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XIX. Kapitel.

Später Herbst. Wolken hingen überm Land wie schwarze Fahnen. Schwarze Todesfahnen flatterten über der Armee, wo sie sich noch zu Widerstand sammelte. Der Korse war Herr über Preußen. Das Königspaar floh von Festung zu Festung. Was es hinter sich lassen mußte, ergab sich.

Der eine, der sich rühmte, der Welt die Botschaft der Revolution zu bringen: die Menschenrechte, hatte sich als Ziel gesetzt, Preußen zu erdrosseln. Kein Tod der Ehre sollte es sein, kein Tod tragischen Untergangs. Ein Tod durch den Strang, mit ein wenig Folterung voraus! Der Sohn von Korsika wollte zeigen, daß er ein echter Franzose war. Ein echtester Franzose hat Grausamkeit im Blute. Er liebt das Schauerliche, und liebt es, Unterliegende noch zu verhöhnen. Der Kaiser Napoleon mochte diese Hohenzollern nicht. Sie paßten ihm nicht, sie waren ihm unangenehm. Sie hatten einen blauen Rock berühmt gemacht. Die Welt sollte vom grünen Rock Napoleons sprechen. Der blaue Mantel von Marengo sollte das einzige blaue Tuch sein, vor dem die neue Welt noch erschauerte. Sie paßten ihm nicht, diese preußischen Gewissen! Sie paßten ihm nicht, dieses Geschlecht von Markgrafen und Königen, das in unendlicher Kleinarbeit, in ewigem Pflichtgefühl fast aus dem Nichts einen Staat geschaffen hatte, den man den Staat Friedrichs des Einzigen genannt. Sie paßten ihm nicht, diese Hohenzollern, die Ödländer zu blühenden Provinzen gemacht, und unbotmäßige Franzosen, Anhänger eines evangelischen Glaubens, bei sich aufgenommen und versorgt hatten. Sie paßten ihm nicht, diese aufrechten, kühlen, unerbittlich pflichttreuen Preußen, deren Königin von Groß-Germanien, einem einigen Deutschland träumte.

Der Kaiser entwarf eine Proklamation über die Absetzung des Hauses Brandenburg. Aber warum so eilig, fand er dann. Man zeige erst der Welt in den Bulletins der großen Armee, wie diese Hohenzollern beschaffen sind. Der Kaiser blätterte in schon veröffentlichten Papieren:

»Wie wir hören, will eine schöne Königin Zeugin des Kampfes werden. Laßt uns also artig sein und ohne Aufenthalt nach Sachsen marschieren. Die Königin von Preußen ist beim Heere, als Amazone gekleidet, in der Uniform ihres Dragonerregimentes. Sie schreibt täglich zwanzig Briefe, um die Kriegsfackel überall hinzutragen. Es kommt uns vor, als sähen wir Armida in ihrem Wahnsinn den eigenen Palast in Brand stecken.

Ihr folgt Prinz Louis von Preußen, der sich schmeichelt, er werde Ruhm finden. Dem Beispiel dieser illustren Personen folgend, schreit der ganze Hof: Zu den Waffen. Aber wenn der Krieg mit all seinen Greueln sie erreicht haben wird, werden sich alle rein zu waschen suchen.«

Ein anderes Blatt:

»Man hat Briefe bei dem toten Prinzen Louis Ferdinand gefunden, die erkennen lassen, daß die Kriegspartei, an deren Spitze der junge Prinz und die Königin standen, stets fürchtete, ihre grausamen Hoffnungen möchten zerstört werden. – Die Königin von Preußen ist mehrmals in Sicht gewesen. Leider gelang es nicht, sie zu fangen. Sie wollte Blut. Das kostbarste Blut ist geflossen. Nur ein Schrei ertönt gegen die Königin im ganzen Lande.«

Diese tolle, leichtlebige Person. Der Kaiser Napoleon blickte lachend auf ihr Alkovenbett, in dem er die Nacht zugebracht. Ein reizendes Schloß, dieses Charlottenburg. Und man hatte es so nett überrascht. Überall fand man Kleinigkeiten von der Königin. Es ist hübsch für einen Advokatensohn aus Korsika, wenn er die Schatullen, den Schreibtisch einer Königin aufbrechen kann und lesen, was sie für Briefe erhielt und was sie sich als Antwort notierte. Es ist ein leiser, angenehmer Kitzel, mit ihrer Feder ein neues Bulletin der großen Armee zu entwerfen und die schöne Luise darin zu schildern.

Napoleon der Große ging für ein paar Augenblicke in Luisens Ankleidezimmer, zog Laden auf, wühlte in Seide und Spitzen, schnob durch die Nüstern, lächelte, warf Wäsche auf den Fußboden, schob sie mit dem Stiefel auseinander. Hatte die kleine Lebedame vielleicht geheime Post unter ihren Hemden versteckt? Er ging zum Schreibtisch zurück:

»Die Königin stellte die Sorge für die inneren Angelegenheiten und die ›ernsten‹ Beschäftigungen mit der Toilette zurück, um sich mit Staatsgeschäften abzugeben, den König zu beeinflussen und überall jenes Feuer zu schüren, das sie erfüllt. Die Folge des berühmten Schwurs, der über dem Grabe des großen Friedrich am 4. November 1805 geleistet wurde, ist die Schlacht bei Austerlitz gewesen. Zwei Tage nach jenem Schwur fertigte man einen Kupferstich über diesen Gegenstand an, den man in allen Geschäften sieht, und der selbst der Bauern Lachen erregte. Man sieht darauf den schönen Kaiser von Rußland neben der Königin, und von der anderen Seite den König, der die Hand auf den Sarg des großen Friedrich legt. Die Königin selbst, eingehüllt in einen Schal, ungefähr wie –«

Napoleon sann nach, mit wem war die Königin zu vergleichen? Das heißt, welcher Vergleich stempelte sie zur Kurtisane? Er lächelte. Es gab eine Dame, mit deren Nennung man zugleich den toten Gegner Lord Nelson noch antasten konnte: den Namen der durch ihre skrupellosen Liebesabenteuer berüchtigten Engländerin. Also:

»– wie Bilder in London die Lady Hamilton darstellen, legt die Hand auf ihr Herz und schaut den Kaiser von Rußland an. Jedoch hat der Schatten des großen Friedrich über diesen lächerlichen Auftritt nur unwillig werden können.

Nach ihren komischen Fahrten vom Hauptquartier her hat die Königin eine Nacht in Berlin zugebracht, ohne jemand zu sehen. Denn alle Welt gesteht, daß die Königin die Urheberin des Mißgeschicks ist, das das preußische Volk erduldet.

Man hat in einem Gemach der Königin das Bild des Kaisers von Rußland gefunden, man hat ihre Korrespondenz gefunden. Die Noten, die Berichte, die gegen Frankreich und für Rußland agitieren, waren parfümiert und fanden sich inmitten unter Putz und anderen Toilettengegenständen der Königin.« –

Napoleon lächelte. Solche Berichte gefielen in Paris, erfreuten die große Armee. Man muß den Dingen etwas Würze geben. Der Franzose hört gerne von Damen. Wo mochte die schöne Königin sein? Sie irrte mit ihrem Mann, mit ihren erkrankten Kindern von einem Platz zum andern. Französische Soldaten waren gute Chasseurs. Sie jagten dieses wunderliche Wild ganz prächtig. Man hörte auch, die Königin sei krank. Fatal, wenn sie gerade jetzt stürbe. Das gäbe ihr ein wenig von dem alten Nimbus zurück.

Ihr schwacher Mann verhandelte um den Frieden, war über die Weichsel zurückgewichen. Sollte man ihm noch einen Fetzen des preußischen Staates bewilligen? Vielleicht den Winkel um Königsberg, eine kleine Herrschaft in der Größe eines Marquisats? Nun, das alles hatte Zeit, lächelte Napoleon.

 

Erst in Küstrin, wo Luise endlich ihren Gatten wiedersah, hörte sie das Nähere über den Unglückstag von Jena und Auerstädt. Dem König war ein Pferd unter dem Leibe erschossen worden, er war vom Feind umzingelt gewesen, wie durch ein Wunder gerettet.

Es wurde notwendig, Küstrin wieder zu verlassen. Napoleons Generale zogen wie lodernder Brand übers Land – wie ein wütendes, rasendes Feuer, gegen das es keinen Widerstand gibt. Dem Königspaar folgten die Unglücksbotschaften auf dem Fuße. Hohenlohes Heer hatte bei Prenzlau sich ergeben. Spandau war gefallen. In Graudenz kam die Nachricht von der Entsetzung Küstrins. Magdeburg wurde von General Ney erobert. Zugleich trafen die Friedensbedingungen Napoleons ein. Die Königin bot ihre letzte Kraft auf, den König zu beschwören, daß er nicht in eine Zerstückelung Preußens willige. Sie hoffte noch auf Alexanders Hilfe. Der König willigte in die Fortsetzung des Krieges. Napoleon war in Berlin, den König drängte es in die alte Krönungsstadt Königsberg.

Man fuhr von Ort zu Ort. Die Novemberstürme rasten über das Land. Osterode, Ortelsburg wurden Rastpunkte. Aber der Königin Heimat war die Landstraße geworden. Sie fuhr schier endlose Wege, durch nebelverhüllte Tage, sie lag in fremden Herbergen, und Finsternis war um sie. Doch Übermaß an Jammer tötet das Begreifen.

Sie fuhr dahin über frosterstarrte Landstraßen – und durch ihr Hirn wirbelten die fürchterlichen Gedanken: der kleine Karl ist todkrank – Napoleon war in Sanssouci – an der Gruft Friedrichs des Großen – die kleine Alexandrine lag im Fieber – der General Bernadotte schickte sich an, Danzig zu belagern – Napoleon hat der Welt verkündet, daß ich eine Kurtisane bin – und Friedrich Wilhelm weint des Nachts, wenn er meint, ich schlafe. Napoleon hat uns und dem Vaterland den Untergang geschworen – und man lebt und kann die Schmach nicht rächen.

Die Herbststürme wüteten um den schwankenden Wagen. Die Herbststürme wüteten um nächtliche Herbergen. Die Königin starrte auf ein ärmliches Licht, das ihr brannte.

»Wir fliehen – wir fliehen – ist das ein Schlaflied? Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte – ihr führt ins Leben ihn hinein, ihr laßt den Armen schuldig werden –

Bin ich denn schuldig geworden? Großer Gott, ich habe doch nichts anderes gewollt, als daß der König, das Heer, das Land sein Alles setzte an seine Ehre – daß Preußen sich davor bewahrte, eine nichtswürdige Nation zu werden.

Wir fliehen, wir, der Feind ist hinter uns her, aber wir haben noch eines zu retten, die Ehre!« –

 

Der Winter war hereingebrochen, der eisige Winter des Ostens. Am neunten Dezember traf Luise in Königsberg ein. Sie kniete am Bettchen ihres kleinen Karl, es ging ihm besser. Sie umarmte ihre Schwägerin, die Prinzeß Wilhelm, die auf der Flucht Entsetzliches gelitten, zwei Kinder durch den Tod verloren hatte. Der König kam mit großem Gefolge. Luise sah voll Schrecken: all diese Gestalten, denen man die Schuld an dem Niederbruch zuschrieb, waren um Friedrich Wilhelm versammelt: Zastrow, Lombard, Beyme, Schulenburg, Köckritz, Kalckreuth, Lucchesini. Und Friedrich Wilhelm hörte wieder auf ihren Rat! Sie starrte ihn an: er hatte von dem namenlosen Unglück nichts gelernt.

Die Königin ließ sofort Hardenberg rufen. Sie bot ihre letzten Kräfte auf, mit ihm zu sprechen. Aber noch während der Unterredung brach sie zusammen. Ein Nervenfieber, der Typhus kamen zum Ausbruch.

Sie wußte es wohl nicht, was die andern wußten. Ihr armer gequälter Körper rang mit dem Tode. Sie lag Wochen halb besinnungslos, gepeinigt von Schmerzen. Hufeland saß am Bett der Königin und glaubte sie sterbend. Der Sturm riß einen Giebel des alten Schlosses ab über dem Zimmer der Königin. Mit schauerlichem Krachen schlugen die Steine auf. Die halb Bewußtlose schreckte hoch – sollte sie im Elend dahingehen müssen? Sollte das schöne Licht ihres Seins in den tiefsten Finsternissen der Zeit erlöschen? –

Gott war barmherzig gegen ihren Mann, ihre Kinder, gegen das Vaterland.

Die Königin fand langsam zurück zum Bewußtsein ihrer selbst, zu einer Spur von Lebenskraft.

Man brachte ihr am Neujahrstag ihren Sohn Wilhelm ans Bett, eingekleidet als Offizier. Friedrich Wilhelm wollte ihr damit eine Freude machen, der Nachricht voraus, daß, sobald sie es vermöge, die Weiterreise sein müsse.

Wohl hatten die Russen bei Pultusk die Franzosen überwältigt. Doch der Sieg blieb unausgenutzt, die Franzosen rückten Königsberg näher.

Ein namenloses Entsetzen überflutete die Kranke. Sie jammerte: »Ich will lieber in die Hände Gottes als dieses Menschen fallen – fort – fort – schickt die Kinder voraus – wenn ihr noch einen Funken von Liebe habt, schickt die Kinder in Sicherheit vor diesem grausamen Menschen!«

Der fünfte Januar wurde zum Abreisetag. Die Kälte war entsetzlich, der Sturm wütete, peitschte die Schneeflocken in wildem Tanz. Man trug die Königin auf einem Sessel die breiten Schloßtreppen herunter zum Wagen. Hilflos war die schöne Gestalt. Ein Schleier verhüllte ihr Gesicht. Das Gefolge, Hufeland, die Voß, die Gräfin Truchseß rangen mit Tränen. Es war ihnen, als schritte man einer Leichenkutsche zu. Man bettete die Königin in den Wagen. Sie schien wie ohne Besinnung.

Die Räder rollten. Flucht, Flucht. Vom Himmel stob Schnee. Das Heulen des Sturmes übertönte Worte, dicht am Ohr gesagt.

»Wohin – gehen – wir?« fragte endlich die Königin. Die Gräfin Voß erschrak. Wußte sie es nicht mehr? Und sie scheute sich im Zartgefühl ihres alten Herzens, das Wort holdester Erinnerung zu so schmerzlicher Stunde auszusprechen. Die Truchseß tat es:

»Über die Kurische Nehrung, nach Memel, Eure Majestät.«

Die Augen der Königin öffneten sich weit. Sie waren blau wie Eis, sie wurden der Spiegel einer unermeßlichen Erschütterung. So saß sie – anzusehen als höre sie: am Ort deiner stolzesten Erinnerung gräbt man jetzt dein Bettlergrab.

Höfische Gesten um sie erstarrten. Vor der Majestät ihres Unglücks versank auch das Mitleid. –

Die Wagen fuhren langsamer. Der Boden war tief erweicht von Überspülungen. Der Sturm stellte sich gleich Mauern auf. Das Meer, von wütendem Zorne gepeitscht, schien das schmale Land verschlingen zu wollen. Das Land schien hinzusinken an das Meer.

Großer Gott, barmherziger Gott, sollte man hier verschlungen werden in den eisigen Wellen?

Die Hofdamen wurden arme Weibwesen, sie zitterten, als stünde das Jüngste Gericht um sie auf. Sie wagten kein Wort. Denn die Königin saß da, einer Gestalt aus der Vorzeit gleich. Locken ihres lichten Haars umringelten das sterbegleiche Gesicht, unter den Augen lagen jene herzzerreißenden grauen Schatten letzter Ermattung.

Aber ihre Augen waren blau wie Eis, wenn Licht es trifft. Und diese Augen starrten hinaus auf die steilerhobene Meeresflut, die sich mit langsamen, erhabenen Seufzern immer erneut anschickte, das versinkende Land unter sich zu begraben.

Ununterbrochen, reglos starrte die Königin hinaus in eine Weltuntergangsnatur.

Die Damen folgten ihren Blicken und flehten jählings, Gott möge sie nicht sehen lassen, was sie sahen: ein zerborstenes, gestrandetes Schiff, in tragischer Geste, wellenüberflutet aus den Dünen aufragend als ein grausames Symbol, das man nicht verstehen durfte.

Der wahnwitzige Sturm, die hereinbrechende Nacht zwangen endlich, in einer der Hütten eines halb versandeten Dorfes zu rasten.

Man trug Luise in eine Kammer. Durch zerbrochene Fenster starrte die Nacht herein. Man legte Luise auf ein elendes Lager. Der Arzt verlangte, die Königin müsse etwas genießen. Doch man hatte vergessen, vorzusorgen. Nichts fand sich, nichts war aufzutreiben. Es gab nur Mäntel und Decken, an die Fenster zu hängen. Es blieb ein vergebliches Mühen, der Sturm peitschte sie zurück in den armseligen Raum, der Sturm peitschte den Schnee auf das Bett der Königin.

Sie lag und sprach kein Wort. Die junge Truchseß war vor dem Bett auf die Knie gesunken, sie versuchte, die Hände der Königin warm zu hauchen. War denn keine Barmherzigkeit, war denn nicht wenigstens ein Bissen Brot zu finden? Die Voß kauerte auf der Erde. Sie hatte das ganze Haus durchsucht, die Bewohner angefleht. Sie besaßen selbst nichts. Wie die Schiffbrüchigen war man hier, auf schwankender Planke, umheult vom Tosen des Meeres.

Die junge Truchseß dachte jählings an einen Auftritt im Theater, an jene Nacht, da König Lear seinen Töchtern fluchte. Und dachte: da war es ruhiger und friedlicher, als es in dieser verzweiflungsvollen Stunde auf der Kurischen Nehrung ist.

Lag die Königin – im Sterben? Der Arzt beugte sich immer wieder über sie, krümmte seinen Körper wie in Peinen, murmelte Worte.

»Man muß«, stieß die Gräfin Truchseß heraus – »zum König schicken – man muß –«

Hufeland legte den Finger an die Lippen. Ein Windstoß keuchte übers Dach, es ächzte, als solle es bersten. Schnee fegte zu den Fenstern herein, streute weiße Kühle auf Luisens Bett. Die Luft im Raum wurde zu Eis. Mein Gott, mein Gott, das Erfrieren sollte ja ein sanfter Tod sein. Wenn nur diese wahnsinnige Qual aufhören würde: das fürchterliche Heulen des Windes und der Wellen.

Die Königin lag wach und reglos.

Ihr war es, als stünde ihr Herz schon still, als sei alles versunken in den unendlichen Strom, der die Seele hinführt zu unbekannten Ereignissen. Sie hörte manchmal ein Flüstern im Raum, sah schattenhaft Gesichter auftauchen und verschwinden. Sie mußte sich so anstrengen, zu begreifen, wer da war. Hufeland? Der König? Ika? Nein – nicht Ika. Louis Ferdinand? Kam er wieder, das Heer zu sammeln, all die Flüchtenden, Versagenden zu ihrem Herzen zu rufen?

Was rauschte denn so endlos schwer? So rauschte das Schilf um die Pfaueninsel nicht. So rauschte auch nicht das Blut durchs eigene Herz.

Luise hob die Hände, tastete nach der Stirn, fühlte ihr weiches Haar, fühlte, etwas ist noch zärtlich zu mir – mein eigenes Haar.

Plötzlich richtete sie sich mit jähem Ruck auf.

»Wo bin ich?« Halb erloschene Stimme hastete heraus: »Auf der Kurischen Nehrung – auf dem Weg nach Memel, teuerste Majestät.«

Sie sank mit einem Aufschluchzen zurück. Barg das Gesicht in den Kissen. Erinnerung überflutete sie. Erinnerung breitete die Totenarme um ihr Herz.

»Dies – kann ich nicht mehr ertragen – großer Gott, so viel Leid ist nicht mehr für Menschenmaß –«

Über diesen Landstreifen zwischen den Wassern waren sie einst ausgezogen, im Schimmer von Jugend und Glück – entgegen dem Manne, der sie beide betören sollte – der einen unerhörten Glanz über ihre Seele warf.

Und nun war sie hier, auf derselben verzauberten Brücke im Meere, als Geschlagene, Fliehende, die hinter sich den dumpfen, erbarmungslosen, unerbittlich folgenden Schritt des Unglücks hört.

Großer Gott, großer allmächtiger Gott, erbarme Dich über uns!

Ihre Hände falteten sich, aus tiefer, verschatteter Erinnerung ferner Jahre kamen Psalmworte in ihr Gedächtnis:

»Deine Fluten rauschen daher, daß hier eine Tiefe und da eine Tiefe braust. Alle Deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich. Warum hast Du meiner vergessen? Warum muß ich so traurig gehn, wenn mein Feind mich drängt?«

Konnte Gott ihre armen Worte hören, die nicht Ton wurden in dem rasenden Lärm, der sie umtobte?

Luise sprang auf. Sie irrte an ein Fenster. Sie bog ihr Gesicht hinaus in den Sturm. War denn dies – das Ende? Sie wandte sich wieder zurück, sah Schlafende auf dem Estrich des elenden Zimmers, kauerte nieder, und ihre Lippen murmelten:

»Aus der Tiefe rufe ich – Herr, zu Dir – nicht für mich, Vater im Himmel, nicht – mehr – für mich – aus der Tiefe – rufe ich, erbarme Dich über meine Kinder – über den König – erbarme Dich über unsere Heimat – erbarme Dich über Preußen, das Vaterland.« –

Endlich, endlich graute der Morgen.

Die Königin erhob sich von dem armseligen Bett. Sie ordnete ihre Kleider, ihr Haar, nahm Schnee, der hoch am Fenster stand, in den ermatteten Mund, an die brennenden Augen.

Sie sah die alte Gräfin Voß auf dem Estrich kauernd, die Gräfin Truchseß hingebeugt über ein Bündel Kleider. Luise tastete nach den Händen ihrer Damen.

»Haben Sie auch nicht zu sehr gefroren? Was alles müssen Sie um mich erdulden! Aber Mut! Gott hat uns diese Schreckensnacht überleben lassen, er wird uns weiter helfen. Ich bin nichts – aber vielleicht war mein Gebet noch etwas.«

So suchte die Halbgebrochene noch andere zu trösten. Doch Schauder ließ ihr Blut erstarren, als sie wieder in den Wagen geführt wurde, in den Wagen für die Flucht. Ihr Fuß zauderte, ihr Blick haftete an dem öden Land – wäre es nicht besser, auf dieser rätselhaften Brücke zwischen den Meeren zu verschellen?

Die Fahrt schleppte sich weiter im Brausen des Sturms. Ging fort auf vereistem Grund.

Es wurde nicht Tag. Licht und Finsternis rangen miteinander. Ewige graue Wolken verschatteten den Äther. Welle und Woge, vom Wind geschüttelt, klagten die Urmelodie des Weltalls und der Menschheit – den Schrei nach Gott.

Die Königin fuhr über die Kurische Nehrung.


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