Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Fünfzehntes Kapitel.

Sie hatte in heißem Unmut, fast im Laufschritt, als fürchte sie, daß er ihr nacheilen möchte, ihren Weg fortgesetzt. Erst als das Kloster hinter ihr lag, stand sie einen Augenblick still und blickte mit noch immer zornigen Augen nach der Höhe zurück.

Egoisten – das sind sie alle! sagte sie vor sich hin. Ihre Ruhe ist ihr Gott, dem opfern sie alles. Von ihm hatte ich eine bessere Meinung – schade, daß ich mich getäuscht habe. Ich hätte doch vielleicht besser getan, den guten Simon einzuweihen, der hat ja eine Frau gehabt und verloren und wird wissen, wie einem Witwer ihr Andenken nachgeht, und wär's nur ein Strohwitwer. Nun, der andere hat wenigstens hören müssen, wie ich von ihm denke! Ich bin fertig mit ihm, ich habe ihn überschätzt, ich muß mehr auf meiner Hut sein, Menschen nicht liebenswürdig zu finden, weil sie ein paar glänzende Eigenschaften haben.

Dies und ähnliches ging ihr durch den Sinn, während sie jetzt langsamer zur Stadt hinunter wandelte. Sie glaubte in der Tat, unten einen Brief Julianes zu finden, der ihr sagen sollte, was die Freundin etwa noch hoffte und von ihr erwartete. Sie selbst war nach dem gescheiterten Versuch, einen Bundesgenossen in ihrem Kampf zu werben, völlig entmutigt. Am liebsten hätte sie ihren Koffer gepackt und die Belagerung aufgegeben. Aber ihr warmes Gefühl von dem, was sie der Verlassenen schuldig sei, hielt sie zurück. Mit welchem Gesicht sollte sie Julianen unter die Augen treten, wenn sie unverrichteter Sache zurückkehrte!

So verbrachte sie den Rest des grauen Tages in trübseligster Stimmung. Nur um sich selbst zu entfliehen, dachte sie einen Augenblick daran, Abends in die Gaststube hinunterzugehen und zu sehen, wie die Honoratioren Windheims, deren Stimmen durch die offenen Fenster zu ihr hinaufdrangen, sich die Zeit bis zum frühen Schlafengehen vertrieben, und sich an dem seltenen Schauspiel zweier Gottesdiener zu erbauen, die trotz ihrer verschiedenen Glaubensbekenntnisse in einträchtigem Spiel um ein paar Pfennige beieinander saßen.

Wirklich versuchte sie es, aber der schwere Tabaksqualm, der aus der Trinkstube quoll, scheuchte sie zurück. So ging sie in ihr einsames Zimmer wieder hinauf und suchte sich mit einem Buch, das sie nicht zu fesseln vermochte, in Schlaf zu lesen.

Früh am andern Morgen wurde ihr von Hinrich das Manuskript gebracht, von dem der Professor ihr gesprochen hatte, zugleich ein Billett Peter Pauls, in dem er anfragte, ob sie geneigt wäre, heute zu einer – vorletzten! – Sitzung hinaufzukommen; das Licht sei heute günstiger. Ein schöner Maiblumenstrauß sollte die Bitte unterstützen.

Sie antwortete mit einer Dankeszeile, ihr sei nicht ganz wohl; sobald sie sich besser aufgelegt fühle, werde sie sich anmelden. Dann vertiefte sie sich in Simons Buch.

Doch auch die sehr klare und geistvolle Art, mit der das wichtige Thema hier behandelt wurde, konnte sie von ihren unruhig schweifenden Gedanken nicht ablösen. Sie legte die Blätter endlich beiseite. Ich werde noch verrückt, wenn das länger dauert! sagte sie. Kommt heute kein Brief, so reise ich bestimmt morgen in aller Frühe ab. Man hat doch auch die Pflicht der Selbsterhaltung.

Nach dem Mittagessen, wo sie zwischen dem Steuereinnehmer und dem alten Major gesessen und die neugierigen Blicke einiger Frauen aus dem Städtchen hatte aushalten müssen, die mit ihren Eheherren eigens einmal im Blauen Engel hatten essen wollen, um die geheimnisvolle Fremde zu studieren, schlief sie fest ein, eine ganze Stunde lang, da sie die halbe Nacht durchwacht hatte.

Aus dieser kurzen Ruhe weckte sie das Geräusch eines heranrollenden Wagens, der unten vor dem Hause anhielt. Sie eilte ans Fenster und sah, daß der Omnibus vorgefahren war. Eine schwarzgekleidete Dame stieg eben aus, ein kleines Mädchen sprang ihr nach und rief, zu dem Fenster hinaufschauend: Tante Hella! Da ist Tante Hella!

Ein paar Minuten später hielten sich die beiden Frauen umschlugen, Helene hob das Kind auf und küßte es, ihre Tränen an seinem Köpfchen verbergend, und trug es dann der Mutter voran ins Haus hinein.

Wirt und Wirtin begrüßten die neuen Gäste und geleiteten sie in das obere Stockwerk, der Wirt mit eifriger Entschuldigung, das Zimmer sei nicht ganz in Ordnung, da die gnädige Frau ihr Kommen nicht angemeldet habe, es werde sogleich instand gesetzt werden. Es war ein etwas größeres Gemach über dem Speisesaal, von Helenes Zimmer durch den Hausgang getrennt, und wie dieses durch zwei Fenster, die nach der Straße gingen, erhellt. Auch ein zweites Bett befand sich hier, wo das Kind schlafen konnte.

Kein Wort hatten sie getauscht, solange sie nicht allein waren. In beider Augen standen Tränen. Nun, da die Wirte sie verlassen hatten, fielen sie einander noch einmal in die Arme und hielten sich lange in großer Bewegung umfangen. Ich konnte nicht anders, ich mußte kommen, hauchte Juliane. Verzeih mir, Liebste! Ich wäre gestorben, wenn ich länger fern geblieben wäre!

Ist mein Papa noch nicht hier? hörten sie das Kind sagen, das ans Fenster getreten war und sich jetzt umwandte. Du sagtest doch, Mammi, wir würden ihn hier finden.

Die junge Mutter zog sie an ihr Herz. Du mußt dich noch ein Weilchen gedulden, sagte sie, ihr die Stirn küssend. Der Vater hat noch keine Zeit gehabt, er weiß noch nicht einmal, daß Hilde zu ihm gereist ist, aber er wird uns schon finden, wenn er es erfährt.

Sie flüsterte ein paar Worte mit Helene und klingelte dann nach dem Mädchen.

Führen Sie das Kind in den Garten hinunter, sagte sie, und bleiben Sie ein wenig bei ihr. Wir kommen gleich nach, Hilde, ich habe nur noch mit Tante Hella etwas zu besprechen. Geben Sie dem Kinde ein Glas Milch. In zehn Minuten, Liebling, holen wir dich ab.

Die Kleine sah sie mit ihren großen Augen verwundert an, folgte aber ohne Widerrede dem freundlichen Mädchen, das den Arm um sie legte und sie hinausführte.

Die Freundinnen blieben zurück. Was sie aber miteinander zu reden hatten, war in zehn Minuten nicht abgetan. Eine halbe Stunde verging, bis sie sich erinnerten, daß sie draußen erwartet wurden. Juliane kühlte sich das vom Weinen erhitzte Gesicht mit Wasser, doch zu trinken wehrte ihr Helene, der Warnung des alten Doktors eingedenk. Sie mußte sich noch gedulden, bis der Tee, den die Freundin bestellte, gekommen war. Indessen sah diese mit stillem Kummer in das liebliche junge Gesicht, das seit der kurzen Trennung einen fast kranken Ausdruck bekommen hatte, der Mund schmerzlich gespannt, die tiefblauen Augen gerötet. Aber wenn auch der Jugendreiz geschwunden war, niemand konnte diese Züge betrachten, ohne sich innig gerührt und angezogen zu fühlen.

Dann verließen sie das Zimmer und traten in den Garten hinaus. Hier aber fanden sie Hilde nicht. Sie war vom Gurren der Tauben angelockt in den Hof nebenan gelaufen, das Brötchen in den Händen, das ihr zu ihrer Milch gebracht worden war, und hatte den Vögeln Bröckchen hingestreut, auch um ein zweites Brot gebeten, da auch Hühner und Spatzen herangeflogen kamen. So stand die kleine Gestalt mitten im Hof, die Kapuze ihres Mäntelchens war ihr in den Nacken herabgeglitten, der Wind spielte mit ihren braunen Haaren, und die Augen waren so unverwandt auf die pickenden und sich zankenden Vögel gerichtet, daß sie sich erst umblickte, als Tante Helene ihr die Hand auf das liebliche kleine Haupt legte.

Einige Kaffeegäste waren aus dem Garten herangekommen und hatten an der artigen Szene ihre Freude gehabt. Die beiden Frauen aber nahmen das Kind mit fort, und Helene schlug draußen den Weg längs des Flüßchens ein, der ins Freie hinausführte, wo das, was sie mit der Freundin zu besprechen hatte, von keinem Ohr belauscht werden konnte.


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