Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Vierzehntes Kapitel.

Denn der Plan, von dem sie der Freundin geschrieben, daß sie sich zur Erreichung ihres Ziels viel von ihm verspreche, sollte gleich heute ins Werk gesetzt werden.

Sie wollte versuchen, Bundesgenossen für den Kampf mit dem starrsinnigen Manne zu werben, und zwar schien ihr keiner dazu geeigneter, als der welt- und menschenkundige Mann, der als Arzt auch in verwundete Seelen zu blicken und für chronische Gemütsleiden Heilmittel in Bereitschaft haben mußte. Wenn sie sich ihm anvertraute, ihn bewog, das Vermittleramt, in dem sie gescheitert war, nun seinerseits zu übernehmen, – vielleicht könnte er vom Wahn unheilbar verletzter Ehre die Seele des Versteinerten und Verstockten befreien. Auch würde sein Fürwort als eines Mannes mehr Gewicht haben als das einer Frau, der man das Verständnis von Ehrenfragen nicht zugestehen mochte.

Der Doktor, hatte sie gehört, war in den Wald gegangen, um Pflanzen zu suchen. Dem Prior dort zu begegnen, hatte sie nicht zu fürchten. Sie hatte erfahren, daß ihm nicht wohl zu Mute war, leiblich und geistig, was sie ihm von Herzen gönnte. Mochte er doch sich in seiner Klause einsperren und ein richtiges Fieber ausbrüten, in dem er von allerlei Phantasien der Reue und des Kummers heimgesucht würde! Um so mehr war zu hoffen, daß der Zuspruch eines verständigen Seelenarztes Eindruck auf ihn machen würde.

So ging sie um den zerstörten rechten Flügel herum durch das Blumengärtchen und die kleine Pforte, die zufällig unverschlossen war, und trat in den Hochwald hinaus.

Auch hier war die Luft beklommen, der Himmel, der über den Wipfeln hereinsah, grau und dunstig, statt der Vogelstimmen, die sonst durch die Zweige schwirrten, klang nur das heisere Geschrei der Krähen an ihr Ohr. Langsam schritt sie den breiten Weg entlang, der ins Weite hinauslief.

Als sie eine Viertelstunde gewandert war, kam sie zu einer Stelle, wo der Wald sich lichtete. Hier standen um eine alte verfallene Kapelle herum schöne schlanke Birken, und ein Bächlein lief durch den frischgrünen moosbewachsenen Grund. Auf das Bänkchen neben dem kleinen Heiligtum, in dessen Innerem nur ein Holzkreuz, doch ohne den Gekreuzigten, geblieben war, ließ sie sich nieder. Eine seltsame Zuversicht beseelte sie, daß der Mann, den sie erwartete, Rat wissen und Hilfe bringen würde. Sein feines, geistvolles Gesicht stand lebendig vor ihr, seine Stimme klang ihr im Ohr, sie konnte sich nicht vorstellen, daß auf irgend jemand das, was diese Stimme sprach, keinen Eindruck machen sollte.

Darüber war sie in einen leichten Schlummer gefallen und fuhr erschreckend in die Höhe, als ein lebhaftes Zwiegespräch in der großen Stille zu ihr heranklang. Es war auch eine bekannte Stimme, doch nicht die ihres erwarteten Bundesgenossen, eine sanftere, tiefere, die einer anderen von hellerer Farbe antwortete. Aus dem Grunde des Waldes sah sie den Professor und den Kaplan sich nähern, die, in einem eifrigen Gespräch begriffen, sie erst erblickten, als sie dicht an die Kapelle herangekommen waren.

Sie schwiegen sogleich. Simon nahm grüßend sein schwarzes Käppchen ab und blieb stehen, Warncke, der barhaupt war, verbeugte sich verlegen und ging hastig weiter. Helene stand auf.

Ich bedaure, daß das Begegnen mit mir Sie in Ihrem Gespräch unterbrochen hat. Bitte, Herr Professor, halten Sie sich nicht aus Höflichkeit hier auf, sondern gehen Sie Ihrem Freunde nach.

Unser Disput, erwiderte Simon lächelnd, ist einer von denen, die bis zum Jüngsten Tage zu keinem Ende kommen können. Es stehn sich zwei Weltanschauungen gegenüber, und der Unterschied ist nur, daß ich die seine wenigstens psychologisch begreife, während es ihm unfaßbar ist, wie man die Schwere des Lebens ertragen kann, wenn man über Gott und Welt so denkt, wie ich es tue. Da er eine so liebevolle Seele hat, sucht er immer wieder eine Brücke über die Kluft, die uns trennt, zu schlagen, und ich liebe ihn wie ein unschuldiges, liebenswürdiges Kind, das einem Märchen erzählt und fest daran glaubt und traurig wird, wenn man den Kopf dazu schüttelt. Dessen enthalte ich mich daher auch soviel ich kann, aber heute ließ ich mich doch einmal wieder verleiten, seine mystischen Träume mit dem Licht eines kühlen Verstandes zu beleuchten, was ihm weh tat, ohne daß es ihn aufgeweckt hätte.

Er hat einen anziehenden Kopf, sagte Helene, einen Bauernkopf, der aber durch eine schwärmerische Seele geadelt ist.

Sie bezeichnen sein Wesen sehr treffend, gnädige Frau. Was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht als Katholik getauft und erzogen wäre, kann niemand sagen. Vielleicht ein tiefsinniger Denker, der für das Weltgeheimnis eine Geist und Gemüt wundersam tröstende und befriedigende Formel gefunden hätte. Nun hat sich ihm die Tradition seiner Kirche so frühzeitig in sein weiches Gemüt eingeprägt, daß selbst sein großes Wahrheitsbedürfnis an dem Unbegreiflichen nicht zu rütteln, die Widersprüche nicht zu bestreiten wagt, bis auf gewisse Sätze, die selbst ihm zu ungeheuerlich erschienen. Daß er das offen aussprach, ist seinem äußeren Leben verhängnisvoll geworden und hat ihn aus dem bell'ovile, der schönen Hürde, hinausgedrängt. Aber er ist weit davon entfernt, darum an dem übrigen Dogmengebäude irre zu werden. Wer in solchen Anschauungen aufgewachsen ist, der hat das Organ für ein voraussetzungsloses Denken ein für allemal eingebüßt, wie wir's ja auch bei weit erleuchteteren katholischen und protestantischen Theologen sehen, daß sie plötzlich an einer gewissen Schranke stillhalten und was darüber hinaus liegt, nicht mehr zu begreifen versuchen, ja den Versuch für sündhaft halten. Und vielleicht ist das auch das klügste. Uns andere läßt ja auch unser Intellekt im Stich, indem wir uns gestehen müssen, daß wir uns mit der Frage nach dem Absoluten, dem Weltgrunde, der Ursache alles Seins auf ein Gebiet begeben, das jenseits der Grenzen des Erkennens liegt, und es gehört viel Mut dazu, trotzdem weiterzudenken, während ein kindlicher Mensch, wie unser lieber Kaplan, jeden Morgen Lebensfreude und Gewißheit seines Seelenheils gewinnt, wenn er in der Klosterkirche für sich selbst seine Messe gelesen hat.

Sie hatte sich wieder gesetzt und er den Platz neben ihr eingenommen. Manches, was er sagte, war ihr zu hoch, aber sie fühlte ein lebhaftes Verlangen, mehr von ihm zu hören.

Sie arbeiten an einem pädagogischen Werk, wie ich von Herrn Peter Paul gehört habe, sagte sie. Ich wäre sehr begierig, zu erfahren, wie Sie von unserer heutigen Kindererziehung denken. Zwar bin ich selbst kinderlos, aber das Töchterchen meiner liebsten Freundin ist ein sehr eigenartiges Kind, und ihre Mutter hat mir ihre Sorge geäußert, daß sie der Aufgabe, das junge Gemüt richtig zu behandeln, nicht gewachsen sein möchte.

Das Buch, an dem ich arbeite, erwiderte er, behandelt nicht die Erziehung im allgemeinen, am wenigsten die der Mädchen, über die ich keine Erfahrung habe. Mein Thema ist nur die religiöse Erziehung und zwar hauptsächlich die Frage, ob der Religionsunterricht in der Schule heilsam oder vom Übel sei. Meines Erachtens hat der Staat, von dem ja die Schule abhängt, überhaupt kein Recht, sich in diesen Zweig der Jugenderziehung einzumischen. Daß von einem christlichen Staat, in dem wir leben, überhaupt noch gesprochen werden kann, ist ein Widersinn, da er Duldung jeder religiösen Überzeugung zum Gesetz gemacht hat und folgerichtig auch den Kindern von Juden, Mormonen, Heiden und Türken, die seine Schulen besuchen, Religionsunterricht erteilen müßte. Wie das auf die unreifen jungen Seelen wirken muß, wenn sie so früh in den Zwiespalt des Meinens und Glaubens hineingerissen werden, liegt auf der Hand. Ist doch schon heute, wo sich's nur um zwei Konfessionen handelt, oft genug Unheil entstanden durch zwiespältigen Religionsunterricht. Aber diese schwerste und entscheidenste Angelegenheit des Menschen, wie er sich sein rätselhaftes Dasein in der Welt zurechtlegen und mit welchen Gedanken er die Bangigkeit der Zukunft beschwichtigen soll, gehört überhaupt noch nicht vor eine unmündige Phantasie und Intelligenz. Die Fragen, die selbst in einem Kinderherzen auftauchen, sollen nicht Antworten erhalten, die nur einen Märchensinn haben, sondern ausweichend von einem weisen, liebevollen Munde, des Vaters oder der Mutter, zur Ruhe gewiesen werden. Wie schwer ich darunter gelitten habe, daß ich auf mein vorwitziges Grübeln über die Geheimnisse des sogenannten Göttlichen einen unzulänglichen Bescheid erhielt und mir die traditionellen Antworten genügen lassen sollte, daran kann ich noch jetzt nur mit Kummer zurückdenken.

Mein Vater hatte sich aus äußeren Rücksichten taufen lassen, obwohl er im Herzen Jude geblieben war. Sie wissen, gnädige Frau, daß die Religion unseres Volkes die dogmenloseste von allen ist, daß jeder das Verhältnis zu der unerforschlichen Allmacht nach seinem Bedürfnis sich ausbilden kann. Aber mein Vater, um sich als eifrigen neuen Christen zu zeigen, heiratete die Tochter aus einem besonders gutgläubigen protestantischen Hause. Und unsre teure Mutter, die es mit ihrem Bekenntnis sehr ernst nahm, ließ es sich angelegen sein, in die Seelen ihrer Kinder schon sehr früh die Saat ihres Glaubens zu säen, die bei mir, der ich den hellen jüdischen Verstand meines Vaters geerbt hatte, nicht Wurzel schlagen wollte. So zwischen der leidenschaftlichen Liebe zu meiner Mutter und dem bohrenden Zweifel an ihren Überzeugungen verlebte ich unglückselige Jahre, und meine Konfirmation war ein tragisches Verhängnis. Ich brachte es nicht übers Herz, meinen Unglauben offen zu bekennen, um die Mutter nicht tödlich zu verwunden, und doch war ich nicht stark genug, an dem furchtbaren Worte zu zweifeln: Wer isset und trinket ohne den Glauben, der isset und trinket sein eigenes Gericht. Wie Sie hierüber denken, weiß ich nicht. Aber vielleicht überzeugen auch Sie sich, daß es wohlgetan wäre, eine redliche junge Seele nicht in eine so entsetzliche Lage zu bringen.

Es verging eine Weile, ehe sie sich zu antworten entschloß.

Ich maße mir nicht an, auf diese Frage, die seit unendlicher Zeit die weisesten Männer beschäftigt, eine entscheidende Antwort zu finden. Gewiß haben Sie recht: das Heil seiner Seele aus eigener Macht zu schaffen, alles prüfen, was seit Anbeginn an erlösenden Worten gelehrt worden ist, und das Beste behalten, das müsse die höchste Genugtuung eines redlichen Geistes sein. Aber wie viele haben dazu die Kraft und – den Mut? Werden nicht die meisten eingeschüchtert durch den Gedanken: Wenn wir nun beim besten Willen und innigsten Suchen den rechten Weg nicht finden und in die Irre geraten, wer hilft uns aus unsrer Not? Und wie kann man wissen, ob in einem jungen Kinde der Keim zu einem getrosten eignen Wahrheitsuchen steckt? Ist es nicht weiser, allen eine Stütze zu geben und abzuwarten, ob sie ihnen lebenslang genügt, oder von einigen weggeworfen wird, die in sich die Kraft fühlen, sich auf eigene Füße zu stellen? Mir scheint, Sie messen die große Mehrzahl der Menschen zu sehr nach Ihrem Maßstabe. Wie wenige sind eines klaren Erwägens und Erkennens fähig, und wie würden die anderen, Schwächeren die Kraft finden, trotzdem ihre Pflicht gegen sich und ihre Nebenmenschen zu tun, wenn ihnen nicht von früh an der Trost eingeflößt würde, der im gläubigen Vertrauen liegt auf eine liebevolle höhere Macht, möchten die Zeugnisse dafür auch vor dem Verstande nicht bestehen können.

Sehen Sie, fuhr sie fort, ich habe ein Beispiel davon erlebt, welche Wohltat es ist, wenn der Trost, der in einer unbedingten Gläubigkeit liegt, von früh an den unmündigen jungen Seelen eingeflößt worden ist. Auf unserm Gut lebte eine alte Person, die aus einem Bauernhause zu uns gekommen war und auf mancherlei Art sich nützlich gemacht hatte. Ein gutes, aber ganz ungebildetes Geschöpf, das nie an eigenes Denken gewöhnt worden, sondern nur für unbedingte Hingebung und Dienstbarkeit geschaffen war. In ihrem sechzigsten Jahr erblindete sie, zugleich wurde sie von einer schweren Gliederkrankheit befallen, so daß sie völlig hilflos ihr Bett nicht mehr verlassen konnte. Und doch ertrug sie ihr hartes Schicksal mit völliger Heiterkeit. Sie sagte sich in ihrer einsamen Kammer alle Gesangbuchlieder vor, die sie gelernt hatte und die ihr nach den Leiden der Zeitlichkeit einen ewigen Lohn im Himmel versprachen. Wäre diese Zuversicht nicht von Kindesbeinen an ihr Herz gedrungen, wie hätte sie der Verzweiflung widerstehen können!

Und es braucht nicht einmal eine arme Seele zu sein, die sich in ihrer Lebensnot an diesen Hoffnungsanker anklammert. Wie viele höher Begabte finden gleichwohl weder die Kraft noch den Mut auf eignen Füßen zu stehen! Gerade die Besten und Innigsten schmachten nach einer Erfüllung ihrer Sehnsucht, die Welt von einem warmen Herzschlag beseelt zu fühlen, was keine Philosophie ihnen geben kann. Ich selbst, lieber Herr Professor, habe an dieser Sehnsucht lange gelitten und gestehe offen, daß auch mein Verstand sich gegen den Glauben an die dogmatische Christenlehre gesträubt hat. Wie glücklich ich war, als endlich ein alter Freund mich auf Schleiermachers Schriften verwies, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich zweifle, daß ich alles darin verstanden habe. Aber daß auch ich in meiner Jugend mit dem auferzogen bin, was Sie Märchen nennen, hat mich nicht gehindert, mich dieser reineren und höheren religiösen Erkenntnis hinzugeben.

Wir sind von unserm Hauptthema abgekommen, verehrte Frau, sagte er, indem er aufstand. Es handelt sich vor allem darum, ob man von Staats wegen das Recht habe, den Eltern die Verantwortung für die religiöse Erziehung abzunehmen, oder sie ihnen zu lassen, wobei es freilich auch an Mißgriffen nicht fehlen kann. Doch ist es damit nicht anders, als wenn den Eltern die Freiheit genommen werden sollte, für die leibliche Pflege der Kinder nach ihrem Gutdünken zu sorgen. Davon sind wir freilich noch weit entfernt, daß der Staat die Sache der Religion überhaupt nicht mehr zu der seinigen mache. Aber daß er die Schule dazu mißbrauche, das wird durch die fortschreitende Kultur doch in nicht allzu ferner Zeit zu erreichen sein, mag die Familie sich dann zur Kirche verhalten, wie es ihr Bedürfnis ist. Über diesen Punkt, glaube ich, werden wir uns vereinigen, verehrte Frau. Denn so triftig das ist, was Sie eingewendet haben, dieser letzte Punkt ist damit nicht berührt. Ich muß jetzt leider ins Kloster zurück, da ich mit dem Prior etwas Geschäftliches zu besprechen habe. Bleiben Sie noch einige Zeit in der Stadt?

Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich.

Dann möchte ich mir erlauben, Ihnen, was von meinem Buch bereits lesbar ist, vorzulegen, um Ihr Urteil darüber zu hören.

Wenn Ihnen an dem Eindruck liegen kann, den eine ganz ungelehrte Frau davon empfängt – jedenfalls kann mir nichts erwünschter sein, als in meiner Einsamkeit unten mich mit einer so wichtigen Frage zu beschäftigen.

Es kam ihr der Gedanke, ob sie nicht, da Carus auszubleiben schien, den trefflichen Mann neben ihr, dem es mit sittlichen Problemen so ernst war, zum Vertrauten machen und ihm ihre Sorge wegen Greiner ans Herz legen sollte. In diesem Augenblick aber sah sie den Doktor aus der Tiefe des Waldes herankommen. Er grüßte sie schon von fern, indem er seinen Hut schwenkte, und sie stand unwillkürlich auf und erwiderte winkend seinen Gruß. Ich bin froh, sagte sie, Doktor Carus hier zu begegnen; ich habe etwas mit ihm zu besprechen, aber Sie sind nicht zu viel dabei, wertester Herr Professor.

Ich muß mich, wie gesagt, empfehlen. Also das Manuskript darf ich Ihnen schicken? Notieren Sie nur gleich am Rande, wo Sie ein Bedenken haben.

Er grüßte zu Carus zurück und entfernte sich.

Der Doktor war inzwischen herangekommen und bliebt bei Helene stehen. Er sah sehr heiter aus.

Hat Ihr Quälgeist im Refektorium Sie schon freigegeben? fragte er. Sie erweisen nicht nur unserm Peter Paul, sondern uns allen einen Dienst durch Ihre Güte und Geduld, den wir nie genug danken können.

Es ist keine große Geduldsprüfung, am wenigsten heute, wo die Sitzung bei dem trüben Licht nur kurz sein konnte. Aber Sie, war es für Sie hell genug, um zu finden, was Sie suchten?

Er öffnete schweigend die kleine Botanisiertrommel, die er umgehängt hatte, und zog drei unscheinbare Pflänzchen von seltsamer Form und Farbe hervor.

Kennen Sie diese Blüten, gnädige Frau?

Sie betrachtete sie durch die Lorgnette.

Es ist Polemonium, sagte sie, ohne sich zu besinnen, während ein schalkhaftes Lächeln um ihren roten Mund spielte.

Himmlische Mächte! rief er und starrte sie mit großen Augen an, ist es zu glauben? Ich habe Ihnen alles mögliche und unmögliche zugetraut, aber daß Ihre botanischen Kenntnisse so weit reichen, auf den ersten Blick eine Pflanze zu bestimmen, die sich zufällig auch nach unserm Nonnberg verirrt hat, das grenzt an das Überirdische, das muß ein Geist Ihnen zugeraunt haben.

Der Geist trug einen Malkittel und war damit beschäftigt, die Kardinaltugend der Anmut mit diesem seltenen Pflänzchen zu schmücken. Soll ich Ihnen erst seinen Namen nennen?

Nun lachten sie beide, und Carus sagte: Peter Paul hat recht, an diesen Platz gehört auch diese Blüte, die einen so unvergleichlich feinen Duft hat. Wollen Sie sie nicht mitnehmen und zu Hause ins Wasser stellen? Und mir auch erlauben, einen Augenblick hier bei Ihnen auszuruhen? Ich habe mich zwischen Stein und Dorn müde gelaufen.

Sie nahm die Pflänzchen und steckte sie an ihren Busen. Dann sagte sie ernst: Ich war Ihnen entgegengegangen. Ich möchte Sie um Ihren Rat bitten, ja mehr noch, um Ihren Beistand.

Und nun erzählte sie ihm, was sie hierher geführt, und wie ihr heißestes Bemühen bisher an dem Kaltsinn des unglücklichen Mannes gescheitert war.

Ich habe alles erschöpft, was mir an Mitteln zu Gebote stand. Jeder Zugang zu ihm, selbst nur zu seiner Person, ist mir verschlossen. Wenn noch etwas zu hoffen ist, kann es nur einem Manne gelingen, vor dem er Respekt hat, gegen dessen Argumente er sich nicht von vornherein verschließen wird. Sie sind sein Freund. Wenn er sieht, wie sein Betragen, seine starre Unerbittlichkeit in den Augen eines Mannes sich ausnimmt, den er schätzt, dessen Urteil ihm maßgebender ist als das einer Frau, die er sentimentaler Regungen bezichtigt, wird er doch endlich seinen Sinn ändern und der Stimme der Natur und des Herzens Gehör geben.

Sie hatte sich so in Eifer geredet, daß ihr Gesicht glühte. Ihre Augen glänzten und die goldblonden Brauen zogen sich zusammen zum Ausdruck sittlicher Entrüstung, als sie davon sprach, wie der harte Mann jeden Versuch der jungen Frau, Begnadigung zu erlangen, mit schroffer Kälte abgewiesen hatte. Der Doktor, der sie unverwandt betrachtete, glaubte sie nie schöner gesehen zu haben.

Verehrte Frau, sagte er, nachdem er eine Weile schweigend dagesessen hatte, Sie sind hoffentlich überzeugt, daß ich es als eine besondere Gunst betrachten würde, was Sie irgend von mir wünschen möchten, für Sie zu tun, je schwerer, desto besser. Der Dienst aber, den Sie jetzt von mir erbitten, verstößt nur leider gegen die Klosterregel, die wir, gerade weil sie ungeschrieben ist, desto strenger beobachten. Keiner von unsrer Brüderschaft nimmt sich heraus, in das geheime Innere eines Zellennachbars einzudringen. Jeder weiß oder glaubt vom andern zu wissen, daß er guten Grund habe, der Welt den Rücken zu kehren, und ein weniges auch von dem, was diesen Grund begründet. So wissen wir auch von unserm Prior, daß er draußen in der Welt Weib und Kind zurückgelassen hat, die ihm ewig fremd bleiben sollen. Nach dem, was Sie mir eben anvertraut haben, scheint es auch mir, daß eine gewisse Überreizung des Ehrgefühls in ihm fortdauere, von der er sich endlich befreien sollte. Wenn das aber möglich ist, kann es sich nur in ihm selbst vollziehen. Es gibt Krankheiten, deren Heilung man der Natur überlassen muß, denen jeder ärztliche Eingriff nur nachteilig wäre. Der beste Arzt ist oft die Zeit, der man aber Zeit lassen muß, ihr stilles Werk zu verrichten. Wenn ich nun gegen die Klosterregel verstoßen und unserm Freunde vorstellen wollte, daß es zu seinem eigenen Glücke sein würde, zu verzeihen, die Frau, die im Konflikt der Pflichten gegen Vater und Gatten nicht das rechte ergriffen, den Irrtum ihrer Jugend nicht ewig büßen zu lassen – wie ich den Prior kenne, würde ihn das in seiner Unerbittlichkeit nur bestärken. Ich aber hätte es auf immer mit ihm verschüttet, und er könnte mit Recht sagen, daß über das, was er seiner Ehre und Manneswürde schuldig sei, niemand ein Urteil zustehe, als ihm selbst.

Sehen Sie, gnädige Frau, fuhr er nach einer Pause fort, ich bin ein Gegner der Vivisektion, nicht einer jeden, sondern wie sie heutzutage gewissenlos von ganz Unberufenen betrieben wird und eine unglaubliche Gemütsroheit unter der großen Menge stiftet. Auch dadurch habe ich mich mit den Leuchten meiner Wissenschaft in Zwiespalt gesetzt und bin unter den Kollegen unmöglich geworden. Aber selbst wenn ich bei unserm Freunde das Experiment machen und seine feinsten sittlichen Nervenfasern aufdecken wollte, das letzte Verständnis für das, was seine Handlungen und Entschlüsse bestimmt, bliebe mir doch verborgen. Die entspringen aus einem unnahbaren Punkt im Innersten der Persönlichkeit, über die hat kein dritter Gewalt. Und so würde ich das, was Sie beklagen, nur verschlimmern und Ihnen und Ihrer Freundin einen schlechten Dienst erweisen. Ich hoffe, Sie begreifen meine Stellung zu der Sache.

Sie hatte ihn mit finsteren Augen und einer Miene, die sich mehr und mehr verdüsterte, angehört und stand nun rasch auf.

Nein, sagte sie, ich begreife nur, daß Sie sich scheuen, einen Schritt zu tun, der Ihr bisheriges freundschaftliches Verhältnis zu Ihrem Zellennachbar stören könnte. Daß Sie klug und vorsichtig damit verfahren, gebe ich zu. Hochherzig und menschenfreundlich kann ich es nicht finden. Wer so handelt, der fragt nicht, wenn er einen Nebenmenschen retten will, ob er selbst dabei zu Schaden kommen und seine Gemütsruhe für die Zukunft verlieren möchte, der geht, ohne rechts und links zu sehen, auf das Ziel los, und die Begriffe von Klosterregeln oder gesellschaftlicher Diskretion, die man einander schuldig sei, machen ihn keinen Augenblick irre. Was aber zu Ihrer Entschuldigung dient, ist, daß Sie meine Freundin nicht kennen und nicht die warme Sympathie für sie fühlen können, die mich angetrieben hat, um jeden Preis ihr zu Hilfe zu kommen. Und so entschuldigen Sie mich, wenn ich heftig geworden bin, und lassen Sie uns auf die Sache nicht mehr zurückkommen. Ich muß mich von Ihnen verabschieden. Ich erwarte unten einen Brief zu finden, auf den ich sehr gespannt bin. Adieu, Herr Doktor!

Sie verneigte sich leicht gegen ihn und schlug rasch den Rückweg nach der Stadt ein, der von dem mittleren Waldwege abzweigte und in die Fahrstraße nach der Stadt hinunter einmündete.

Er aber saß noch lange auf der Bank bei der Kapelle. Ihre leidenschaftlichen Worte, weit entfernt, ihn zu kränken, hatten ein Gefühl wie wonnige Betäubung in ihm zurückgelassen, dem er sich in einer Art süßer Träumerei hingab. Er schloß die Augen, um durch nichts in der Erinnerung an das schöne Gesicht gestört zu werden, das so glühend in edlem Eifer und unerschrockenem Mut ihn angeblickt hatte. Solch eine Frau! sagte er vor sich hin. Solch eine Frau! Und doch – ich wollte, ich wäre ihr nie begegnet! – –


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