Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Er hatte den Bürgermeister besucht, um über das, was er eigenmächtig getan, Rechenschaft abzulegen. Der sieche alte Mann, der ihn in seinem Großvaterstuhle sitzend, mit den dickumwickelten gichtischen Beinen empfangen hatte, war voller Dankbarkeit und gab seinem bewährten neuen Stellvertreter Vollmacht, in Gemeinschaft mit dem Ingenieur alles Nötige zu beschließen.

Dessen war so viel und mannigfaltiges, daß die folgenden Tage den Prior nur bei den Mahlzeiten droben im Kloster sahen. Im übrigen ging das Leben dort seinen ruhigen Gang. Helene, die in einem Zimmerchen Frau Mariannes, das bisher zur Garderobe gedient hatte, einquartiert worden war, hatte zu ihrem Bilde noch ein paarmal gesessen, Simon den neuen Sohn nach dem Begräbnis der Mutter in aller gesetzlichen Form sich angeeignet, die Kinder aber von früh bis spät sich im Freien getummelt, wobei der kleine Neuling sich viel gefallen ließ und sogar Neros Stelle vor dem Wäglein vertrat, in welchem Hilde und Evchen jetzt wie zwei kleine Prinzessinnen herumkutschierten.

Nach vier, fünf Tagen aber kam Greiner eines Abends in großer Erschöpfung in seine Zelle zurück, klagte über einen heißen Kopf und bleierne Füße, und Carus, der ihn sogleich untersuchte, erklärte, daß es ein Anfall des eigentümlichen Sumpffiebers sei, das in der Windheimer Tiefebene besonders nach Regenzeiten, wenn das Grundwasser steige, seine Opfer fordere.

Er schickte den Erkrankten sogleich ins Bett, ordnete alles zur Bekämpfung des Übels Erforderliche an und überließ ihn der liebevollsten Pflegerin, die er mit der Versicherung beruhigte, in einigen Tagen werde alles überstanden sein.

Das bewährte sich auch, indem das Fieber den kräftigen Mitteln nicht widerstand und nach acht Tagen verschwunden war. Aber eine seltsame Schwäche an Leib und Seele war zurückgeblieben, Unfähigkeit und Unlust sich zu bewegen oder auch nur ins Freie zu gehn, und eine elegische Stimmung, die sich einmal sogar in einem Weinkrampf entlud.

Er konnte stundenlang am Fenster sitzen, dem südlichen, das nach der Stadt hinunterging, in tiefem Sinnen, das aber nie zu Worte kam, auch nicht, wenn seine besorgte Frau ihn fragte, was ihn nachdenklich mache und ob er noch etwas verlange, das doch am Ende erreichbar wäre. Er nahm dann wohl ihre Hand, zog sie an seine Lippen und schüttelte stumm den Kopf. Einmal sagte er auf eine solche Frage: Laß mich nur, liebes Herz. Ich war so lange Zeit wie ein lebendig Begrabener, der in einem tiefen Schacht verschüttet lag. Nun arbeite ich mich langsam wieder hervor, aber das Licht, das mir am Ausgang winkt, tut mir noch weh, und wohin sich draußen mein Weg wenden soll, ahn' ich noch nicht!

Nur die Besuche des Ingenieurs, der ihm zuweilen als dem Stellvertreter des Bürgermeisters über den Fortgang der Arbeiten berichtete, vermochten ihn aus seinem wunderlichen Traumzustand herauszureißen. Er bot ihm dann eine Zigarre und konnte auch von seinen Projekten für künftige Unternehmungen sich nicht genug erzählen lassen.

Und endlich, am Schluß der dritten Woche, nachdem er die ganze Zeit seine Zelle nicht verlassen hatte, kleidete er sich zum Ausgehen an und forderte seine Frau auf, ihn nach dem Fluß hinunter zu begleiten.

Sein Erscheinen machte Aufsehen, nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch bei den Zuschauern aus der Stadt, die, da vorläufig von ihrem Angeln keine Rede sein konnte, wenigstens die Stätten ihrer früheren stillen Freuden wieder aufsuchten.

Die frische Luft und Bewegung taten ihm gut, er schien plötzlich den letzten Schritt aus der Verschüttung herausgetan zu haben, aß wieder mit den andern und stand am andern Morgen als ein verwandelter oder vielmehr als der Mensch, der er vorher gewesen war, auf, nur mit erfrischten und gereinigten Kräften.

Da empfing er Botschaft vom Bürgermeister: da er sich von seiner Erkrankung nun völlig erholt zu haben scheine, möge er die Gefälligkeit haben, sich um zehn Uhr vormittags im Rathaus unten einzufinden, um eine wichtige Mitteilung entgegenzunehmen.

Das Windheimer Rathäuschen, nur aus Fachwerk gebaut und mit einem Türmchen versehen, war eines der ältesten Gebäude der Stadt, vier Fenster breit, hinter denen im oberen Geschoß der kleine Saal lag, in welchem alle friedlichen Akte vor sich gingen. Der Raum war niedrig, eine Balkendecke hing, vom Alter gebräunt, etwas schief und den Einsturz drohend herein, unten an den Wänden lief eine braune Vertäfelung hin, über der auf weiß getünchtem Grunde alte Bildnisse früherer Bürgermeister hingen, so stark nachgedunkelt und vom Rost der Jahre geschwärzt, daß man die Gesichter kaum noch erkennen konnte.

Als Greiner, den der Ratsdiener unten abgewartet hatte, in diesen bei aller Einfachheit doch immer eindrucksvollen Raum eintrat, sah er die Väter der Stadt schon versammelt, an der Langseite eines grün bedeckten Tisches, wie ein Richterkollegium, das einen armen Sünder erwartet.

In der Mitte saß in einem mit Kissen ausgestopften Lehnstuhl der Bürgermeister, trotz seines Leidens in feierlichem schwarzem Anzug, die Amtskette umgehängt. Zu seinen Seiten der Major und der Brauereibesitzer, dem der Sommerkeller gehörte, dann der Steuereinnehmer, der Kreisphysikus und ein halb Dutzend Gemeindebevollmächtigter geringeren Grades, an beiden Enden des Tisches die beiden Pfarrer, die in diesem weltlichen Kollegium nur Sitz und keine Stimme hatten, aber durch klugen Beirat oft die Beschlüsse der minder gebildeten Kollegen lenkten.

Ein einziges Mitglied der städtischen Behörde fehlte, obwohl es gleich allen andern die Ladung richtig erhalten hatte: der Wirt vom Blauen Engel. Seitdem er sich auf seinem nächtlichen Abenteuer hatte ertappen lassen, vermied er, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, und wurde auch von den Kollegen im Rathaus nicht vermißt, denen sein windiges Wesen von jeher nicht eben zugesagt hatte.

Die gesamte Körperschaft aber erhob sich, als Greiner erschien, von ihren Sitzen, um sie sogleich wieder einzunehmen, nachdem der Geladene auf dem bereitstehenden Sessel ihnen gegenüber Platz genommen hatte. Nur der Bürgermeister, so sauer es seinen gichtgeschwollenen Gliedern wurde, blieb stehen, um dem Hauptmann feierlich zu eröffnen, aus welchem Grunde man ihn herzitiert habe.

Er tat dies in durchaus schicklicher und gewandter Weise, da er ein gescheidter Herr war, der wohl zu repräsentieren verstand. Auch hatte er ein Jahr lang Jura studiert, dann aber die Universität verlassen, um sich in seiner Vaterstadt mit Erfolg der Landwirtschaft zu widmen, bis man ihm das Amt des Bürgermeisters übertragen hatte, des »rechtskundigen«, wie er, obwohl nicht ganz dazu berechtigt, seinem Titel stets hinzufügte.

Nun hielt er eine kleine, wohlgesetzte Rede, in welcher er dem werten Herrn, der sich in jüngster Zeit um das Wohl der Stadt so hochverdient gemacht, überdies seine hochherzige Gesinnung durch die ansehnliche Schenkung der Steine an den Tag gelegt hatte, nach einstimmigem Magistratsbeschluß das Ehrenbürgerrecht ihrer Stadt erteilte, worüber in der rot und golden gebundenen Rolle die Urkunde enthalten war, die er dem so Geehrten nun überreichte. Worauf der alte Mann mit einem leisen Ächzen, da das Stehen ihm großen Schmerz verursacht hatte, in seine Kissen zurücksank.

Greiner, der in der Tat aufs höchste überrascht war, ließ eine kleine Zeit vergehen, eh' er antwortete, und überflog inzwischen den Ehrenbürgerbrief, den derselbe kunstfertige Schreibmeister, der die Gedenkschrift über den Besuch der Kaiserin Friedrich verfaßt, mit noch größerer Zierlichkeit, das Gold in den großen Buchstaben nicht sparend, angefertigt hatte.

Dann ergriff er in schlichter, warmer Rede das Wort, um seinen Dank auszusprechen, sich so über Verdienst belohnt zu sehen, in betreff der Schenkung aber zu erklären, den weitaus größten Anteil daran hätten seine beiden Freunde, zumal Professor Simon, worauf ihm erwidert wurde, auch diesen beiden Herren würden Dankadressen zugehen, die schon im Werke seien.

Ihn aber, Greiner, hätten sie noch aus einem andern Grunde in ihrer Mitte zu sehen gewünscht, um ihm nämlich die gemeinsame Bitte der gesamten Stadt vorzutragen, daß er das Amt eines Bürgermeisters annehmen möge, in Anbetracht des invaliden Zustandes ihres bisherigen Stadtregenten, für den notwendig eine jüngere und rüstigere Kraft eintreten müsse, wenn es mit dem Blühen und Gedeihen ihres Gemeinwesens nicht unaufhaltsam zurückgehen solle.

Von allem, was Greiner, der auf einen solchen Antrag nicht im Traum gefaßt gewesen war, an Gründen vorbrachte, um sich dieser verantwortungsvollen Ehre zu entziehen, ließen die wackeren Männer nicht das geringste gelten, und an der Lebhaftigkeit, mit welcher die sonst so schwer aufzuregenden Spießbürger den Mann ihrer Wahl bestürmten, konnte er erkennen, wie tiefe Wurzeln er bereits in den Herzen seiner Mitbürger geschlagen hatte. Da ihm aber die Aufgabe, diesen verfahrenen und im Sumpf feststeckenden Zuständen einen frischeren Zug einzuhauchen, schier unüberwindlich schien, kam er schließlich mit dem Argument heraus, das er für entscheidend hielt: seiner Entlassung aus dem Heer, da er sich gegen die Forderung der Offiziersehre verfehlt habe.

Einen Augenblick schienen die biederen Bürger zweifelhaft, ob es ihrer Stadt nicht zur Unehre gereichen möchte, einen solchen mit schlichtem Abschied aus seiner Charge entfernten Mann an ihre Spitze zu stellen. Da erhob sich aber der alte Major, der bis dahin geschwiegen hatte, und erklärte mit einer so nachdrücklichen Stimme, als kommandierte er sein Bataillon, daß er schon gleich bei der Niederlassung dieses ihres jetzigen Ehrenbürgers Erkundigungen über ihn eingezogen und erfahren habe, daß er aus dem Feldzug, den er als Unterleutnant mitgemacht, das Eiserne Kreuz heimgebracht und sich auch in der Folge so ehrenhaft gehalten habe, daß kein Makel an seinem Namen hafte. Jene Weigerung, einem Schuft mit der Waffe gegenüberzutreten, würde er selbst, wenn er im Ehrenrat gesessen, als vollauf gerechtfertigt angesehen haben, und übrigens müsse er dem Wohllöblichen Magistratskollegium bemerken, daß es sich widerspreche, in einem Atem einen Wohltäter der Stadt zum Ehrenbürger zu ernennen und seine Würdigkeit, ein Ehrenamt zu bekleiden, zu bezweifeln.

Damit ging er um den Tisch herum und auf den jüngeren Kriegskameraden zu, dem er die Hand entgegenstreckte und die seine herzlich drückte. In dem zustimmenden Lärm, der sich erhoben hatte, konnte der Überrumpelte kaum zu Worte kommen. Er sprach auch nur in schlichter Weise seinen Dank aus für das große, ehrenvolle Vertrauen, das ihm geschenkt werde, bat um eine Bedenkzeit von drei Tagen und verließ, nachdem er dem Bürgermeister für alle übrigen die Hand geschüttelt hatte, in lebhafter Erregung den Saal.


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