!«

Der König zuckte nervös zusammen. »Nicht unterbrechen, liebe das nicht!

Müßte russische Wünsche als Befehle nehmen. Anerkenne gewiß die geistige Überlegenheit des Zaren. Handelt sich aber nicht um mich, sondern um den Staat. Der preußische Staat wird nicht dem russischen Souverän Vasallendienste leisten.«

»Dies kann Alexander nicht von dir wollen!«

Sie sprach beschwörend, den Tränen nahe.

Der König erhob sich.

»Werde morgen Befehl geben, daß die Truppen zur Aufrechterhaltung der preußischen Neutralität auf Kriegsfuß gestellt werden. Muß und will neutral bleiben.«

Er winkte mit der Hand: »Habe zu arbeiten!«

Mobilmachung! In unerträgliche Spannung hinein plötzlich eine Tat!

Die alte Voß überschüttete die Königin mit Erzählungen. Ob Ihre Majestät nicht ausfahren wolle? Die ganze Stadt sei in Bewegung. Die Offiziere jubelten. Das Regiment Gensdarmes, das in den Augusttagen durch einen über alle Maßen widerwärtigen und lächerlichen Maskenzug zur Verspottung des Lutherschauspiels von Zacharias Werner sich hervorgetan, streue nun kein Salz mehr für künstliche Schlittenfahrten. Sie tobten andre Gefühle aus: Mobilmachung, Krieg, Chance.

Die Augen der alten Gräfin funkelten: »Gelobt sei Gott, Seine Majestät hat einen schönen Entschluß gefaßt. Zeigt der Welt, daß sich Preußen wehrt, für eine fremde Macht Vasallendienste zu tun. Hardenberg erwartet den russischen Gesandten Alopäus. Das soll ein großer Mann sein. Sie werden das Richtige zusammen beraten.«

 

Vor der Königin stand Unfaßliches: Preußen war bedroht, ein Werkzeug russischer Politik werden zu sollen, der Zar, der angebetete Zar verlangte – Vasallendienste vom König? Sie wußte nicht mehr: Galt ihr Gefühl noch einem Edelsten, noch einem Erlesensten der Menschheit – oder galt ihr Gefühl einem Phantom?

Sie eilte, gepeinigt von Unruhe und innerer Zerrissenheit, durch den Park von Charlottenburg. Da stieß sie an dem barocken Lusthaus auf eine sonderbare Gestalt. Der Reichsgraf von Medem stand da und zeichnete. Sein Silberstift brachte eine Skizze des seltsamen Gebäudes zu Papier.

»Medem, wie lange sah ich Sie nicht!« rief sie überrascht, und jener erste Abend in Frankfurt winkte aus ferner Vergangenheit. Der Graf war das zehnte oder elfte Mal im Park, er zeichnete die zehnte oder elfte Skizze dieses Gartenhauses; es geschah in der Hoffnung, einmal käme die Königin. Der Graf Medem machte sich selbst schon lange nichts mehr vor: er liebte die schöne Frau. Nicht als ein Begehrer. Er liebte sie als ein Kunstwerk der Natur, dem man noch den Adel einer großen Seele zuwünscht. »Woher kommen Sie?« fragte Luise, wartete kaum Antwort ab, forderte ihn auf, ins Schloß zu gehen.

Ein Lakai hatte Medem den kurzen Kragenmantel und seine Zeichenmappe abgenommen. Groß, schlank, meisterhaft umschneidert, nicht ganz ohne Eitelkeit, präsentierte sich der Kurländer in einem Frack von gedämpft violettem Tuch, olivgrünen Beinkleidern. Das schön gerundete Kinn entstieg einem steilen weißen Gebäude von Weste, Hemd, Halsbinde.

Die Königin lächelte, nahm Platz, schob den flaumleichten grünen, bis zum Knie reichenden Seidenmantel etwas von den Schultern zurück, zeigte auf einen Sessel für den Grafen.

Er war begeistert von ihrer Haltung, ihrer Kunst, sich zu kleiden. Die weiße Robe mit der leichten Silberstickerei an den Kanten des hauchdünnen Stoffes zeigte durch ihren weichen Fluß die Linien der schönen Gestalt. Das Schilfgrün des Mantels war eine sanfte Folie für ihre Helle.

Medem, in lässiger Grazie, die eine Hand spielerisch auf die Stuhllehne gelegt, mit der anderen den schmal und lang gefalteten Hut zwischen den Knien hängen lassend, starrte Luise bezaubert an.

»Sie waren so freundlich zu mir in Jugendtagen«, begann die Frau von neunundzwanzig Jahren. »Seien Sie es heute einmal wieder, Medem. Ich bin – sehr allein. Mein Bruder, mein Vater ist nicht hier. Auf dem König lasten tausend Geschäfte.« Sie brach ab, beugte die voll gewordene Gestalt, sah aus wie eine schmerzhafte Mutter:

»Können Sie mir begreiflich machen, wie dies alles kam? Überall brennt es, sagt meine Voß. Das sehe ich, das höre ich. Aber warum, warum plötzlich die Welt in den Flammen ewiger Unruhe steht, vermag ich nicht zu begreifen. Sardinien und Neapel haben nie etwas für uns getan, warum wirken ihre Unruhen nun zu uns herüber?«

Der Graf antwortete rasch: »Weil Österreich seine alten großen Interessen in Oberitalien hat, Eure Majestät. Es geht jetzt um einen gewaltigen Entscheidungskampf. Napoleon will eine Umgruppierung Europas. Und wenn Seine Majestät der König nicht abgeneigt ist, mit Napoleon Frieden zu halten, erschließt er sich wohl der Einsicht, daß er es mit einem ungeheuerlichen Machtfaktor zu tun hat, den zu brüskieren in diesem Augenblick vielleicht Wahnsinn wäre –«

Luise fragte mit fieberroten Lippen:

»Ich fasse es nicht. Wie kann ein Mensch, der kein Erbe, kein Land, keine mächtige Familie besaß, plötzlich die Staaten eines Erdteils erschüttern?

Ich verstehe die Ursache nicht. Ich sehe nur Europa in Aufruhr, ich sehe, daß alte, heilige Institutionen und Begriffe wanken, wie Häuser oder Berge es getan haben sollen, wenn ein Erdbeben war.«

Graf Medem sah die Hilflose an. Sie wußte wenig. Oder doch immer noch zu wenig. Er erklärte langsam:

»In die frühen Jahre Eurer Majestät fiel jenes Elementarereignis, das wohl mit einem Erdbeben nur schwach verglichen werden kann: die große Revolution. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind nicht Phrasen gewesen, sondern der Schrei nach den Menschenrechten. Die Revolution, obgleich entstellt durch das Hinschlachten unzähliger Opfer, hat den Ruf nach menschlicher Gerechtigkeit, die große Idee einer Erneuerung der Welt, über die Erde geworfen. Sie fragen, warum kann Buonaparte einen Erdteil in unerhörte Erschütterung versetzen? Es ist, weil er der Idee der Revolution Gestalt gibt. Denn er bringt Europa die Botschaft der Revolution, indem er handelt! Und wie dies wirkt, sehen Sie an der nervös-wechselvollen Stellung der Menschen zu ihm. Ich spreche nicht von den Erbärmlichen, die ihn umbetteln. Ich spreche von jenen, die sich dem Wissen nicht verschließen können, daß ein neues Jahrhundert neue Gesetze will, und daß Napoleon sich anschickt, diese Gesetze zu diktieren. Als ein Genie oder ein Dämon.«

Die Königin sprang auf. Mit fliegenden Schritten durchmaß sie den Raum. Sie wußte es plötzlich: ihr Mann, der König war nicht geschaffen, mit Dämonen zu ringen. Er hätte denn einen Heros von Freund zur Seite gehabt: Alexander.

 

Noch einmal brachte Friedrich Wilhelms Friedensliebe ein Kompromiß zustande. Hardenberg und Alopäus leiteten eine Verständigung mit dem Zaren ein. Während die französischen Armeen den Rhein überschritten, und Napoleon von Straßburg aus den diplomatischen und militärischen Feldzug einleitete, der die süddeutschen Staaten Frankreich zu Hörigen machte und das österreichische Heer bei Ulm schlug, genügte es dem König, zu wissen, daß seine Truppen sich an ihren Sammelplätzen formierten. Er gab der Welt das Zeichen, daß er die preußische Neutralität bis zum letzten verteidigen wolle.

Mit diesem Entschluß war seine Kraft erschöpft. Seine Nerven könnten nichts mehr ertragen: er wollte, was auch dagegen sprach, für Wochen nach Paretz.

»Deine Schwestern und Brüder besuchen uns dort«, verhieß der König.

Die plötzliche Stille nach all den Aufregungen Berlins war seltsam genug. Luise ging durch die nun schon altvertrauten Stätten, fühlte sich sonderbar losgelöst, zeitlos, sich selbst unbegreiflich. Hier lag alles wie in einem tiefsten Frieden. Und draußen eilten über die Straßen, Brücken, durch Einöden, Dörfer und Städte die Soldaten des Königs den Waffenplätzen zu – waren mobil gemacht, im äußersten Falle die Ruhe des Landes mit den Waffen zu verteidigen. Sie sah immer dies Bild vor sich: die Soldaten verließen Haus und Herd, eilten übers Land, sammelten sich an den Waffenplätzen. Und hier war die tiefste, tiefste Ruhe. –

Der König vergnügte sich mit den Kindern unten am Wasser. Luise ging allein durch das Dorf. Sie sprach manche Frau an, ließ sich erzählen, sie lächelte knicksenden Kindern zu, fuhr ihnen wohl übers steife Haar. Auf den Puttchen, die sie einst in fraulichem Spieltrieb auf Hofmauern und Eingangstore hatte stellen lassen, Maultrommelbläsern, kleinen Bauernmädchen mit sauberen Scheitelchen, Gitarrenspielern oder Gärtnern, wuchs schon leiser grüner Moosbelag. So war die Zeit tätig gewesen. Das Unbegreifliche, Ungreifliche, die Zeit. Sie dachte plötzlich an Rauch, den Bildhauer, ihren Kammerdiener, eilte ins Schloß zurück, saß nieder und rechnete, rechnete. Was konnte sie ihm geben? Ach, ihre Mittel waren klein für eine Königin. Was brauchte er, um nach Rom zu gelangen? Sie wußte, dies war sein sehnlichster Wunsch. Sie sah in ihr Notizbuch. Ach, es gab da manchen, der vielleicht schon wartete, ihre gute alte Gélieu, und Heinrich von Kleist, ach, und viele andere.

Sie klingelte. Rauch trat ein. Er war ungefähr ihres Alters. Er war ein Künstler und trug Livree. Er hatte zu hundert oder tausend Ausfahrten hinter ihr auf dem Trittbrett gestanden. Beschämung erfüllte sie plötzlich. Sie erhob sich, schritt gegen ein Fenster.

»Ich möchte, daß Sie nach Rom gehen. Daß Sie Ihr Talent vollkommen ausbilden –«

Blaue Augen starrten sie beseligt an, Knie berührten das Parkett. »Nicht,« wehrte sie ab, »bitte, stehen Sie auf, lieber Rauch. Sie bleiben noch, solange wir in Paretz sind. Dann reisen Sie. Ich will Ihnen etwas erzählen. Ich habe hier, als Paretz gebaut wurde, einmal den Architekten Friedrich Gilly gesprochen. Seine Worte könnte ich nicht so behalten. Aber der Eindruck blieb mir. Seine Kunst ist ihm etwas wie eine reine weiße Opferflamme gewesen. Er lebte einem Ideal. Nicht dem von großer Dekoration oder höfischem Prunk: einem adeligen, einem seelischen Ideal. Denken Sie manchmal daran, lieber Rauch.«

Luise flog auf leichten Sohlen die Treppen hinauf ins Obergeschoß. Gottlob, es steckten die Schlüssel an den Türen. Und sie betrat wunderliche, kleine Dachräume mit schmalen Betten, mit wenig Gerät, mit unendlichen Anhäufungen von Kupferstichen an den Wänden. Es roch so lieb da, nach Holz, nach Äpfeln und Heu. Die Königin trat sehr vorsichtig auf. Sie rückte an Tischchen und Stühlen mit größter Behutsamkeit. Ach, wenn es doch niemand hörte, wenn doch keiner kam und das entsetzlich Unschickliche ihres Tuns bemerkte: es war ihr ein so namenloses Vergnügen, ein wenig in den Zimmern zu wirtschaften, wo ihre Schwestern, ihre Brüder schlafen sollten. –

Der König fuhr nach Sanssouci. Neue, beunruhigende Nachrichten von Hardenberg zwangen ihn dazu. Fürst Dolgoruki war angekommen, der Abgesandte des Zaren. Luise bat, die Fahrt mitmachen zu können, Friedrich Wilhelm wehrte ab. Der Zar drängte auf eine Zusammenkunft, Luise wünschte sie, der König wollte sie vermeiden.

Sein Vertrauen zu Alexander war erschüttert. Er fürchtete, nur wieder »persuadiert« zu werden.

 

Gräfin Voß erzitterte. So hatte sie den König noch nie gesehen! Sie empfing ihn an der Rampe. Ihre Majestät war mit dem Kronprinzen und Prinz Wilhelm nach der Schäferei gegangen. Just zu unrechter Stunde. Aber sie konnte doch nicht immer warten, daß Seine Majestät zurückkam.

Was war geschehen? Köckritz hatte nur ein Zeichen mit der Hand gemacht, dann war er dem König nachgestürmt in sein Arbeitszimmer. Von dort her klang die Stimme Seiner Majestät erregt und wütend, wie man es noch nie gehört. Was war denn? Warum wollte der allergnädigste Herr dem Zaren durchaus nicht begegnen?

Die Voß trippelte auf den kühlen Fliesen der Entrée auf und ab. Man sollte hier fort. Paretz war ein Sommerhaus, und es herbstete gewaltig. Wo mochte Ihre Majestät sein? Auf den Feldern? Mit einem Kahn auf dem Wasser?

Plötzlich kam Herr von Köckritz in die Vorhalle. Seine in Säcke gelagerten kleinen Augen blitzten, der dicke Mund war grimmig verzerrt, die ungeheuer langen Polsterwangen und das volle Kinn gaben heute seinem Gesicht den Ausdruck großer Brutalität.

»Was ist, lieber Köckritz?« fragte die Voß atemlos.

Köckritz, sie hoch überragend, trat neben sie, dämpfte seine Stimme zum Flüstern:

»Hardenberg hatte den König so weit, daß er Dolgoruki die Zusammenkunft mit dem Zaren versprach. Immer unter der Bedingung, daß kein Vorstoß mehr gegen die preußische Neutralität unternommen wird. Majestät betonten, daß der französische Kaiser ihr keinen Grund zum Bruch gegeben haben.« Köckritz schnaufte auf. Röte flog über sein Gesicht. »Und da in dem Moment, wo Hardenberg und Dolgoruki zusammen nach Berlin abgefahren sind, kommt ein Kurier mit der Meldung, daß zahlreiche französische und bayerische Truppen bei ihrem Zug vom Main zur Donau durchs Ansbachsche marschiert sind.«

Der Gräfin Voß schlotterten die Knie. »Durch die hohenzollernschen Stammlande! Durch preußisches Gebiet. Großer Gott, das ist ja der Krieg!«

Köckritz verneinte mit einer Handbewegung. Dann ging er zur Türe, sah den langen Korridor hinab. Nein, es war kein Lauscher da. Er trat wieder zur Gräfin Voß.

»Bringen Sie es Ihrer Majestät nur bitte schonend, sehr schonend bei. Denn Seine Majestät ist ganz außer sich. Wollte die französischen Gesandten ausweisen lassen! Hardenberg hat es mit aller Mühe und Not verhindert! Wir sind zwar mobil, aber nicht mit Bagages versehen. Müssen épaisieren! Dolgoruki war es zufrieden. Seine Majestät hat nunmehr den Durchzug der Russen gestattet und an Napoleon Beschwerde gesandt.«

Die Voß reckte das alte kluge Gesicht hoch. Ihre Stimme zitterte: »Habe nicht verstanden, pardon, Köckritz. Weil die Franzosen das Hoheitsgebiet Seiner Majestät verletzt haben, erlaubt er den Russen den Durchzug?«

Köckritz stand breitbeinig vor ihr da. »Haben ganz richtig verstanden, liebe Gräfin. Wir wollen Hannover gewinnen. Wenn nicht durch Napoleon, so durch den Herrn Zaren.«

»Um Gottes willen! Und das Ansbacher Land –«

»Wird sich beruhigen, wird sich beruhigen. Bringen Sie Ihrer Majestät nur alles schonend bei. Die Aussicht auf das Wiedersehen mit dem Herrn Zaren wird sie – erfrischen.«

»Und die Österreicher, was ist mit ihnen?« rief die Voß.

Köckritz schnob durch die Nase: »Um alles können wir uns doch nicht kümmern.« »Aber es sind doch die Waffenbrüder vom Rheinfeldzug her.«

»Entschuldigen Sie, meine liebe Gräfin, ich bin der Major von Köckritz und nicht die preußische Regierung.« –

Die Königin war verwirrt und traurig. Sie begriff es nicht, daß man die Hoheitsverletzung im Ansbacher Gebiet nur mit einer Protestnote beantwortet hatte. Friedrich Wilhelm war in entsetzlicher Laune, unzugänglich, störrisch. Es schien ihm selbst nicht mehr wohl dabei zu sein, aber immer noch wünschte er den Frieden um jeden Preis, außer dem der Ehre. Aber – ging es denn nicht schon um die Ehre?

Luise versuchte mit ihm zu sprechen. Doch er wollte nichts von Politik hören. In plötzlich umspringender Laune ordnete er große Einladungen an zur Feier des Geburtstages seines ältesten Sohnes. Das rief Luise zu freundlichen Pflichten. Sie unterdrückte Schwäche und Mißbefinden, ja, es kam wieder etwas von der alten Fröhlichkeit.

An einem Oktobertag stand sie mit ihren Kindern an den goldenen Parkrändern von Paretz gegen die Nauener Landschaft hin und wartete auf die Reisewagen der Geschwister. Ach, und war es nun nicht wie einst, wie einst in Darmstadt? Ikas Lächeln strahlte wieder um sie. George stand vor ihr, »ein rechter Prinz«, klug, distinguiert, apart. Der König scherzte mit der »Frau Postmeisterin«, und die Schwester Charlotte ließ sich willig von ihm necken über das »kuriös irdische Aussehen des himmlischen Jean Paul«.

Die festliche Stimmung wurde getrübt: es kamen bange, unheimliche Nachrichten von schweren Niederlagen und Rückzügen der Österreicher. Generale gingen aus und ein in Paretz. Rüchel und Blücher bestürmten den König, in Österreichs Sache die deutsche Sache zu sehen und die deutsche Sache nicht im Stiche zu lassen. Rüchel und Blücher erbaten auch Audienz bei der Königin. Ika fand sie danach in einem Weinkrampf. Luise hatte den Generalen nur sagen können, daß sie keinen Einfluß in solchen Angelegenheiten besäße.

»Du regst dich so maßlos auf«, klagte Ika. »Und alles ist doch Schicksal. Niemand verlangt von dir, daß du aus Friedrich Wilhelm ein politisches Genie machst. Sei froh, wenn du dich in diese verworrenen Geschäfte nicht mischen mußt!«

Aber das waren keine Trostworte für Luise. –

Der Geburtstagsmorgen kam. Der König wünschte die Feier sehr zeremoniös. Der Kronprinz mußte, eingekleidet in die Uniform des 1. Garderegiments zu Fuß, allein in das Arbeitszimmer des Königs gehen. Dort waren die militärischen Gäste versammelt. Und der König überreichte seinem Sohn Degen und Offiziershut und den Stern des Schwarzen Adlerordens.

Dann schritt Friedrich Wilhelm, den Sohn an der Hand, hinüber in den blauen Salon der Königin. Ihre Kinder waren um sie versammelt. Die Töchter in weißen Musselinkleidchen, Wilhelm und Karl als kleine Elegants mit kurzen Jäckchen, weißen Westen und Jabots, langen, weiten Hosen, die weiße Strümpfe in ausgeschnittenen Schuhen sehen ließen. Die Geschwister der Königin hatten sich um sie gruppiert.

Luise versuchte ihre Erregung niederzukämpfen. In leidlicher Fassung sah sie noch, wie die hohe Gestalt des Königs unter die Flügeltüre trat. Dann aber, als die beiden zu ihr herankamen, der kleine Fritz, die Wange hochrot vor Eifer, die Gestalt gestrafft und in Form, als der König ihr den Sohn als Offizier präsentierte, ward ihre Stimme schwankend:

»Ich hoffe, mein Sohn, daß an dem Tage, wo du Gebrauch machst von diesem Rock, dein einziger Gedanke sein wird, deine unglücklichen Brüder zu rächen.«

Der König sah sie starr an und erbleichte. Das uniformierte Kind küßte die Hand seiner Mutter.


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