Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Neuntes Kapitel.

Sie verließ das Haus aber nicht durch die vordere Tür, sondern durch die andere, die vom Hausgang aus sogleich in den Garten führte. Außer ein paar Hühnern und einem Kätzchen, das auf einer sonnigen Bank seinen Mittagschlaf hielt, war unter den dünnbelaubten Bäumen nichts Lebendes zu entdecken. So durchschritt sie langsam den breiten Mittelgang und gelangte zur Gartentür hinaus auf den Weg, der dem Nebenflüßchen entlang lief. Die zwei Kähne, die am Pfeiler der kleinen Brücke angebunden lagen, schienen zu einer Fahrt einzuladen. Da sie aber niemand hatte, der die Ruder hätte führen können, wandte sie sich auf dem schmalen Pfade nach rechts hinter den Häusern vorbei, deren Rückseiten nicht gerade einen lieblicheren Anblick boten als die Hinterhäuser, die sie heut früh vom Mauerumgang aus gesehen hatte.

Vielmehr ließen die hier reichlich aufgeschichteten Düngerhaufen erkennen, daß die Stadt von Ackerbürgern bewohnt war, die vor allem auf das Nützliche bedacht waren und an das, was zu ihrem Nahrungszweige gehörte, keine Schönheitsansprüche machten. Kam man aber aus dieser Region der Ställe und Scheunen heraus und ging das sacht ansteigende Sträßchen durch die Pflanzungen hinan, so wurde es desto anmutiger und reinlicher, da sich in breiten Streifen Gemüsebeete, Kohl- und Kartoffeläcker aneinanderreihten, die mit ihren mannigfaltig aufsprießenden Farben das Auge erfreuten.

Je höher Helene kam, desto mehr wich von ihrem Gemüt der dumpfe Nebel, der es drunten umsponnen hatte. Sie stand oft still, blickte nach dem Städtchen zurück, das so friedlich im Grunde schlummerte, und zu den Gebäuden oben auf dem Nonnberg, über denen eine zarte weiße Wolke am hellblauen Himmel stand und ein Krähenschwarm den kleinen Turm umflog.

So hatte sie endlich die Höhe erreicht, wo die Ebene mit neuen Kohlfeldern und einigen mit Wintersaat bestandenen Äckern sich ausbreitete. Hier standen zerstreut etliche Landhäuser in kleinen Gärten und zwischen ihnen die Brauerei, an die ein Sommerkeller und ein hohes altes Wirtschaftsgebäude sich anschlossen.

Der Wirtsgarten, dessen Kastanien eben die ersten Blüten angesetzt hatten, war zu dieser Jahres und Tageszeit noch unbesucht. Ein einzelner Herr saß, in das Lesen eines gedruckten Heftes vertieft, an einem der Tische, ein halbgeleertes Bierglas vor sich.

Es war ein eisgrauer alter Mann in einem nachlässigen Sommeranzug, einen Hut von braunem Stroh weit in den Nacken geschoben, so daß die hohe Stirn frei unter der Krempe vorsah. Die kleinen schwarzen Augen unter weißen Brauen blickten durch eine goldene Brille auf das Blatt, die Hand aber, die es hielt, zitterte ein wenig, während die andere den goldenen Knopf eines gelben Stockes fest umschlossen hielt. Als der Schritt der schönen Frau sich näherte, blickte er auf, erhob sich und nahm den Hut ab.

Helene wollte grüßend vorbeigehen nach einer anderen Bank, als sie ihn sagen hörte: Ich erlaube mir, Frau Baronin, mich Ihnen vorzustellen, Kreisphysikus Weißfisch, seit dreißig Jahren Einwohner der Kreishauptstadt Windheim, die auch die Ehre hat, meine Geburtstadt zu sein. Wenn Frau Baronin ein wenig rasten wollen, möchte ich raten, an diesem Tische sich niederzulassen, der der Zugluft am wenigsten ausgesetzt ist.

Sie fürchte, den Herrn Doktor zu stören, da er in einer Lektüre begriffen sei.

O durchaus nicht. Doch brauche die Frau Baronin nicht zu fürchten, daß er ihr seine Unterhaltung aufdrängen möchte. Wenn sie etwa eine Erfrischung wünsche – das Bier sei zwar nicht schlecht, aber es sei auch für eine Tasse Kaffee oder andere Getränke Rat zu schaffen.

Dabei winkte er ein Mädchen heran, das bereits auf die fremde Dame aufmerksam geworden war, und es blieb Helene nichts übrig, als auf der Bank ihm gegenüber Platz zu nehmen und Kaffee zu bestellen.

Von hier aus, sagte der kleine Alte, der die Broschüre neben sich gelegt und die Brille abgenommen hatte, sieht sich die Gegend ganz artig an, und Frau Baronin, wenn es Ihre Absicht ist, wie der Wirt mir erzählt hat, hier ein paar Tage zu bleiben, zumal sie Zugang zum Kloster hat, wird es in unserm sonst sehr rückständigen Nest ganz leidlich finden. Wer aber wie ich von Berufs wegen dazu verdammt ist, jahraus jahrein hier zu hocken, und keine Aussicht hat, aus der Stickluft herauszukommen, außer wenn eine ärztliche Pflicht ihn in eines der benachbarten Örtchen ruft, der ist dem Himmel nicht dankbar, daß er ihn als Windheimer auf die Welt kommen ließ.

Denn sehen Sie, gnädige Frau, der Name Windheim paßt auf die Stadt, wie die Faust aufs Auge, da es eben ihr Unglück ist, daß es hier an jeglicher Ventilation, im moralischen wie im physischen Sinne, fehlt. In alten Zeiten soll die Stadt ja auch Wendheim geheißen haben, wahrscheinlich war's eine Niederlassung von wendischen Ansiedlern, die Gott weiß wie aus der Lausitz versprengt und bis hieher ins Herz von Deutschland geraten waren. Vielleicht waren die ersten Bewohner dieses Sumpflandes auch so eifrige Angler, wie die jetzigen, und wer mal dieser noblen Passion huldigt, ist für alle anderen menschlichen Tätigkeiten verdorben und kann höchstens daneben seinen Kohl bauen. Als junger Mensch wurde ich dessen auch bald inne, breitete aber meine Flügel aus – damals waren mir die Federn noch nicht ausgefallen – und flog ins Weite, studierte in Würzburg, Berlin, endlich sogar in Wien, und wie ich mein bißchen medizinisches Wissen beisammen hatte, gedachte ich mich irgendwo niederzulassen und mich nach einer Praxis umzutun, überall, nur nicht hier.

Nur meine alten Eltern wollt' ich noch einmal besuchen, meine Familie ist seit über hundert Jahren hier eine der angesehensten, obwohl auch die Vorfahren sich durch nichts Höheres hervorgetan haben, als durch die Erzeugung eines vorzüglichen Weißkohls. Einen Monat wollte ich noch die Füße unter den elterlichen Tisch strecken, aber aus den dreißig Tagen wurden ebensoviel Jahre. Wie das kam? Cherchez la femme! Meine Erkorene erhörte mich nur unter der Bedingung, daß ich keinen Versuch machte, sie wegzuführen, da sie ein Grauen davor hatte, in einem fremden Boden Wurzel schlagen zu sollen. Nun, ich dachte: heirate sie nur erst! Das weitere wird sich dann finden. Aber pros't die Mahlzeit! Ich war gefangen und blieb es und mußte noch froh sein, daß ich die Stelle als Kreisphysikus erhielt.

Was ich auch für Anstalten machte, um wenigstens medizinisch nicht zu versauern und zu verbauern – alles wollte nicht helfen. Sehen Sie, gnädige Frau, in so einer Stadt gibt's immer nur zwei oder drei Krankheiten, die an Luft und Lage und den lokalen Sitten und Unsitten hangen. Mit ein paar Rezepten reicht man da aus, und ich lese in den medizinischen Zeitschriften, die ich mir halte, wie jemand, der an einem Landsee lebt, von Seestürmen, kühnen Entdeckungsreisen und neuen Schiffstypen, die er nie zu Gesicht bekommt. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen davon vorschwatze. Aber ein Hiesiger könnte mich nicht verstehen. Die begreifen nicht, daß es noch andere Wünsche gibt, als sein gutes Auskommen zu haben und Abends mit dem Herrn Stadtpfarrer und dem Schulrektor sein Spielchen zu machen.

Was Sie mir da gesagt haben, ist mir sehr merkwürdig, versetzte Helene. Ich habe ähnliche Betrachtungen angestellt, als ich unten in meinem Gasthofzimmer saß und in die Straße hinaussah, die wie ausgestorben lag.

Oh, rief der kleine Herr, und seine Augen funkelten, es könnte schon noch Leben in diese Familiengruft kommen! Ich habe schon vor Jahren den Leuten unten vorgestellt, welchen Aufschwung unser Windheim nehmen könnte, wenn man den Schatz, der hier ungenutzt im Boden liegt, heben und fruchtbar machen wollte. Alle Bedingungen sind vorhanden, hier oben ein Moorbad im großen Stil einzurichten, auch eine Quelle ist da, eisenhaltig, mit noch andern Bestandteilen, ich habe selbst einmal eine vorläufige Analyse gemacht, es könnte hier ein zweites Franzensbad entstehen. Aber reden Sie mal mit Leuten, die keine Ohren haben! Sie fürchten, aus ihrem Pflanzenschlaf aufgerüttelt zu werden, und statt dessen lassen sie sich von abgeschmackten Träumern was vorgaukeln, ein Theaterbau, wo sie ein dummes historisches Festspiel aufführen könnten und selbst Komödie spielen, Spießbürger, die nicht wissen, wie man in guter Gesellschaft seine Arme und Beine bewegt! Der Doktor Carus vom Kloster droben, dem ich mein Projekt vortrug, hat eifrig zugestimmt. So 'n Mann, wenn der die Sach' in die Hand nähm', da würde was draus. Aber der würde sich hüten, auch wenn die Windheimer ihn kniefällig drum bäten, dem ist seine Ruhe zu lieb, und zu mir haben sie kein Fiduz, weil ich ein Stadtkind bin. Gerechter Gott, 's ist mir nicht um mich zu tun und das, was aus so einem Etablissement für den Badearzt herausschaut. Ich habe, was ich brauche, mehr als ich brauche, und Weib und Kind hab' ich begraben. Bloß damit ich mal wieder andre Krankheiten studieren könnte, als die Windheimer Rheumatismen und Magenbeschwerden. Na, ich bin fünfundsechzig. Ich werde die Komödie nicht lange mehr mitspielen.

Er hatte sich heiß gesprochen und leerte sein Glas auf einen Zug. Helene stand auf.

Ich muß Ihnen adieu sagen, Herr Doktor, ich habe Briefe zu schreiben. Es war mir sehr angenehm –

O gnädige Frau, rief er und streckte ihr, sich gleichfalls erhebend, über den Tisch treuherzig seine Hand entgegen, Sie wissen nicht, welche Wohltat es für mich alten Knaben ist, einmal wieder ein Menschengesicht, wie Ihres, gesehen zu haben. Bleiben Sie nur so schön und gesund, aber wenn Sie meinen Rat annehmen wollen, schlafen Sie im »Blauen Engel« nie bei offnem Fenster und trinken Sie drunten nur Mineralwasser. Luft und Wasser in unserm alten Sumpfnest sind lebensgefährlich. Ich habe die Ehre, mich der Frau Baronin zu empfehlen.

Er stand noch eine Weile, nachdem sie ihn verlassen hatte, und sah der schlanken Gestalt mit einem Seufzer nach. Ein Hauch der Schönheit hatte seine alte Seele angerührt, wie Frühlingsluft einen Baum, der längst das Blühen verlernt zu haben glaubt.

*

Helene war noch nicht lange in ihrem Zimmer wieder angelangt, als es klopfte und die Frau Wirtin eintrat. Sie hatte eine frische Schürze vorgebunden und statt ihrer gewöhnlichen schwarzen eine kleine weiße Haube aufgesetzt, unter der ihr spärliches, schon stark ergrautes Haar sauber gescheitelt hervorkam. Man sah ihr noch an, daß sie früher eine hübsche Frau gewesen, die nur durch Arbeit und Kummer vorzeitig gealtert war. Ihre blauen Augen, die aus dem vergilbten Gesicht sonst etwas matt und erloschen hervorblickten, aber in der Wirtschaft einen strengen Ausdruck zu haben pflegten, begrüßten ihren Gast mit einem sanften Aufleuchten.

Sie entschuldigte sich, daß sie zu stören wage, sie wolle sich nur erkundigen, ob es der Frau Baronin, die ja an größere Hotels gewöhnt sei, unter ihrem einfachen Dach an nichts fehle, was allenfalls noch zu beschaffen wäre. Als Helene dann in ihrer gütigen Art das Haus und die Küche lobte, wurde sie ganz aufgeräumt, setzte sich sogar auf den Stuhl dem Sofa gegenüber und fing an, ihr vielbedrücktes Herz vor der freundlichen Dame auszuschütten.

Die ganze Last der Wirtschaft liege auf ihr, da ihr Mann sich um nichts bekümmere als um sein Angeln und andere weniger unschuldige Liebhabereien. Früher, da er noch Oberkellner im Hause gewesen, habe er sich ganz anders gerührt, bloß um sich lieb Kind bei ihr zu machen, und sie habe sich auch wirklich betören lassen und nach dem Tode ihres ersten Mannes ihn geheiratet, obwohl er fast zehn Jahre jünger gewesen sei. Ihr erster Mann habe sie sehr geehrt und geliebt, sie sei nicht von hier, sondern eine Gastwirtstochter aus L**, und hätte als Witwe ganz gut allein fertig werden können. Aber da sie gar zu gern ein Kind gehabt hätte, hätt' sie die Dummheit begangen, und müsse nun dafür büßen, da sie nun doch kein Kind habe, sondern nur einen Mann, dem es mehr um den »Blauen Engel« zu tun gewesen wäre, als um die Engelwirtin. Nun, wie man sich bette, so schlafe man, und sie sei wenigstens nach wie vor Meisterin ihres Hauses, wenn sie's auch aufgegeben habe, ihren Mann zu meistern.

Dies alles, mit vielen Einzelheiten, brachte sie nicht etwa in leidmütigem Tone vor, sondern wie jemand, der sich in ein Naturgesetz ergeben hat und einsteht, daß man vom Dornstrauch keine Feigen ernten kann.

Helene hörte mit ungeheuchelter Teilnahme zu und gewann das Herz der wackeren Frau vollends, als sie ihr, da sie über häufige Migräne klagte, ein Mittel dagegen aus ihrer eigenen kleinen Reiseapotheke gab.

O Frau Baronin, sagte die Wirtin, ich bin Ihnen so sehr dankbar, aber ich hätt' noch einen großen Wunsch. Das Klima hier, da ich kein Stadtkind bin, macht mir von Jahr zu Jahr mehr zu schaffen. Unser guter Doktor Weißfisch zuckt nur die Achseln, wenn ich ihm meine Gebresten klage, er ist wohl mit seinem Latein zu Ende. Nun hab' ich so großes Vertrauen zu dem Herrn Doktor oben im Kloster, den hab' ich ja ein paar Monate hier beherbergt, eh' der Bau droben fertig war und die Herren einziehen konnten. Ich hab' ihm schon damals mein Leid geklagt, aber er hat seinem alten Kollegen, unserm Kreisphysikus, nicht in die Praxis pfuschen wollen, hat er gesagt, und nur meinem Hund den Vorderfuß, den er sich gebrochen hatte, verbunden und so fest geschient, daß er in vierzehn Tagen geheilt war. Ein prächtiger Herr, der Doktor Carus, und obwohl er noch jung ist, so ernsthaft, daß mein Hegelmüller, der Luftikus, sich ein Beispiel an ihm nehmen könnt'. Seitdem haben sich meine Beschwerden so vermehrt, daß ich manchmal mein', ich könnt's nimmer ertragen. Nun weiß ich, daß Frau Baronin auf dem Nonnberg droben sehr verehrt werden und alle Tag' zu den Herren Zutritt haben. Wenn Sie's daher dem Herrn Doktor einmal vorstellen wollten, so recht dringlich – was er einer alten Frau nicht hat zuliebe tun wollen, einer so schönen und lieben jungen Dame wird er's wohl nicht abschlagen, und unser alter Weißfisch soll kein Sterbenswort davon erfahren.

Helene hatte nur versichern können, daß sie bereit sei, den Versuch zu machen, der Dank der Wirtin aber wurde unterbrochen, da eines der Hausmädchen hereinsauste mit der Meldung, zwei Lieferanten seien angefahren, die nach der Frau gefragt hätten.


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