Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Seitdem das Windheimer Stadtregiment in die Hände des ehemaligen Priors übergegangen und das Moorbad gegründet war, hatte sich auf dem Oberlande, wo früher neben dem Sommerkeller nur wenige Landhäuser standen, gar vieles verändert. Nicht nur das Hotel und die sich daran anschließende Badeanstalt war schon im nächsten Jahre erbaut worden, sondern eine große Anzahl der Einwohner hatte, vernünftiger Überlegung folgend, ihre Häuser drunten der ärmeren Bevölkerung überlassen und sich droben auf gesünderem Boden angesiedelt.

So war eine hübsche ländliche Villenstadt entstanden, unter der in vorderster Reihe das Haus, das der Bürgermeister mit dem Badearzt bewohnte, durch geschmackvolle Einfachheit sich hervortat. Ein Gärtchen umgab es, das Frau Juliane besonders liebte, da es schattige Spielplätze für ihre Tochter und die beiden anderen Kinder enthielt, ihre zweitgeborene Lene und die gleichaltrige Juliane des Doktors. Im ersten Stock lag die Wohnung des Doktors, darüber die des Bürgermeisters, und im Erdgeschoß sein Amtszimmer und das Bureau der Kurverwaltung, der ein eigener Kassenbeamter vorstand.

Nun neigte sich schon die Sonne dem Horizonte zu, als Peter Paul nach bescheidenem Anklopfen in das Sprechzimmer des Doktors eintrat. Er wurde mit der freudigsten Überraschung empfangen, zum Sitzen genötigt und ihm eine Zigarre geboten, die er ablehnte. Seit er geheiratet, sagte er mit einiger Verlegenheit, habe er sich das Rauchen abgewöhnt. Er sei auf der Hochzeitsreise – die Trauungsanzeige würde Carus ja erhalten haben – und nur für diesen einen Tag gekommen, das alte liebe Nest seiner jungen Frau zu zeigen. Es sei eine Jugendliebe von ihm, er habe sich damals von ihr losgerissen, da sie noch ein wildes Füllen gewesen und gegen den Stachel geleckt habe. Hernach, da er sie nach Jahren wiedersehen, sei sie ihm ganz zahm entgegengekommen, und da alte Liebe nicht zu rosten pflege, habe er sie nun zu seinem Weibe gemacht. Seine Verhältnisse hätten ihm erlaubt, einen Hausstand zu gründen, teils da er gute Aufträge bekommen habe, teils auch weil er trotz seiner Jugend als Stellvertreter des erkrankten Professors in der Komponierklasse angestellt sei und erwarten dürfe, bald definitiv einzurücken. Den Grund aber zu all diesem Glück habe doch er, der Doktor, gelegt.

O verehrter Freund, rief er, wie soll ich es je Ihnen und den anderen Freunden und Gönnern genug danken, daß sie mich verkommenen Landstreicher von der Straße aufgelesen und in Ihr Haus aufgenommen haben! Nicht bloß, daß Sie mich vorm Verhungern schützten – Sie haben viel mehr an mir getan. Ich war ein so mangelhaft erzogener, ungebildeter Kunstjünger, wie Tausende meiner Sorte, deren geistiger Horizont nicht viel größer ist als ihre Palette. Was ich den Abenden im Refektorium verdanke, in denen ich die Ohren spitzte, wenn Sie mit dem Prior und dem Professor über alles Wissenswürdige so tiefe und klare Gespräche führten, ist nicht zu sagen. Darum hab' ich mich geschämt, als Sie mir, nachdem ich mich fortgestohlen hatte, die Anweisung auf den Bankier schickten. Ich war ja in Ihrer Schuld bis über die Ohren, und was ich zuletzt bei Ihnen an Glück und Frieden eingebüßt hatte, das konnte ich mir doch nicht mit Geld vergüten lassen, zumal Sie selbst daran unschuldig waren. Aber da mir das Wasser an die Kehle ging, nahm ich's als einen letzten unverdienten Freundesdienst an, daß ich beim Eintritt in ein neues Leben nicht mit Betteln anfangen mußte. Nur den Preis für den Plafond durfte ich nicht annehmen und hätte auch den dritten Teil, den Sie mir endlich aufdrangen, zurückschicken sollen. Denn wirklich, es ist doch nur eine Schülerarbeit, wie ich jetzt mit Beschämung eingesehen habe, und wenn Sie mir Zeit lassen und erlauben wollen, was Reiferes an die Stelle zu setzen –

Hier unterbrach ihn der Eintritt Frau Helenes, die, als er sich zum Doktor begab, nicht zu Hause gewesen war. Er hatte mit seiner Frau vorher beim Bürgermeister angeläutet, der noch unten im Amt verweilte. Frau Juliane aber hatte nur die junge Frau angenommen, da sie erst kürzlich aus dem Wochenbett aufgestanden und noch nicht für einen Herrenbesuch gerüstet sei. Ihren kleinen Neugeborenen wollte sie aber doch gern der Besucherin zeigen.

Nun aber, da es nur ein so guter alter Bekannter war, der sie begrüßen wollte, hatte sie sich doch entschlossen, mit hinunterzukommen, in einem bequemen Schlafrock, der ihr reizend stand, und so betraten die drei Frauen zusammen Carus' Zimmer, wo nicht lange nachher auch Greiner sich einfand. Daß es in dem stillen Gemach, dessen Bewohner sonst nur Fragen und Klagen leidender Menschen anzuhören hatte, nie so laut und fröhlich zugegangen war wie heute, ist nicht zu verwundern. Als dann Frau Helene zu Tisch zu kommen bat und die sechs Menschen in bunter Reihe sich niedergelassen hatten, wurde der Maler an allerlei Bilder aus der Venezianischen Schule erinnert, wo schöne Menschen um einen festlichen Tisch herumsitzen und sich's wohl sein lassen. Diese drei Frauen durften sich getrost nebeneinander zeigen, ohne daß eine durch die andere verdunkelt wurde, da jede gleichsam einen besonderen Stil weiblicher Schönheit und Anmut darstellte, wobei es Frau Seraphinen zustatten kam, daß der künstlerische Beschauer noch ganz frisch verliebt und aus den Flitterwochen nicht herausgewachsen war.

Sie waren alle in der glücklichsten Stimmung, Greiner auch deshalb, weil er gerade am Nachmittag den Vertrag über den Theaterbau abgeschlossen hatte, womit ein alter Lieblingswunsch der Windheimer erfüllt wurde. Nachdem sie sich in allem Notwendigen, das er eingeführt, fügsam gezeigt, habe er ihnen diesen Luxus endlich nicht länger vorenthalten mögen, der auch für die Kuranstalt vorteilhaft werden könne. Ihm aber liege mehr am Herzen, daß die geistige Bildung seiner Stadtkinder dadurch gefördert und außer dem Theatervergnügen auch das Bedürfnis einer literarischen Kultur in ihnen geweckt werden würde.

Von Simon wurde dem jungen Paar erzählt, daß er vorm Jahr mit seinem Adoptivsohn, der sehr wohl zu geraten verspreche, sie besucht habe, und Jürgen Rabe schicke von Zeit zu Zeit einen Pack Zeitungen, in denen die Leitartikel, die er verfaßt, rot angestrichen seien. Er habe sich noch immer nicht einer Partei anschließen können, getröste sich aber des Dichterwortes: Der Starke ist am mächtigsten allein.

Peter Paul berichtete in seiner muntern Art, wie ihn zumut gewesen, als er seiner jungen Frau die historischen Stätten auf dem Nonnberg gezeigt habe. Das Atelier sei leider von einer dicken kranken Französin bewohnt gewesen, die im Negligé ihn heftig zurückgewiesen, als er unbedachterweise, ohne zu klopfen, als betrete er noch sein eignes Reich, die Tür geöffnet habe. Mit desto offneren Armen habe ihn Frau Marianne empfangen, als er in ihre Küche gekommen, und das Evchen, das sehr in die Höhe geschossen, habe den Onkel Peter Paul mit Jubel umhalst. Der gute Kaplan sei ganz der Alte, hätte am liebsten gleich ein Duett mit ihm gespielt und ihm erzählt, daß er den beiden Mädchen, Hilde und Eva, Singstunde gebe, und bei polnischen Damen, die sich an seine Exkommunikation nicht stießen, Seelsorgerdienste tue.

Daß er als Krankenpfleger Tag und Nacht sich den niedrigsten Diensten unterzieht, wird er Ihnen wohl in seiner Bescheidenheit verschwiegen haben, warf Carus dazwischen.

Gewiß, sagte der Maler. Er habe es erst von Andreas erfahren, der noch immer den Posten des Faktotums bekleide. Auch Hinrich sei herbeigekommen, nicht wiederzuerkennen in seiner Kutscherlivree, und von allen Bekannten habe er nur seinen Freund Nero vermißt, der im Winkel des Hofs unter einer Traueresche dem Jüngsten Tag entgegenschlummere.

Dann aber habe er seine Frau ins Refektorium geführt. Ich mußte ihr doch zeigen, welchen ehrenvollen Platz ich ihr unter den Kardinaltugenden eingeräumt hatte. Was aber glauben Sie, daß sie dazu sagte? Mein eignes Konterfei scheint mir nicht übel gelungen, es ist nur etwas boshafter, als ich aussehe; dir aber hast du furchtbar geschmeichelt. Einen so schönen Esel gibt es ja gar nicht.

Alle lachten, und da jetzt Carus Champagner aus dem Keller holen ließ, wurde die anfängliche Schweigsamkeit der jungen Frau, die sich hier doch als Fremde gefühlt hatte, besiegt und sie ließ ihrem schalkhaften Temperament freien Lauf, so daß Carus lächelnd bemerkte, sie beweise, daß sie ihren Platz im Reigen der Kardinaltugenden als Vertreterin des Humors mit vollem Rechte einnehme.

Peter Paul, auf dessen Kosten sie hin und wieder die Gesellschaft belustigte, da sie allerlei kleine drollige Szenen von der Hochzeitsreise zum besten gab, sah sie trotzdem mit verliebtem Stolz beständig an und erklärte, gerade so gefalle sie ihm. Vom Seraph sei keine Spur in ihr, das habe ihn eben in seiner blöden Jugendeselei verdrossen. Jetzt aber, da das harte Leben ihm die Sentimentalität abgewöhnt, sei er glücklich, daß von der Seraphine nur das Finchen mit seinen Finessen übrig geblieben sei, dem man nichts übelnehmen könne, da sie »im Ernstfall« doch wisse, daß sie sich der Autorität ihres Eheherrn zu beugen habe.

Wozu der Schalk mit gespielter Unterwürfigkeit den Kopf senkte, während ein fast unmerkliches Fältchen an dem roten Munde einen stillen Vorbehalt zu machen schien.

*

Als am andern Morgen der Omnibus des Kurhotels nach dem Bahnhof hinunterfuhr, saßen nur zwei Reisende darin, unser junges Paar, das trotz der Bitten ihrer Freunde, noch einen Tag zu verweilen, seine fröhliche Hochzeitsreise mit dem Frühzug fortsetzen wollte.

Sie saßen wieder Hand in Hand nebeneinander, aber schweigsamer, als sie gekommen waren. Selbst Frau Finchens roter Mund öffnete sich nicht zu einer jener schalkhaften Bemerkungen, mit denen sie diese historischen Stätten gestern begrüßt hatte. Beide sahen halb verschlafen, halb staunend zum Fenster hinaus in das himmlische Schauspiel, das sich draußen ihrem Blicke darbot. Das weite Tiefbecken war wie mit einem regungslosen Meer durch einen feinen weißen Nebel ausgefüllt, aus dem nur die Spitzen der Bäume auf dem Uferdamm und die Kreuze auf den beiden Kirchtürmen hervorglänzten. Über dieser in Duft versunkenen, weißverschleierten Welt aber lag der Gipfel des Nonnbergs mit seinen ehrwürdigen Gebäuden von der heiteren Morgensonne des Frühlings vergoldet, und es war zauberhaft anzusehen, wie rasch, während sie durch den Nebel dahinfuhren, das Licht aus der Höhe hinabstieg, den Dunst aufsog und über das Heideland ihn in flatternden Streifen zerteilte. Noch ehe sie durch die schlafende Stadt gefahren und auf der Brücke angelangt waren, lag die Landschaft wie aus einem Bade gestiegen in voller farbensatter Klarheit vor ihnen.

Mit leuchtenden Augen, wie in stiller Verzückung, sah der Maler unverwandt zum Dach des Klosterkirchleins hinauf. Ist es nicht wundervoll? sagte er nach einer Weile mit leiser Stimme, wie um einen feierlichen Vorgang nicht zu stören. Sieh nur, wie die Klarheit sich von oben herabgegossen und, was aus der Erde heraufdampfte, wieder bezwungen hat, daß nun alles Kleine und Ärmliche hier unten wie vergoldet dasteht. So habe ich's auch an mir erlebt. Meine ganze Welt war mir wie umnebelt, und dann ist alles wieder hell und klar geworden.

Auch sie wurde von der machtvollen Schönheit des Schauspiels im Innern betroffen, aber als wollte sie sich gegen die andächtige Rührung wehren, die ihr munteres Temperament wie eine Fessel empfand, sagte sie lächelnd: Du sprichst ja förmlich wie ein Dichter. Und wahrhaftig, Peter Paul, ich glaube, du fühlst ein Klosterheimweh. Dauert dir die zwölftägige Ehe schon zu lange und sehnst du dich nach dem Gott wohlgefälligen Zölibat zurück, in dem du da oben gelebt hast? Nun, ich will deinem Glück nicht im Wege stehen. Es wäre sogar drollig, wenn wir uns schon in der ersten Hälfte der Flitterwochen scheiden ließen, und da mir doch einmal die Rolle des Humors übertragen ist, werde ich mich am Ende darein finden müssen, mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Liebes Herz, sagte er sanft, ich nehme dir's nicht übel, daß du nicht verstehst, was ich meiner Klosterzeit zu danken habe. Du warst nie mit dir und der Welt zerfallen und hattest keine Wunde auszuheilen, sonst würdest du fühlen, daß ich den Ort, wo mir diese Wohltat zuteil wurde, mit Ehrfurcht betrachte und so wenig darüber scherzen mag, wie ein frommer Christ über seine Kirche. Aber ganz im Ernst: wär's nicht zu wünschen, daß für Menschen, die so wie ich ihren inneren Halt verloren haben, solche Stätten auch heute noch beständen, wo sie, auch ohne Tonsur, sich selbst wiederfinden und dann frisch und gesund ins schöne freie Leben zurückkehren könnten?

Sie sah mit einem lieblich-ernsten Blick zu ihm auf. Du hast recht, Liebster, sagte sie leise. Verzeih meinen schlechten Scherz! Es stecken mir noch allerlei Unarten im Blut von meinen früheren Eselritten, aber habe nur Geduld, du bekommst doch noch einmal eine ganz vernünftige Frau an mir. Unser erstes Mädchen aber soll Annerl getauft werden, zu dankbarer Erinnerung an die glücklichen Klosterjahre ihres lieben Papas!


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