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VI. Kapitel.

Wie ward dieser Auftritt beendet? Wie kam sie heim? Dämmerung lag um die Dinge.

Hundert Abende lang hatte Luise die Schmeicheleien allerhöchster, höchster und höfischer Personen gehört. Hundert Abende lang war sie lächelnd durch all die Wolken von Weihrauch gegangen, nichts anderes denkend, es gälte dies eben ihrem Rang, ihrer Stellung.

Nun wußte sie, Louis Ferdinand war nicht auf den Knien gelegen vor ihrem Rang und vor ihrer Stellung. Sein Ungestüm suchte zu ihrem Herzen. Gestern hatte sie noch gedacht, wie schön es sei, daß Ika in Prinz Louis Ferdinand nun einen Freund gefunden. Ja, gestern war sie noch ein Kind gewesen, dem alles Spiel ist.

Und nun wußte sie schluchzend: sie selbst trug durch ihr unbedachtes Wesen, durch diese Zusammenkünfte und Vertraulichkeiten Schuld, daß ein fremder Mann um ihre Liebe flehen durfte. Sie, die in feierlicher Stunde Gott gelobt hatte, ihrem Gatten Liebe und Treue zu erweisen, bis der Tod sie scheide. Das große Gelübde stieg vor ihr auf mit schreckhafter Gewalt. War sie auf dem Wege, eine leichtsinnige Frau zu werden?

Sie schlang die Finger ineinander, wollte beten, fühlte den Mund und die Kehle trocken, als könne sie nicht atmen –

Die Gräfin Vieregg trat ein. Luise, anerzogene Fassung rasch findend, fragte, kalt vor innerer Unruhe, nach den Wünschen der Hofdame und vernahm, ein königlicher Befehl wiese die Ergebene zu diesem ihr so schweren Gang.

Luise hob das Gesicht. Eine dumpfe Vorahnung von Peinlichstem gab ihr hochmütige Haltung, fürstlich-kalte Gebärde. Und die unglückliche junge Hofdame begann zu sprechen. Untertänigst, untertänigst, natürlich. Aber sie hatte sich eines königlichen Befehls zu entledigen, und der lautete:

Ihre Königliche Hoheit habe sich den Anordnungen ihrer Oberhofmeisterin von Voß unbedingt zu fügen. Ihre Königliche Hoheit habe sich zu benehmen wie jede andere Prinzessin am Hofe. Die Klagen von allen Seiten häuften sich. In aller Gnade noch, aber auch mit allem Nachdruck, ließe der König ersuchen, daß er keine Klagen mehr zu hören bekäme.

Die Selbstanklagen Luisens waren bitterer. Sie ließ die Worte der unglücklichen Hofdame in vollkommener Ruhe über sich ergehen. Sie antwortete die notwendigen Phrasen und gab das Zeichen der Entlassung. Doch als die arme Gräfin Vieregg schon an der Türe war, ging Luise ihr nach, sagte leise: »Liebe Gräfin, verzeihen Sie, daß ich Ihnen diese Mühe machte.«

Die Gräfin Vieregg schluchzte auf, küßte leidenschaftlich Luisens Hände. –

Frau von Voß kam. Sie stand wie ein Turm im Räume, ihre Stimme klang spröde: »Man hat Eure Königliche Hoheit bei Seiltänzern auf der Gasse mit dem Prinzen Louis Ferdinand gesehen, man hat Eure Königliche Hoheit –«

Luise brach in ein nervöses Weinen aus. Es milderte sich weder durch Riechsalz noch oberhofmeisterliche Worte –

Friedrich Wilhelm stand mit mürrischem Gesicht in einer Fensternische und blickte auf das Zeughaus hinüber. Sein melancholisches Auge streifte die barocken Zierate der Dachgesimse, sein inneres Auge durchdrang die Mauern und sah bis zu den Fahnen Friedrichs des Großen, die da hingen, ruhmgetragen und zerfetzt aus großen Schlachten.

Es wäre Friedrich Wilhelm leichter gewesen, mit einer Fahne in der Hand Schanze oder Festung zu stürmen, als was er auf Befehl seines Vaters tun sollte, »den Herren herauszukehren und Luise zu zeigen, daß wir hier gewohnt sind, uns bei unseren Frauen Gehorsam zu schaffen«.

Was hatte denn Luise so Schreckliches getan? Sünden gegen die Etikette, die Friedrich Wilhelm doch selbst oft so lästig war. Sein fürstliches Standesgefühl lehnte sich auf: Machen die Hofstaaten, macht die Hofgesellschaft Revolution? Aber da spielte noch anderes. Das mochte er nicht glauben. Und mußte es doch bereden: seine liebe Frau, die jede Nacht in seinen Armen einschlief, solle ein Einverständnis haben mit dem tollen, verrufenen Prinzen?

Graf Medem hat schon gewarnt, sagte der König. Wie, weil Luise ein paarmal die »Ferdinanderie« aufgesucht, und weil keine Dame, mit der Prinz Louis Ferdinand sprach, übler Nachrede entging, sollte er Luise zur Rechenschaft ziehen?

Friedrich Wilhelm ballte die Hände zusammen, bearbeitete mit dem schmalen Fuß die Diele.

Da kam Frau von Voß gerauscht. Verdammt, was wollte die?

»Habe keine Zeit, liebe Voß, bin beschäftigt.«

Er hörte, die Kronprinzessin sei ohnmächtig. Er hastete an der Oberhofmeisterin vorüber.

Luise vernahm seinen Schritt. Großer Gott – nun kam das Allerärgste. Nun kam er. Und sie hatte keinen Beistand – nicht Vater, nicht Bruder waren da, und wer würde auf die kleine Ika hören?

Sie richtete sich auf. Sie hatte sich selbst schon angeklagt. Die Anklagen anderer sind leichter zu hören.

Friedrich Wilhelm kam steif und hölzern heran. Sie standen einander wie Schachfiguren gegenüber auf der schön abgeteilten Täfelung des eingelegten Parketts. Und wenn mich alle hier verurteilen, ich bleibe doch die Herzogin zu Mecklenburg, dachte sie plötzlich kühl und weltlich.

Friedrich Wilhelm sagte still: »Du hast geweint, Luise?«

Ihre Gestalt durchflog ein Zittern.

»Es tut mir so leid, Luise; hat man dich gequält?«

Sie flog, alles vergessend, an sein Herz. Er spürte den Duft ihres Blondhaars, ward beklommen, führte sie sanft nach dem Sofa. Sie schluchzte, rang nach Worten. Er streichelte leise ihre Hände, löste seine Gestalt ein wenig von der ihrigen, fand Worte:

»Eine Ehe ist anders als die Mädchenzeit, Luise. Wer heiratet, wird ein Teil des andern. Wer das nicht sein kann, müßte für sich bleiben. Die Dinge hier, die vielen Feste, das Changement, die fremden Eindrücke, das alles hat dich ein wenig verwirrt gemacht, nicht wahr? Ich will nichts von andern hören, Luise, du selbst, du allein sollst es mir sagen.«

Er stotterte, fühlte Pein, quälte endlich den Namen Louis Ferdinand heraus.

»Ich glaubte, er hätte Ika ein wenig gern –«, flüsterte sie.

»Und spieltest die Dame d'honneur deiner verheirateten Schwester? Nun, auch dies ist beendigt.« Die Stimme Friedrich Wilhelms wurde kälter: »Hat der Prinz dich geküßt?«

Sie jubelte auf: »O nein – niemals, ich schwöre es dir –«

Da lächelte Friedrich Wilhelm befreit.

»Du hast einen schrecklichen Tag gehabt, mein Herz. Kann nun alles gut sein? Willst du mir versprechen, daß ich nicht mehr gezwungen bin, all die Klagen über deinen Freiheitsdrang anzuhören?«

Sie hing an seinem Hals. Aller Jammer, den sie gefühlt, schluchzte hoch. »Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, du.«

Friedrich Wilhelm bekam plötzlich ein feineres Ohr. Er hörte heraus, daß da eine leise Selbstanklage oder Furcht mitklang. Und in einer kleinen, schmerzlichen Resignation sagte er:

»Wir wollen fort aus Berlin. Hinaus in die Stille. Nach Potsdam. Dort wird dir alles leichter sein. Wir haben vor Gott gelobt, unsern Weg zusammen zu gehen. Bedeutet es dir so viel Entsagung? Weißt du noch nicht, daß aller Menschenweg durch Entsagung führen muß?«

Und er sah sie mit seinen melancholischen Augen still an.

Sie fühlte zum erstenmal die unbeirrbare Vornehmheit seiner Natur. Erschütterung, heißes Wollen faßte sie:

Luise beugte sich herunter und küßte seine Hand.

 

Über den Havelseen flatterten die weißen Möwen, um die Birken wehten lichtgrüne Schleier, die Wasser waren überhaucht von himmlischem Blau. Ein traumhaftes Eiland entstieg der Flut. Durch das Geräusch des Schilfs zog der kleine Kahn. Und Luise dachte: Wo bin ich? Wie sonderbar stolz und schwermütig ist dies alles um mich. Aber sie lächelte, als sie an Land trat. Da stand ein wunderliches Haus, wie der Natur zugehörig, und da kamen wunderliche Vögel geschritten im Glanz ihrer grünblauen Schleppen. Sie strichen über grünende Rasenflächen hin, sie sandten ihre Schreie von uralten Bäumen herab, wie Hilferufe Verstiegener. Gemäuer ragte auf über Gebüschen –

Wunderliches Eiland. Hier wollte man nicht über den Wiesenplan tanzen. Hier war es, als sei alles fernen, dunklen, schlafenden Göttern geweiht.

Der Kronprinz schwieg, weil Luise schwieg. Sie ging an seinem Arm. War ein wenig still geworden, die Luis'. Ein bißchen schmal im Gesicht. Trug ein Bandeau unterm weichen Kinn. Friedrich Wilhelm war gerührt, ihr schöner Hals hatte eine kleine Entstellung bekommen. Die Doktores sagten, das käme, weil sie ein Kind erwarte.

Er liebte den kleinen Fehler. Zärtlich zog er ihren Arm an sich. Und erzählte, wie oft er in einsamen Knabenjahren hier gewesen, auf der Pfaueninsel. Sie dachte, angerührt von der Sonderbarkeit des Ortes: Nun begreif ich deine scheue Seele – –

Der Kahn fuhr andere Wege: Vorbei am Lustgarten mit seinem barocken Brunnenbild, vorbei an den anderen königlichen Gärten – einem fernen Dorfe zu. Der Wasserspiegel weitete sich, Kiefern und Birken rückten ab. Wunderliches Gleiten. Am Himmel schwammen weiße Wölkchen, senkten sich rötlich, waren wie geballt am Rand des Sees. Man landete, ging in diese weiß-rötlichen Wolken hinein. Und Luise schluchzte fast: Die Baumblüte, die Baumblüte, ach, wie daheim an der Bergstraße. Irgendwo stand ein »alter Krug«.

Der Offizier und seine junge Frau wurden respektvoll bedient: Johannisbeerwein schimmerte rubingleich im Glase. Ein armseliges Männlein, zahnlos und stoppelbärtig, ruhte sich aus im »Kruge«, hatte ein jämmerlich Dünnbier vor sich und eine Hucke Last neben sich. Seine Blicke konnten Gelüst nicht meistern. Der Kronprinz ergriff die halbvolle Flasche, brachte sie dem Männlein. »Damit Madame la princesse nicht so etikettewidrig handelt«, flüsterte er ihr zu.

Die Heimfahrt ging schon in den Abend hinein. Nun lag das Wasser in seltsamem, opalisierendem Grau. Luise starrte auf die weite Fläche. Der Kronprinz war besorgt, sie möge sich nicht erkälten. Ach, hier in der Freiheit gewiß nicht. Aber im Schloß waren die Zimmer so eisig. Oft überfielen Luise Hustenschauer, so heftig, bis Blut kam.

Blut? War es Blut hier über den Wassern? War es der Widerschein letzter Sonne? Sie sah über dem grauen Wasserspiegel diese kleinen Purpurstreifen ziehen, winzige Linien, tausende gewellter Farbstriche, die sich in der Ferne zusammenfügten zu einem rätselvollen Schein: Havelgeheimnis.

Fern am Rand des Wassers erhoben sich die Kuppeln und Türme von Potsdam, als entstiege es dem Meer.

Luise sah wie eine Bezauberte das festlich-schöne Bild: und wußte, sie liebte die neue Heimat –

Des Abends kam man wieder heim in jene Gemächer, die Luise allein durchwanderte, wenn der Kronprinz Dienst machte in seinem blauen Regiment. Sie tat nichts mehr, was Frau von Voß beleidigte, sie konnte nun schon fast ein Automat nach Vorschrift sein. Sie saßen im kleinen Zimmer, soupierten, sprachen das Vernünftigste. Fern schliefen im Pathos der Einsamkeit die silbernen Gemächer Friedrichs des Großen. Der Kronprinz nahm nach Tisch wohl eine Handschrift des hohen Autors und las Luise daraus vor. Sie verstand kein Wort von der Materie. Sie schob zaghaft dem Vorleser wohl ein Buch unter: Schiller, Jean Paul, Herder. Friedrich Wilhelm beachtete es nicht.

Luise fühlte dunkel, daß bei Friedrich Wilhelm verzeihen und verstehen nicht zusammengefallen war. Sie lebte in leiser Angst, er trüge ihr manche eigensinnige, unbedachte Handlung aus diesem Winter noch nach. So warb sie um ihn. Ging Demutswege, deren Armut er vielleicht gar nicht begriff oder ahnte.

Scheu und zag wie der Frühling in der Mark war ihr Herz geworden.

Sie ging, ein Bild weiblicher Demut, an Friedrich Wilhelms Arm in den Straßen von Potsdam spazieren. Wurde gegrüßt, als sei sie eine Heilige, und dachte dabei, dies wäre wohl so Sitte. In Darmstadt hatte man vor Hoheiten nicht so getan. Sie stickte des Abends an nicht endenwollenden Kissenbezügen (schrecklich, schrecklich, es gab doch tausend bezogene Stühle im Schloß) und kam sich selbst wie eine kleine Märtyrerin vor, der gebietende Voßblicke sagten, am Ende darf man dich noch begnadigen. Bis ein Tag kam, da sie mit Friedrich Wilhelm von der großen Fontäne in Sanssouci ab die köstliche Allee hinunterschritt. Der Park schwamm in smaragdenem Licht. Die Amseln riefen wie Verzückte. Selbst die feierlich-dunklen Buchsbaumkegel schienen zu jauchzen.

Da sagte Friedrich Wilhelm: »Du, eigentlich dürfen wir das gar nicht, so alleine gehen. Es müßten Damen und Kavaliere uns begleiten. Die Voß hat mich schon zweimal untertänigst gezankt.«

Da fand Luise ihr Lachen wieder. »Dann soll es auch für etwas Rechtes sein, Fritz, wenn sie dich zum drittenmal zankt.« Und ihr Schritt hob sich, ihre Arme hoben sich zärtlich – und plötzlich tanzten die jungen Eheleute die stolze Allee hinunter zum Neuen Palais.

 

Was vor einem Vierteljahre Luise nicht unerträglich erschienen wäre, stand jetzt wie ein tödlicher Schrecken vor ihr: der Kronprinz bekam Befehl, zur Armee nach Polen zu gehen. Im Augenblick, als sie beide zum Einklang der Ehe gefunden, kam eine Trennung, kam ungewisses Schicksal. Luise begriff nichts von Politik, sie hatte nur ein dunkles Erinnern, daß man diese Sache in Polen als verfehlt betrachte. Um sie brausten wirre Kriegsprophezeiungen, Potsdam glich einem Heerlager, dieser Feldzug schien viel gefährlicher, als der gegen den Rhein. Von Mund zu Mund wurde ein Ausspruch des Königs getragen, der stolze Vers aus Racines Athalie: »Je crains Dieu et n'ai pas autre crainte.« Und sie hörte sich selbst vom König angesprochen: »Mut, Soldatenfrau, keine Tränen.«

Abschied, Abschied. Sie schluchzte in Friedrich Wilhelms Armen. Und er tröstete auf die zarteste Weise; er würde bitten, daß der Bruder George sie besuchen dürfe, und sie würde mit Ika, deren Gatte gleichfalls ins Feld zog, in Sanssouci ganz still leben.

Luise hatte sich erst so weit gefaßt, diese neue und schmerzvolle Veränderung mit dem Verstand zu begreifen, als auch die Stunde der Trennung schon da war.

Friedrich Wilhelm konnte nicht ganz verbergen, daß er fühlte, sich in Gefahr zu begeben. So schieden sie. Kaum war er Luisens Blicken entschwunden, schrieb sie ihm schon. Ach, anders als einst aus Darmstadt. Eine geängstete Frau schrieb, die zugleich noch unsicher war, ob der Gatte auch an ihre nun ihm so sehr gehörende Neigung glaubte:

»Was ich gelitten habe, als ich Deinen Wagen abfahren sah, war, als ob man mir die Seele aus dem Leibe reiße – denn was bin ich ohne Dich, teuerster Freund – ich schwöre Dir, daß keine Liebe der gleich ist, die ich für Dich fühle, nicht zu Vater, zu Bruder, zu Schwester – –«

Und nun saßen die Schwestern, wieder vereint, in Sanssouci. Mit Bruder George. Doch er wurde bald abgerufen. Der fast unbekannte Onkel in Neustrelitz starb, und Luisens Vater wurde Herzog, Bruder George der Erbprinz von Mecklenburg-Strelitz. Ein großes Ereignis. Unter neuen Tränen blieben die Schwestern allein.

Ein banger, einsamer Sommer ging.

Wo war Luisens alte Fröhlichkeit geblieben? Die Soldatenfrau wartete auf Nachrichten. Ein sonderbares Bangen durchschlich die Tage. Ein Gefühl ratloser Vereinsamung lastete auf Luise: sie hatte gelernt in Berlin, daß Gesichter und Worte täuschen können, daß es Masken der Freundschaft gibt. Sie fühlte sich unter Fremden, deren Charakter und Verbindungen und Absichten sie nicht zu überblicken vermochte. Wo sollte ihre noch so geringe Seelen- und Menschenkunde sich Rat holen?

Sie suchte in Büchern. Las im Herder:

»Die Seele ist über alles Vermögen niedriger Organisationen so weit hinaufgerückt, daß sie nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tausend organische Kräfte des Körpers beherrscht, sondern auch in sich selbst zu blicken, sich selbst zu beherrschen vermag.«

War das nicht doch eine Antwort? Sich selbst erkennen, sich selbst beherrschen, vielleicht verlieh das die Kraft, auch über andere sich klar zu werden?

Sich selbst beherrschen! Ach, es hieß in ihrem Falle, zunächst den Vorschriften der Frau von Voß nachzuleben. Der ewigen Etikette. All dem trübseligen Formelkram. Dann las sie im Jean Paul, in dem kleinen löschpapiernen Büchlein: »Heiterkeit, die nur der Mensch haben kann, schließt wie ein Frühling alle Blüten des Innern auf. Ein verdrießlicher Gott wäre ein Widerspruch, und das Seligsein ist um eine Ewigkeit älter als das Verdammtsein. Versucht es nur einige Tage lang, euch beruhigt und heiter zu erhalten – –«

Ach, dazu hatte es sonst keiner Aufforderung bei Luisen bedurft!

Doch nun sorgte sie sich um den Gatten, der draußen war im Wechselspiel des Krieges. Sie empfing Nachrichten, hörte hundert Gerüchte. Einmal wurde Warschau belagert, dann wieder aufgegeben. Der Kronprinz litt unter seiner militärischen Stellung, er wurde von der Front zurückgenommen ins Hauptquartier. Ein sonderbares Hin und Her. Die Schwestern studierten die Karte von Polen, ohne sich dadurch klar zu werden über die Notwendigkeit und die Belange dieses Feldzuges.

»Das Übel verfliegt, wenn ich nach ihm nichts frage«, stand im Jean Paul. Ach, es war so tröstlich, in seinem »Andachtsbüchlein« zu lesen.

»Wenn du frei, froh und ruhig sein willst, so nimm das einzige Mittel dazu, das nicht in den Händen des Zufalls liegt: die Tugend.

Erwarte nicht außerordentliche Gelegenheiten zum Guthandeln, sondern nutze die gewöhnliche Lage. Ein dauerndes Fortschreiten ist besser, als ein kurzes Auffliegen.

Sieh jeden Tag für ein ganzes, eignes Leben, für keinen Abschnitt des Lebens an, und genieße ihn ganz, ohne ihn durch das Eilen zu einem künftigen Abschnitt zu überspringen!

Rechne die Vorteile einer kurzen Freude für nichts gegen den langen Nutzen, den der aufopfernde Gehorsam gegen dein ästhetisches Ideal bringt!«

Sie ließ nachdenklich das Buch sinken. Ach, man mußte einen Menschen haben, der das Gelesene freier und leichter mit der Wirklichkeit verbinden konnte, als sie es vermochte. Die Voß und die Vieregg waren solche Menschen nicht. Aber die Hofstaaten konnten zufrieden sein. Ihre Hoheiten taten jetzt nur das Schicklichste und schienen korrekt und kühl wie silberne Leuchter!

Die Zeit dämmerte hin.

Die Rosen waren aufgeblüht in den Gärten von Sanssouci, waren wieder zerflattert. Manchmal weinte Luise vor Sehnsucht nach ihrem Gatten. Dann fuhr sie wohl nach Berlin, nur um die Dinge zu sehen, die er benutzt hatte, oder mit denen er sich beschäftigt. Sie drückte ihr Gesicht in ein seidenes Kissen, auf dem er geruht, sie sah die Bilder von Soldaten an, die er gemalt.

Ach, sie trug ein Kind von ihm. Sie war in ihm beschlossen. Sie fühlte, sie mußte sich selbst noch so sehr erziehen, sie mußte so viele Dinge ablegen, die er schwer ertrug, die gegen seine Natur gingen. Sorgenvoll war das Leben. Wer geheiratet hat, ist ein Teil des andern. Die Kronprinzessin von Preußen kann nicht mehr die kleine, ausgelassene Darmstädterin sein.

»Ist die Jugend schon dahin?« fragte Ika spöttisch. Sie war ein wenig verändert. Sie hatte wohl die Sache mit dem Prinzen Louis Ferdinand Luisen verübelt. Doch Luise war der Gedanke daran zu schwer, sie konnte nicht davon sprechen.

Die blauen Tage des August kamen und gingen. Der Sommer versank. Eine so schmerzliche Stille legte sich über die Natur.

Der September brachte seine lichten, verklärten Tage. Langsam, langsam schritten die beiden Schwestern nun die Parkwege entlang, im leise gilbenden Laub. Beide trugen sie Erwartung. Kinder sollten sie haben, sie, die noch so unfertig sich fühlten, Frauen zu sein, sollten nun bald Mütter werden –

 

Jählings stand Friedrich Wilhelm vor seiner Frau. Im Traum des Septemberabends.

Sie fühlte ihn als den Erlöser aus Schwermut und Einsamkeit, all ihre Lebenslust, so lange noch zurückgebändigt, schwoll auf: sie war wie rasend vor Freude und zog den Heimgekehrten erneut in den Bann ihres Temperaments.

Wie lieb sie ihn hatte, wie lieb. Sie wählte die Worte nicht mehr, sie nannte sich selbst toll vor Freude, »splitterrasend toll vor Freude«. Und er, selig, sie wieder zu haben, glücklich, dem »polnischen Elend« entronnen zu sein, blühte auf wie einst in der Brautzeit.

Sie mußten nach Berlin zurück. Feierlich, mit ihrem ganzen Gefolge. Der Voß, der Vieregg, den Kammerherren, dem Major Köckritz, des Kronprinzen Vertrauten. Und da, im lieben Haus, so nah Ikas Haus, sollte nun das kleine Kind kommen. Wer von den beiden Nachbarinnen würde das schönere Kindchen haben?

Luise mußte alles stürmisch begrüßen in der Wohnung, die sie nun schon die »alte« nannte. Friedrich Wilhelm tat noch nicht wieder den regelmäßigen Dienst, war viel zu Hause.

Und eines Tages, als sie ihm rasch etwas zeigen wollte, und allzu eilig eine schmale Verbindungstreppe hinabstieg, kam sie zu Fall.

Sie lag eine Weile hilflos in Ohnmacht. Erwachte in ihrem Bett. Und erwachte zu tausend Schmerzen. Nach vielen Stunden des Kampfes trat das Ereignis ein: das Mysterium der Geburt – –

Es war so still im Raume, als Luise aus Schmerz und Dämmerung sich aufrichtete. Sie verlangte, ihr Kind zu sehen.

Ika beugte sich über sie. Ikas Tränen fielen über Luisens Hände. »Du weinst«, sagte Luise sanft. »Ist mein Kind nicht schön?«

»Es war schön«, sagte endlich die kleine Ika in die bange Stille hinein. – –

 

Ein ruhiger Winter kam. Auch die kleine Ika hatte Schweres durchlitten, eine lange, gefährliche Fieberzeit. Aber nun besaß sie, die Spielerische, Kindliche, einen kleinen Sohn, ein kleines, lebendiges Püppchen. Die Wiege im Kronprinzenpalais war fortgeräumt. Die kleine Tochter, die so schön gewesen, schlief ihren rätselvollen Schlaf, fern, in einer Gruft bei Helden und Herrschern.

Von Herrschern wohl, aber nicht gerade von Helden, wurde viel gesprochen in der Hofgesellschaft. Die preußischen Offiziere feierten Salontriumphe, und während der Petersburger Hof laut verkündete: »Polen ist ganz unterworfen und erobert durch die Waffen der Kaiserin«, begnügten sich die preußischen Diplomaten beim Friedensschluß zu Basel mit dem Ergebnis, daß Preußen, nachdem es so viel Blut im Westen und Osten geopfert hatte, einfach aus dem Koalitionskrieg ausschied. Man freute sich des Friedens. Es gab vielleicht nur wenige, in der preußischen Monarchie, die in diesem Friedensschluß den Beginn eines trauervollen Abwärtsgleitens der Stellung des Staates fühlten. Prinz Louis Ferdinand tat es. Ihn zu sehen, mied Luise. Er hatte ein Regiment in Magdeburg erhalten. Als er zur Vermählung seiner Schwester mit dem Prinzen Radziwill nach Berlin kam, blieb Luise den Feierlichkeiten fern. Sie fühlte sich wieder guter Hoffnung, vermied nach Möglichkeit lärmende Feste. Kleine Reisen wurden gemacht. Besuche kamen. Luise sah einen feierlichen Akt des Johanniterordens, wanderte durch das Tegel der Humboldts und wurde endlich von ihrem Gatten zum Sommeraufenthalt nach Charlottenburg geführt.

Er sagte: »Dies ist unser ›Still im Land‹, bis wir ein anderes, neues haben, das uns allein gehört.«

Luise war nun ganz gewohnt, sich zu fügen. So schwer es ihr manchmal noch fallen mochte, sie paßte sich Friedrich Wilhelm in allen Dingen an. Sie trug wieder ein Kind von ihm, sie gehörte ihm.

In ratloser Lage hatte sie seine Freundschaft erfahren und die unbeirrbare Vornehmheit seiner Natur erkannt. Um dieses Erlebnisses willen fand sie sich nun in seinen Alltag mit immer neuer, liebevoller Geduld.

Charlottenburg. Was für eine entzückende Zimmerflucht war für sie eingerichtet! Schöne, nicht zu große Räume, die Fußböden köstlich mit edlen Hölzern ausgelegt, die Wände in schönen Farben bespannt, die Möbel so neu und elegant. Ein Alkovenbett und viele Spiegel, und jenes Gemälde, zu dem sie so lange mit Ika gestanden: die Schwestern in weißen Gewändern, wie sie die Herme des Königs mit Rosen bekränzen.

Luise lächelte beim Wiederanblick des Bildes: sie fand die Statue, die Schadow von ihr und Ika geformt hatte, viel schöner. –

Frau von Voß stand vor ihr. Ihre Königliche Hoheit solle das Schloß kennenlernen. Sich gütigst das Wichtigste einprägen. Auch die Frau Prinzessin von Thurn und Taxis würde die »Tour« mitmachen. Ja, die Therese war da! Wie gut von Friedrich Wilhelm, ihr die Schwester einzuladen.

Und sie schritten durch die Pracht des Knobelsdorffschen Flügels, durch den goldenen Saal, der einen ganz wirr machte, kamen hinunter in die feierliche Flucht der Barockräume Friedrichs I. und seiner Sophie Charlotte von Hannover.

Frau von Voß gab sich Mühe, einen kunsthistorischen Vortrag zu meistern. Luise, kindlich vergnügt, suchte überall nach dem springenden Pferdchen, dem hannoverschen Wappentier. Sah lachend Gemälde, wie das Dreieinigkeitsbild von August dem Starken, Friedrich I. und dem Schwedenherrscher, und sagte munter: »Ihr seid mir schöne heilige drei Könige.« Die Voß überhörte.

Man stand vor dem Schreibtisch, an dem Sophie Charlotte ihre Studien mit Leibniz getrieben. Prinzessin Therese rief enthusiastisch: »Kant ist größer als Leibniz.« Luise antwortete flink: »Ein reines Herz bedarf keiner Philosophie.« Die Prinzessin von Thurn und Taxis sank vor Staunen auf den hölzernen Leibnizstuhl. »Luise, ich bitte dich, wie kannst du –« Frau von Voß zog die Augenbrauen hoch und trippelte majestätisch zu der offenen Türe nach dem Garten. Die Philosophie war ihre Domäne nicht. Aber sie war etwas Schickliches. Möchte Frau Prinzessin nur die Frau Kronprinzeß etwas instruieren.

Aber Luise ließ sich gar nicht unterrichten. Vor der Schwester durfte sie doch endlich einmal ihre Meinung unverhohlen sagen: »Ich habe wohl über das nachgedacht, was du und deine Hofdame von der Kantschen Philosophie mir sagtet. Ihr bewundert seinen Pflichtbegriff und wundert euch doch des Todes, wie man als Ehegattin ganz der Pflicht leben kann, seinen eigenen Geschmack verleugnen und alles tun, was zum Glück des Gatten beiträgt. Dabei dachte ich, zu was denn all das Studieren, wenn es einem nicht die Kraft gibt, seinen Geschmack, seine Lieblingsideen und Gewohnheiten aufzuopfern, um einen andern glücklich zu machen? Man muß nicht grübeln, um gut zu werden. Gott hat die Richtlinien in unser Herz eingegraben, und wir müssen nur diesem folgen, um auf dem rechten Weg zu bleiben.«

In den Augen der Prinzessin von Thurn und Taxis spiegelten sich Erstaunen und Mitleid. Wie, so wenig mondaine hatte sich ihre liebe kleine Luise entwickelt? Gleich einer Bürgersfrau sprach sie, die den Thron der Philosophin Sophie Charlotte innehaben sollte.

»Glaube und gesunder Menschenverstand, meine liebste Luise, lösen allein nicht die Probleme, die an eine Königin herantreten werden«, sagte sie in gehaltener Klugheit. »Die Philosophie, die reine Vernunft –« Eine freundliche Stimme unterbrach sie:

»Die Frau Postmeisterin gibt meiner Luise Unterricht in der Philosophie? Ei, ei, Frau Postmeisterin, verständigen wir uns: die Post und die Postulate sind Forderungen der praktischen Vernunft. Damit wollen wir es halten.«

Der Prinzessin von Thurn und Taxis, deren Gatte den »Generalpostmeister des Reichs« unter seinen Titeln führte, blieb nichts übrig, als zu lächeln. Sie sah ihre Schwester den nüchternen Mann jubelnd umhalsen und dachte beklommen: sie tun miteinander wie gute Bürgersleute wahrhaftig, wie gute Bürgersleute.


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