Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.

Der, den das aufgeregte Gespräch auf dem stillen Wiesenpfade zumeist betraf, ahnte nicht, welche neuen Gäste der Blaue Engel unter seine Fittiche aufgenommen hatte.

Auch wenn in der kleinen Stadt ein Windheimer Tageblatt erschienen wäre, das die Namen der angekommenen Reisenden der Einwohnerschaft mitgeteilt hätte, und diese Zeitung wäre, was höchst unwahrscheinlich war, im Kloster gehalten worden, hätte der Prior nichts von der Ankunft seines Weibes und Kindes erfahren. Denn auf Helenes Rat hatte Frau Juliane sich mit einem angenommenen Namen in das Fremdenbuch eingetragen, das der Wirt sofort in Person ihr vorgelegt hatte, aufs höchste von der Begierde gestachelt, zu wissen, was nun schon die zweite vornehme und reizende junge Dame unter sein bescheidenes Dach geführt haben möchte.

Daß die schöne Baronin oben eingelassen worden sei, um von dem Herrn Klostermaler abkonterfeit zu werden, hatte er von Hinrich ausgekundschaftet. Andreas wich allen Fragen aus. Auch er hätte freilich nicht verraten können, daß jener erste Besuch der fremden Dame dem Prior gegolten, da er's nicht wußte. Auch wär's nicht glaublich erschienen. Greiner stand im Ruf eines geschworenen Menschen- und zumal Weiberfeinds, da er die hübschesten jungen Windheimerinnen, die droben im Walde zuweilen seinen Weg kreuzten, keines Blickes zu würdigen pflegte.

Am Abend dieses Tages saß der einsame Mann in noch düstrerer Schwermut als sonst in seiner Zelle. Er hatte sich wieder an eine Arbeit gemacht, die ihn schon Jahr und Tag beschäftigte, eine Untersuchung über die Rolle, die in den Kriegen Friedrichs des Großen die Artillerie gespielt hatte. Doch so heiß er sich mühte, zu den angefangenen Studien zurückzukehren, seine Willenskraft versagte, und nach verschiedenen fruchtlosen Anläufen warf er die Bücher weg und streckte sich mit leisem Stöhnen auf sein Ruhebett.

Warum konnte er mit dem, was nun äußerlich abgetan war, in seinem Innern nicht zu Ende kommen? Nach dem letzten Sturm auf sein Vaterherz, den er so tapfer abgeschlagen, war ja eine Ruhe eingetreten, die nicht so leicht gestört werden konnte. Die kluge Unterhändlerin, die mit ihrem Parlamentären nichts erreicht hatte, war nicht wieder erschienen und hatte ihr Spiel offenbar aufgegeben. Nun würde das alte Leben und die strikte Observanz der Klosterregel wieder beginnen, aus der Welt, der er entflohen, würden keine lockenden Stimmen mehr zu ihm dringen, und wenn es auch kein volles Glück war, was diese Mauern ihm boten, eine Art Familie besaß er doch auch jetzt in den Freunden. Hatten sie ihm doch vor kurzem erst gezeigt, wie sehr sein Wohl und Weh ihnen am Herzen lag, da eine geringe Unpäßlichkeit sie um ihn besorgt gemacht.

Auch heute wäre er am liebsten für sich geblieben, schämte sich aber, seiner Schwäche nachzugeben, und fand sich bei der Abendmahlzeit im Refektorium ein. Doch kam es zu keinem Gespräch, das ihm den Druck von der Seele genommen hätte. Auch von den andern schien jeder in etwas Persönliches vertieft, was ihn unlustig und ungesellig machte. Carus ging die Szene nach, in der sich der Zorn der schönen Frau über ihn ergossen hatte, und Peter Paul dachte ihrer zwar ohne Verstimmung, aber mit einem leidenschaftlichen Gefühl der Entbehrung, da er heute an ihrem Bilde hatte malen müssen, ohne sie leibhaftig sich gegenüber zu haben. Auch Simon war mit ihr beschäftigt. Er hatte den Tag damit zugebracht, an der Widerlegung ihrer Einwürfe herumzudenken. Blieb noch der Kaplan, der aber ein großer Schweiger war und jetzt gerade mehr als je, und da Jürgen Rabes Interesse gänzlich von einer heftigen Debatte im Reichstag gefesselt war, von Politik aber unter den Kommensalen nicht gesprochen werden durfte, so saß auch er abwesenden Geistes am Tische und machte seinem inneren Wüten nur von Zeit zu Zeit durch abgerissene Worte und grimmige Naturlaute Luft, die von den anderen nicht beachtet wurden.

Auch die obligate Nachtmusik des Malers und Kaplans konnte die Geister heut nicht beruhigen. Nachdem die sechs noch ein Stündlein rauchend und düster vor sich hin blickend beisammen gesessen hatten, trennten sie sich früher als sonst, da nach gemeinsamer Lektüre keiner Verlangen trug.

Am andern Tage war es ein Glück für den Prior, daß häusliche Geschäfte ihn in Anspruch nahmen. An der Scheune, in der ihre Futtervorräte aufbewahrt wurden, war das Dach schadhaft geworden, und der Allkünstler Andreas hatte die Reparatur übernommen, um Zimmermann und Dachdecker zu sparen. Der Hauptmann beaufsichtigte die Arbeit und half mit allerlei technischem gutem Rat. Dem Braunen war ein Eisen locker geworden, das Hinrich mit des Klostervogts Hilfe wieder anschmieden mußte. So verging der Vormittag.

Nach dem Essen bestieg Greiner das Pferd und ritt in den Wald hinaus.

Es war ein herrlicher Maitag, durch die Zweige der frischergrünten Bäume wehte eine linde, leicht durchsonnte Luft, die Vögel, die eifrig an ihren Nestern bauten, flogen mit vielstimmigem Gesang durch das Dickicht aus und ein, und von fern klang zuweilen der Ruf des Kuckucks und das Hämmern des Spechts.

Als der Reiter aus dem Birkenhain heraus ins Freie gekommen war, breitete sich der unabsehliche Buchenwald vor ihm aus, dessen Wipfel wie ein auf- und abwogendes Meer dies Hochland bedeckten. Hier war's so feierlich still, daß wer die grüne Weite von einer Höhe überblickte und nirgend eine Grenze fand, sich wie auf der offenen See fühlen mußte, wo ringsum nur Himmel und Meer ihn umgab und kein Erdenstaub an sein Herz dringen konnte.

Auch Greiner empfand so. Zum erstenmal nach vielen Tagen fühlte er sich im Innersten still und beruhigt. Die Menschen, die er geliebt und dann sich vom Herzen gerissen hatte, sahen ihn mit ruhigen Geisteraugen an, und kein Wunsch, ihnen wieder zu begegnen, regte sich in ihm. Nur nach Frieden, Frieden lechzte er, und wenn man ihn gefragt hätte, ob er wünsche, daß im Walde drüben eine unterirdische Höhle sich öffnen, ihn aufnehmen und für immer sich hinter ihm schließen möchte, würde er ohne sich zu besinnen eingewilligt haben.

Noch eine Stunde setzte er seinen Ritt auf schmalen Wegen fort, im Schritt, immer in vollen Zügen den Frieden dieser Waldeinsamkeit einatmend. Dann kehrte er ebenso langsam um, und da er jetzt wieder auf wohlbekanntes Gebiet kam, ließ er den Zügel auf den Hals seines Tieres fallen und drückte die Augen halb ein.

Plötzlich stutzte der Braune und schien vor etwas zu scheuen, was er unfern vor sich am Wege erblickte. Greiner hob den Kopf und faßte die Zügel. War's ein Spukgesicht, was er kaum fünfzig Schritte entfernt erblickte? Es war nur das alte Kapellchen unter den Birken, an dem war er hundertmal vorbeigeritten, ohne daß sein Pferd die Ohren gespitzt hatte. Aber dort – vor der Bank die schwarze Gestalt, die sich eben wie eine Geistererscheinung erhob, und neben ihr das Kind, dessen helles Kleid sich so zart von dem Waldesgrund abhob – und jetzt dies feine helle Stimmchen, das aus dem kleinen Munde tönte: Papa! lieber Papa! – – und die dunkle Frauengestalt, die eine Bewegung machte, als ob sie sich auf die Erde niederwerfen wollte, daß der Hufschlag über sie hinwegginge – –

Ein kalter Schauer rieselte dem langsam Herangekommenen durch Mark und Bein. Mit einem Ruck hielt er das Pferd an und starrte einen Augenblick auf die Gruppe bei dem kleinen Heiligtum. Doch nur einen Moment. Dann riß er das Tier herum und sprengte in wilden Sätzen die Straße zurück, die er gekommen war, alsbald in einem der dunkleren Seitenwege verschwindend. –

Mit einem unterdrückten Schrei war die junge Frau im Trauerkleid vor der Bank zusammengesunken, das Kind neben ihr hatte sich zu ihr hingekniet, die zarten Arme um ihren Hals geschlungen und Mammi! Mammi! gerufen. Hinter der Kapelle aber trat hastig Helene hervor, das Gesicht glühend von heiligem Zorn, und blickte mit flammenden Augen dem Entfliehenden nach, hinter dem eben die Waldesnacht zusammenschlug.

Liebstes, teuerstes Herz, rief sie, die wie ohnmächtig Daliegende aufrichtend, fasse dich, halte dich aufrecht! O der unselige Mann! Ist es möglich, daß er euch sehen und so unmenschlich sich abwenden konnte! Komm, setz dich hier auf die Bank, denk, daß du das Maß deiner Demut und Reue erschöpft hast und alles Unrecht nun auf seiner Seele liegt. Sobald du dich ein wenig erholt hast, wollen wir gehn und überlegen, was nun zu tun ist. Wenn du mir folgst, so reisest du morgen in aller Frühe mit Hilde wieder ab, du mußt ihm zeigen, daß auch du einen Stolz hast, den du nicht in den Staub treten lassen kannst, daß es eine Grenze der Demütigung gibt, über die hinaus nur Entwürdigung liegt, die man sich selbst nicht verzeihen kann. Mein armes, geliebtes Herz, sieh nicht so verzweifelt ins Leere!

Sie hatte die Freundin auf die Bank gehoben und ihren Kopf an ihre Brust gedrückt. Da hörten sie das Kind sagen: War denn das auch wirklich mein Papa? Hat er uns denn erkannt? Und wie hat er wieder fortreiten können, ohne meine süße Mutter zu küssen?

Juliane erhob sich mühsam. Laß uns gehen, Liebste! Wenn er dennoch zurückkehrte, jetzt ertrüg' ich es nicht. Aber daß ich abreisen soll, kann dein Ernst nicht sein. Wohin sollt' ich auch? Ich habe in der Welt keine andere Stätte als hier, hier muß ich warten, bis er mich ruft, und wenn es nie geschähe, hier will ich sterben. Vielleicht daß er in meiner letzten Stunde kommt und mit einem Händedruck mir sagt, daß er nun doch bereue, mir das Herz gebrochen zu haben.


 << zurück weiter >>