Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Als der Professor durch das Tor in die Stadt eintrat und die schmutzige Flut überblickte, die oben bis über die Kellerfenster und weiter unten bis über die Erdgeschosse die Breite der Straße ausgefüllt hatte, dazu die Menschen, die mit überwachten Gesichtern ratlos aus den oberen Fenstern in das Unheil hinabstarrten, fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er nicht die geringste Macht hatte, in irgendeiner Weise hilfreich zu sein.

Der starke Regen hatte aufgehört, es rieselte nur noch sacht aus den schwer geballten Wolken herab, die sich aber doch schon zu lichten begannen. So war ein Steigen des Wassers nicht zu befürchten, und er rief diesen Trost auch, so laut er konnte, einigen alten Frauen hinauf, die er die Hände ringend aus einem der nächsten Häuser schauen sah. Da wurde seine Aufmerksamkeit auf einen Knaben gelenkt, der mitten auf dem Straßendamm kniete, dicht am Saum der Flut, und mit ausgestreckten Armen über die unbewegte Fläche nach einem dunklen Punkt deutete, der sich etwa dreißig Schritte weiter unten im Wasser bewegte. Seine Mütze schwamm unweit von ihm, ohne daß er daran dachte, sie herauszufischen, er war barfuß und nur mit einer dünnen Hose und Jacke bekleidet, das Haar um die Stirn gesträubt, das blasse Gesicht ganz von Tränen überströmt, während er beständig schluchzend hin und her rutschte und jammernd nur immer Mutter! Mutter! rief.

Rasch war Simon zu ihm hingeeilt, hatte ihn aufgerichtet und mit seinem Taschentuch ihm das Gesicht zu trocknen gesucht, das immer neue Tränen überströmten. Nur mit Mühe brachte er aus dem Knaben, der nicht über acht Jahre sein konnte, heraus, in einem der Häuser unten habe er mit seiner Mutter gewohnt, einen Vater habe er nicht mehr, vor einer Stunde habe ihn die Mutter geweckt, um hinauszuflüchten, da das Wasser plötzlich bis zu ihrem Hause herangestiegen sei, und sie seien schon auf dem Trocknen gewesen, da sei der Mutter eingefallen, daß sie einen Strumpf mit ihrem bißchen Spargeld droben vergessen, und sie habe ihm befohlen, nur immer weiter nach oben zu rennen, sie müsse noch einmal zurück, werde ihn aber bald wieder einholen.

Oben, als das Wasser dann endlich stillgestanden, habe er sich umgewendet und nach ihrem Haus zurückgeschaut, dessen Treppe bereits überflutet gewesen. Da sei die Mutter herausgekommen und habe sich angeschickt, durchzuwaten, aber plötzlich sei sie umgesunken und im Wasser verschwunden, alsdann freilich wieder zum Vorschein gekommen, aber ohne sich zu rühren, das Gesicht nach unten gekehrt, so daß er nicht gewußt habe, ob sie sein Rufen und Schreien noch habe hören können. Er habe versucht, bis zu ihr hinzudringen, das Wasser sei aber zu tief gewesen, er habe zurück müssen, und jetzt sei niemand da, die Mutter herauszuholen.

Simon maß die Entfernung und war eben im Begriff, sich zu der Untergesunkenen durchzuarbeiten, als er Carus aus der Apotheke treten sah. Er rief ihn an und verständigte ihn mit wenigen Worten, um was sich's handelte. Nun lag noch der Kahn, in dem Helene gerettet worden war, auf dem trocknen Pflaster, die beiden Männer stiegen ein und lenkten ihn mit wenigen Ruderstößen nach der Stelle, wo die dunkle Masse aus dem Wasser hervorragte. Nicht ohne Mühe zogen sie die leblose Frau in den Nachen und ruderten aufs Trockne zurück, wo der Knabe sie laut jammernd empfing und die nasse Gestalt umklammerte.

Sie ist tot, flüsterte Carus dem Freunde zu, nachdem er sie untersucht hatte. Ein Herzschlag hat sie getroffen, als sie in ihrer Angst in das kalte Wasser stieg. Wir wollen sie in das nächste Haus tragen. Sie nehmen sich wohl des armen Jungen an. Er ist ganz durchnäßt und könnte ein Fieber bekommen.

Es war nicht leicht, das Kind von der Mutter zu trennen. Erst als Simon ihm sagte, sie schlafe und er dürfe sie nicht stören; sobald sie aufwache, werde man ihn zu ihr bringen, ließ er sich so weit beruhigen, daß er an Simons Hand sich entfernte und neben ihm den Weg zum Kloster hinaufwankte, da er an allen Gliedern zitterte und immer wieder in ein krampfhaftes Weinen ausbrach.

Die letzte Strecke mußte sein Schützer ihn tragen, doch konnte er ihn oben, als sie den Hof betraten, wieder auf seine Füße stellen. Er führte ihn sogleich zu seiner Schlafzelle hinauf, entkleidete und trocknete ihn und steckte ihn in sein eigenes Bett, ihn über und über zudeckend. Als er dann auf den Gang hinauseilte, wo er Schritte gehört, traf er auf Andreas, der eben das kleine Bett Evchens heraufgetragen hatte, da Frau Marianne es nicht anders tun wollte, als daß ihre Kleine bei ihr im Bett schlafen und Hilden das ihre abtreten sollte.

Ich hab' einen Knaben heraufgebracht, dessen Mutter ertrunken ist, sagte Simon. Laufen Sie in die Küche und schaffen irgendein heißes Getränk, Tee oder Milch, daß der arme Kerl sich erwärmt. Er weiß noch nicht, daß er verwaist ist. Er scheint ein weiches Herz zu haben und sehr an der Mutter zu hängen. Eilen Sie, lieber Andreas!

Der aber stand regungslos.

Was haben Sie? Sie sehen doch, daß rasch dazugetan werden muß.

Die eine Lampe im Korridor gab nur ein so zweifelhaftes Licht, daß er das Gesicht des stumm Dastehenden nicht deutlich erkennen konnte. Er bemerkte aber, daß der große starke Mensch Mühe hatte, sich aufrecht zu halten.

Heiliger Gott! hörte er ihn murmeln. Daß es so enden mußte! 's ist der Friedel – ich hab' ihn erkannt, als Sie ihn heraufbrachten – ich konnt' nicht gleich mich rühren – tot, also tot! Gott im Himmel, so umzukommen!

Sie hören ja, Andreas, das Kind lebt, nur die Mutter –

Ja, ja, die Mutter, ich weiß – o Herr Professor, wenn Sie wüßten! Aber Sie haben recht, ich muß in die Küche, er muß was Warmes trinken – Gott, mein Gott – die Frau – der arme Junge! –

Er raffte sich mühsam auf und rannte die Treppe hinunter.

Als er nach zehn Minuten zurückkam, eine Kanne mit heißer Milch tragend, fand er Simon in seinem Zimmer, der das Gefäß ihm abnahm.

Wollen Sie's ihm nicht selbst bringen?

Nein, nein! Es würd' mich zu sehr angreifen. Das Gesicht des Jungen – ich bin ihm immer aus dem Weg gegangen. Sagen Sie mir, Herr Professor, was ich sonst noch tun soll?

Warten Sie hier!

Simon trug die Milch hinein, es dauerte lange, bis er wieder herauskam.

Er schläft und ist schon warm geworden. Nun erzählen Sie mir!

O Herr Professor, sagte der tief Erschütterte, der auf einen Stuhl gesunken war, es wird Sie nicht interessieren, 's is 'ne elende Geschichte und schon zehn Jahre her, daß sie passiert ist. Ich war zwanzig, hatt' eben ausgelernt als Schreiner und mußt' zum Militär. Damals ging ich mit einem hübschen Mädel, blutarm, aber fleißig und ordentlich, die beim Herrn Rektor in Dienst war als Kindermädchen. Marie, sagt' ich, du bist meine richtig verlobte Braut, bleib mir treu; wenn ich vom Militär frei werd' in drei Jahren, heiraten wir. So ging ich ganz getrost fort, auf die Marie, dacht' ich, könnt' ich Häuser bauen, auch schrieben wir uns das erste Jahr ziemlich oft, dann hört' es von ihrer Seite allmählich auf, sie habe arg viel zu tun. Von meinen Leuten hört' ich auch nichts über sie, die hatten unsern Verspruch nicht gern gesehn und mir eine reichere Partie gewünscht. Na, ich hab' die Tage und Monate gezählt und gedacht, ich komm' ja bald los, dann geht's wieder mündlich ohne das teure Porto.

Wie ich dann aber meinen Abschied hatt' und nach Hause komm' –

Ich will's kurz machen, Herr Professor. 's is ja auch nichts Neues und passiert alle Tage, daß einem der Teufel Unkraut in den Weizen sät. Mein Alter erzählte mir's gleich beim Wiedersehn und gaudierte sich im stillen darüber: mit meiner Brautschaft war's aus, ein anderer hatte mein Mädel herumgekriegt, der Sohn eines reichen Torfhändlers, ein gelernter Schürzenjäger, hab' ihr erst lange nachgestellt und endlich das dumme Ding nach einem Tanzvergnügen, wo er ihr mit süßem Wein zugesetzt – na, geschehen war geschehn – es war nichts mehr zu machen.

Aber etwas doch noch. Sie ging mit einem Kinde, und der Schuft leugnete sich von ihr weg. Da aber kam er bei mir an den Unrechten.

Eines Abends paßte ich ihm auf, als er von einem Torflager seines Vaters übers Moor nach der Stadt zurückging. Auf dem schmalen Fußweg zwischen der Sumpfwiese stell' ich ihn und frag' ihn kurzweg, ob er die Marie heiraten wolle. Er lacht mir höhnisch ins Gesicht und will mich beiseite schieben, um den Weg frei zu haben. Ich aber pack' ihn am Hals und frag' ihn noch einmal, und als er nur erwidert, ich sollt' mich zum Teufel scheren und mich nicht um Dinge kümmern, die mich nichts angingen, fass' ich ihn bei den Schultern und schmeiß' ihn von dem schmalen Damm ins Moor hinein, daß er brüllt wie ein gestochenes Rind. Er will sich aufrappeln, ich aber setz' ihm die Fäuste auf die Brust und ruf' ihm zu, ich würd' ihn verrecken lassen wie einen Hund, wenn er mir nicht einen Schwur tät', der Marie die Ehre wiederzugeben und sie zu heiraten.

Dann ist alles gekommen, wie Sie denken können.

Was aus einer Hochzeit werden muß, die im Sumpf gestiftet worden ist, ist klar. Er hat sie empfinden lassen, daß er ihr geschworener Feind war, und auch das Kind hat er schlecht behandelt. Dann hat er sich aufs Trinken verlegt, Schulden gemacht und ist endlich verduftet. Nach zwei Jahren ist er irgendwo in der Fremde verstorben.

O Herr Professor, wie oft hab' ich mich einen Esel gescholten, daß ich's dahin gebracht hatte! Denn ich war schuld an ihrem ganzen Elend. Ich hätt' das Kind ruhig sollen zur Welt kommen lassen und dann für beide sorgen, statt sie mit dem gottverdammten Buben zusammenzupferchen. Wie das Übel mal geschehen war, und weil das arme Ding ja dazu gekommen war ohne zu wissen wie – nee, sie war noch tausendmal zu gut für den Schuft, und Ehre konnte nicht dabei sein, seine Frau zu heißen.

Das hat so an mir gefressen und mein ganzes eigenes Leben verpfuscht, daß ich seitdem keine frohe Stunde haben konnte. Auch daß ich dafür gesorgt hab', sie und den Jungen nicht in Hunger und Elend verkommen zu lassen, hat mir nicht viel geholfen. Ich mocht' in der Stadt nicht bleiben und mein Handwerk ausüben, sondern war froh, daß die Herren mich hier oben in Dienst nahmen. Denn ich bekam jedesmal einen Stich ins Herz, wenn ich unten dem vergrämten und abgebleichten Gesicht meiner ehemaligen Liebsten begegnete, und auch ihrem Sohn, ein so lieber Bub er war, artig und auch fleißig in der Schul', bin ich ausgewichen, weil er seiner Mutter aus dem Gesicht geschnitten war. Ich werd' ja auch in Zukunft für ihn sorgen, aber bei mir behalten kann ich ihn nicht. Das ist wie wenn ein Gaul eine Wunde auf dem Rücken hat, und man legt ihm täglich den schweren Sattel auf. Davon kann ein armes Tier den Koller kriegen.

Er stand auf und entschuldigte sich, daß er den Herrn Professor so lange aufgehalten.

Andreas, sagte Simon, ich danke Ihnen, daß Sie mir diese traurige Geschichte anvertraut haben. Ich begreife alles, was Sie mir von Ihrem Verhältnis zu dem armen Verwaisten sagen, und möchte Sie nur versichern, daß Sie sich seinethalb keine Sorge zu machen brauchen. Sehen Sie, ich habe meinen eigenen lieben Sohn auf eine sehr schmerzliche Weise verloren. Er war fast im gleichen Alter, wie Ihr Friedel. Nun seh' ich's als einen Wink des Himmels an, daß mir dies Kind beschert worden ist, an das niemand Ansprüche zu machen hat, und will ihm ein guter Vater sein. Wenn sein Anblick Ihnen jetzt noch weh tut, – vielleicht kommt die Zeit, wo Sie gern wieder das junge Gesicht sehen, das Sie an eine teure Verlorene erinnert. Bis dahin überlassen Sie mir alles weitere!


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