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XXVII. Kapitel.

Luise fühlte sich umgeben von der Liebe, ja der Anbetung ihres Volkes. Ihre Vertrauten feierten ihr Wirken für Schlesien als die dritte Großtat ihres Lebens, als eine Tat, nicht minder mutig und belangvoll, wie die Unterredung mit Napoleon, die Berufung Steins. Sie hätte zufrieden sein, sich Ruhe gönnen dürfen.

In der Natur erwachte der scheue, kleine Frühling. Ach, hinauseilen, hinaus an die alten, geliebten Orte, wie sehr wünschte die Königin dies.

Aber sie saß mit heißer Stirn, in Zusammenraffung all ihrer Verstandeskräfte, die nicht leicht, und fern von genialischer Offenbarung flossen, vielmehr einer Natur abgerungen wurden, deren Weisheitsquelle das Herz war.

Doch Luise konnte sich sagen, daß ihr großes Bemühen, den Geist der Geschichte zu erfassen, ihren Horizont, ihre Einsichten erweitert hatte. So ging sie daran, eine politische Denkschrift zu verfassen.

»Ich gehe von dem Grundsatz aus, daß der Mensch, der sich dem Gedanken überläßt – ›Preußen ist doch verloren‹ – zu gar keinen größeren Vorkehrungen mehr taugt.

Ein wahrer Staatsdiener muß von dem Geist beseelt sein, alle Mittel erstlich aufzufinden und zweitens in Gang zu bringen, um allen Forderungen, die dem Staat obliegen, Genüge zu leisten, damit aller Vorwand schwinde, der einen gewaltsamen Schritt des Feindes rechtfertigen könnte. Er muß von dem großen und einzig wahren Standpunkt ausgehen, daß vor allen Dingen die Nationalität gerettet werden muß

So fühlte sie, so schrieb sie. Sie vermittelte zwischen den Staatsräten und den Ministern. Konnten sich auch die Wittgensteinschen Pläne nicht ganz verwirklichen, sie zogen doch neue nach sich und erweckten in Paris Mäßigung. Vielleicht trug dazu auch ein von Ancillon für die Königin entworfenes Glückwunschschreiben zu Napoleons Vermählung mit Marie Luise bei. Der neue Erzieher des Kronprinzen regte die Königin zu allerlei Lektüre an – sie fand Zeit, unter tausend Geschäften Chateaubriands »Génie du Christianisme« zu lesen, während ihr Herz bebend auf Nachricht aus Paris wartete.

Sie durfte überzeugt sein, daß ihrem Eingreifen die Erhaltung Schlesiens zu danken war. Nun aber hatte sie noch einen anderen Wunsch: die Rückkehr Hardenbergs. Ein Vertrauter war in Paris, Napoleons Billigung zu erreichen.

Denn jenes Alexanderwort zu Königsberg brauchte noch die offizielle Bestätigung.

Warten, wieder warten!

Die Königin war in Potsdam. Sie empfing Ancillon, den neuen Erzieher des Kronprinzen. Sie sagte ihm, sie sähe ihren Sohn als das Eigentum und das Kind des Staates an. Sie würde unglücklich sein, wenn er nur durch seinen Rang, nicht durch Verdienst und Würdigkeit einst wirke.

Und sie empfing an dem feierlichen Karfreitagsmorgen auch den Propst Ribbeck von der Nikolaikirche. Als er eintrat, kam ihr ins Gedächtnis, daß dies dasselbe Zimmer war, in dem ihr einst Alexander von ihrer heiligen Allianz im Geiste gesprochen hatte. Verrauschte Zeit. Verwehtes Erglühen. Wie fern war dieser gläubige Aufstrom der Jugend dem Glauben, der heute ihr das Herz stillte!

»Ich möchte«, so begann sie, »zum Osterfest aus Ihren Händen das Abendmahl empfangen. Wie ich es zum erstenmal empfing im Leben, in der lutherischen Form. Ich darf doch darin meinem Gefühl folgen? Es ist mir nicht nur ein großes Symbol, es ist mir die Nähe des Herrn.«

Sie sah still auf ihre Hände. Von den Geheimnissen ihres Glaubens zu reden, war ihr eine Sache der Verletzlichkeit.

Aber entschlossen fuhr sie fort: »Unsere Kirche kennt nicht die Beichte in der Form einer persönlichsten Aussprache mit dem Priester. Und doch möchten wir manchmal ein persönliches Wort der Aufrichtung von einem Diener Gottes. Mein Leben hat mir ein hohes Maß von Glück gebracht, von einem Glück als Frau, als Mutter, als Tochter und Freundin und Schwester, das auch in den Zeiten schwerster Trübsal nie erlosch. Ich will nichts mehr für mich. Ich habe allen meinen Feinden verziehen. Aber wenn mein Herz in Unruhe ist um den König, um meine Kinder, um das Vaterland – wenn meine Gebete immer wieder den Himmel bestürmen wollen, er soll uns seine hilfreiche Gnade wieder zuwenden, fehlt es mir dann nicht noch an der Demut, die sich in alles ergibt? Denn ich bitte ja für das, was ich liebe – aber Gott weiß es, ich hasse niemand mehr, der mir Leid zugefügt hat.«

Sie war blaß, und in ihren Augen lag die stille Klarheit der großen Entsagung.

»Was bin ich vor Ihnen?« stammelte der Propst. –

 

Die Königin erkrankte nach dem Osterfest. Es war wohl wieder zuviel Anstrengung gewesen. Sie mochte niemand, der sie wiedersehen wollte, ihre Tür verschließen. So hatte sie vielleicht zuviel gesprochen, sich auch zuviel mit den Kindern in den noch so feuchten Gärten bewegt.

Die Ärzte sprachen von der Notwendigkeit einer Badereise. Doch die Königin wehrte ab. Die Rückgewinnung von Hardenberg als leitenden Minister stand im Brennpunkt ihres Interesses.

Der König verhielt sich unentschlossen, wie immer. Doch er mochte Luise nicht widersprechen.

Geheimnisvoll, als gälte es ein Zusammentreffen von bangen Liebenden, wurde dieses Wiedersehen auf der Pfaueninsel vorbereitet. Die Königin empfing die Nachricht von Hardenbergs Ankunft auf der Terrasse von Sanssouci. Die königlichen Gärten lagen schon im Schmuck jungen Grüns.

Über Luises Wangen flackerte es wie Morgenröte. War nicht alles wie einst? Von Sanssouci aus fuhr man über die rätselhaften Havelspiegel nach dem verträumten Eiland mit den Bäumen der Jugend – mit den unverwelklichen Erinnerungen.

Sie saß im Kahn, den Blick rückwärts auf die Türme und Kuppeln von Potsdam gerichtet. All ihre Liebe war Gegenwart.

An der Lände der Pfaueninsel stand August Wilhelm von Hardenberg. Das schöne, würdevolle Gesicht war vom Hauch der Freude überspielt. Er küßte Luisens Hände, und sie stammelte: »Hier ist es gewesen, wo Prinz Louis Ferdinand einst zu mir sagte, daß Sie unsere Hoffnung sind.«

Der König schwieg. Er blieb zurück, ging langsam, steif, die Wege hinter den beiden: sie waren wohl zwangloser ohne ihn.

»Ich verehre Sie, wie ich meinen Vater verehre«, begann die Königin in jugendlicher Lebhaftigkeit. »In Ihren Händen liegt unsere Rettung. Denn Sie haben begriffen, was Preußen, was Deutschland, was die Heimat für uns ist. Der Erde, aus der wir wurden, der Erde, die uns wieder aufnimmt, gehören wir an. Und wir haben doch ein gottgeliebtes Vaterland: immer wieder sind ihm Menschen erstanden, in denen die alte Germanentreue zur Heimat wohnt. Die wissen: nicht umsonst lieben wir unser Land, unsere Hügel und Ströme und die stillen Ebenen, die Städte, gegründet in tiefer Vorzeit. Wir setzen die ewige Botschaft Deutschlands fort: das Herz ist größer als alle Vernunft, und nur durch das Herz kommen wir einst zu Gott.«

Hardenberg sah sie besorgt an. Sie sprach im Überschwang und sah krank aus. Wohin trieb ihr Leben? Er entwickelte ihr sein Programm: die äußeren Ziele seiner Politik, die notgedrungen eine Art sittlichen Waffenstillstandes mit Frankreich erhalten müßten, die inneren Reformen im Sinne einer liberalen Zeit. Sie hörte zu, erwog, ergänzte und ward jäh betroffen, als Hardenberg auch die Emanzipation der Juden erwähnte. Sie sollten Freizügigkeit bekommen und feste Namen. Die Juden? Fern erinnerte sie sich der Patriarchengestalten und der jungen Rebekkas und Mirjams, die sie am Einzugstage in Berlin begrüßt. »Sind sie unterdrückt?« fragte sie rasch. Hardenberg lächelte.

»Ich will ja nur die Menschenrechte für sie«, sagte er knapp.

»Menschenrechte? Sie hatten sie bisher nicht – nicht Mendelssohn – nicht die Rahel?« Luise preßte die Hände zusammen, stammelte das Goethewort:

»Nicht gewußt – oder nicht bedacht.«

Der Minister war erschüttert. Wie ihre Stimme bebte in diesem »nicht gewußt oder nicht bedacht«.

Würde die Königin eine bessere Zeit des Vaterlandes noch erleben? Er sah das flackernde Rot über ihren Wangen, das jählings erschreckender Blässe wich, sah durchsichtig zarte Hände, hörte ihren Atem so mühselig gehen und dachte: Man darf ihr Hoffnungen machen, man darf ihr eine weite Ferne zeigen, als wäre sie nah.

Sie saßen auf einer Bank vor der Ruine nieder. Ulmen ließen ihre Schatten ins üppige Gras fallen.

Hardenberg sah blicklos über die Landschaft hin. Und sprach: »Sie selbst, Königin Luise, haben Ihrem Feind Napoleon verziehen. Aus Ihrer frommen Seele heraus und in der Erkenntnis, daß sich eine neue Zeit entfaltet, an deren Gestaltung er auf eine freilich furchtbare Weise bildet. Wir müssen mit ihm als einem größten Machtfaktor rechnen. Wir dürfen aber auch annehmen, je mehr Preußen sich auf sich selbst besinnt, desto mehr Achtung wird es wieder erringen, auch bei Napoleon. Er, der in schonungsloser Willkür handelte, wird durch die Zeit erfahren, daß man auf Stammes- und Sprachgemeinschaft gegründete Staaten nicht für die Dauer auseinanderreißen kann. Sie gaben mir das schöne Wort, Königin Luise, daß Sie mir vertrauen wie Ihrem erhabenen Vater. So nehmen Sie es als ein Vaterwort, wenn ich Ihnen die Hoffnung auf Preußens Wiederherstellung gebe!«

Sie tastete nach seinen Händen. In ihre Seele kam eine tiefe Ruhe. –

Die Königin lag wieder krank. Sie sollte nach Pyrmont. Doch dort befanden sich die Könige von Holland und Westfalen, Louis und Jérôme, Napoleons Brüder. Sie schreckte davor zurück, ihnen begegnen zu müssen, es wäre dies auch nicht ohne einen Aufwand an äußerer Repräsentation gegangen, deren Kosten unerschwinglich schienen. Sie bat den König, mit ihr einen Aufenthalt in Paretz zu nehmen, sobald sie wieder wohl sei.

An einem der ersten Junitage konnte endlich diese langersehnte Fahrt angetreten werden. Die Königin war wieder fieberfrei. Sie wünschte, daß alle ihre Kinder mitgehen durften. Die stattliche Schar fuhr voraus. Sie standen auf der Rampe des Hauses und nahmen Luisens Wiederkehr die Wehmut.

Hatte sie nicht einst geglaubt, als sie fern war im kalten Memel, als sie durch die Eiswüsten Rußlands fuhr, und als kein Hoffnungsstern mehr an ihrem Himmel hing: sie wolle tausend Jahre des Grams durchleben, wenn sie nur einmal noch das Paradies ihres ehelichen Glückes, das geliebte Paretz, wieder betreten könne. Und nun war es gekommen.

Abendschatten weiteten die Räume. Begegneten ihrem flüchtigen Schritt nicht alle alten Gestalten des Einst?

Doch sie war nicht lang allein. Der König suchte sie. Er war fröhlich, wie sie ihn seit vielen Jahren nicht gesehen. Er legte den Arm um ihre Schultern, führte sie durch eine weiße Tür hinaus über die dämmernden Wiesenflächen nach dem Park. Sie schluchzte auf.

Sie war über so viele Ebenen gezogen, sie hatte so viele Horizonte gesehen, sie hatte Meere rauschen hören und die alten Linden im Pfarrgarten von Picktupöhnen. Über Schwellen des Unglücks und Schwellen des Prunks war ihr Fuß gegangen – über unendliche Dächer und Kuppeln ihr Blick geschweift.

Diese Landschaft aber, diese Wiesen und Bäume, diese weißen Türen, die Lüfte, die sie atmete, bedeuteten ewige Dinge. Vom Dorf herüber klang das Getön einer Harmonika, klang späte Einfahrt ländlicher Wagen. Und am Himmel tönten die Sterne. –

Sie wollte nicht wieder fort von Paretz. Ihr war, als sei hier alles Leid versunken. Es gab tausend unermeßliche Freuden: den Weg zum Wasser, den Weg zur Schäferei, den Gang durch das Dorf, die Blumen in den Gärten, die Amseln, die über die Beete rannten. Ach, ihre Kinder mußten das alles lieb haben. Sie saß mit ihnen im Freien und erzählte Geschichten. Unermüdliche Geschichten von den Vögeln. Von den Wandervögeln, die von Heimat zu Heimat flogen – die Schwalben, die Kraniche, die wilden Schwäne. Von den bunten Vögeln, die Urmelodien der Welt fassen zum Lied, die zur Winterszeit die Dornbüsche mit Farbe erfüllen, mit köstlichem Rot und edlem Grau und schwarzen Käppchen darüber, und die Dompfaffen heißen.

»Und wißt ihr die blauen Vögel, die ganz vornehmen, kostbar blauen Halkyonen? Die Stürme schweigen, wenn sie ihr Nest bauen – ach, auch uns schweigen jetzt ein wenig die Stürme.«

»Erzähle weiter, Mama, kennst du alle Vögel? Kannst du die Nachtigall und die Lerche unterscheiden?« fragte Charlottchen.

Luise lächelte. »Du wirst auch einmal wissen, ob es die Nachtigall oder die Lerche ist. Die Vögel gehen mit durch unser Leben. Denn sie tragen unsere ewige Sehnsucht nach dem Flug über Niederungen, nach dem Flug zu fernem Unbegriffenen – und wenn wir einst unser Schwanenlied singen –«

»Was ist ein Schwanenlied?« fragte der kleine Karl.

Sie sah ziellos vor sich hin und schwieg. –

Sie wollte nicht wieder fort von Paretz. Doch der König drängte nach Charlottenburg. Er hatte Hardenberg zum Staatskanzler ernannt, wollte ihn gebührend begrüßen.

»Komm mit nach Charlottenburg, Luise, werde dir dort was Wunderschönes schenken!«

Sie lächelte ihn fröhlich an. Das war so seine Art, nun sollte sie raten! Aber gewiß nicht gleich das Richtige. Wenn Friedrich Wilhelm einen kleinen Einfall hatte, mußte er lange vorhalten. Fast wie Kriegsration! Einen neuen Fächer? Nein. Einen neuen Strohhut? Nein.

»Dann schenkst du mir sicherlich ein neues Bild von dir?« Und sie streichelte sein Gesicht. »So gut und vornehm wie du sieht niemand aus.«

Der König wagte einen Scherz: »Hatte nicht einmal Alexander das schönste Gesicht, Liebste?«

Sie antwortete ruhig: »Das größte Menschentum glaubt' ich bei ihm, Fritz. Sei still, es ist vorüber.«

Er sah gütig in ihre Augen. Sie errötete nicht unter dem Blick. Sie streichelte leise sein braunblondes Haar, sah ihn von Herzen an und fragte weiter:

»Sollte es ein neues Spinett sein, das in Charlottenburg auf mich wartet?«

Der König war entzückt, daß sie so fehl riet.

Die Wagen standen schon bereit: die Königin ging allein noch einmal durch den lichten, hellgrünen Park von Paretz. Zum Herbst kam man wieder, zum Erntefest? Unter Ährenkränzen sollte man tanzen. Ja doch, ja doch. Und Fritz, ihr wilder, ungebärdiger Fritz, sollte auch tanzen dürfen. Ja doch, ja doch. Wie lag das weit. Die Dorfmusik würde tönen, – heiße Nacken sich beugen, alles wie einst.

Irgendwo hatte die Balalaika geklungen, und irgendwo schrillten die Clairons. Und sie war doch nach Paretz zurückgekehrt. Ihre Füße gingen über die alte geliebte Erde. Sie nahm kühle, lichtgrüne Blätter an ihren Mund, der so sonderbar brannte. Sie wollte doch nicht weinen. Sie wollte rasch noch zu dem kleinen Aussichtshügel gehen, wo man hinaussah über die Felder, hinüber bis zum Moorgrund mit den Weiden. Und sie mußte noch dem Birkenhain Lebewohl sagen, ja Lebewohl –

Ihr flüchtiger Fuß durcheilte den Park. –

Und unbewußt wohl, wandre ich einst allein
Zum letztenmal noch, träumend von Wiederkehr
Die Heimatpfade, eins geworden,
Lang mit der Seele, dem Geist der Zeiten.


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