Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Am andern Vormittag saß Peter Paul schon eine Stunde an der Staffelei, eifrig am Hintergrund und allerlei Beiwerk malend, als Helene pünktlich zur bestimmten Zeit bei ihm eintrat.

Sie hatte unruhig geschlafen, teils vor Gedanken, wie sie ihr Unternehmen ausführen könnte, teils weil sie den Rat des Arztes befolgt und die Fenster geschlossen gehalten hatte.

Auch der junge Maler hatte lange Stunden wach gelegen. Seit er gestern sein schönes Modell so eingehend studiert und immer neue Reize daran entdeckt hatte, war ein seltsames Fieber in sein Blut gedrungen, und auch ihre helle Stimme, die ihm beständig im Ohr klang, tönte in der Nachtstille fort. Wie sie nun wieder vor ihm stand, wurde er durch ihre Gegenwart so verwirrt, daß es ihm unmöglich war, gleich wieder an die Arbeit zu gehen. Als fürchte er, daß seine Aufregung ihr auffallen möchte, machte er sich bei dem anderen Fenster zu schaffen, schloß den Laden und zog endlich ein großes Blatt aus einer an der Wand lehnenden Mappe, das er vor das angefangene Porträt stellte.

Ich möchte Ihnen die Farbenskizze meiner unseligen Insel der Seligen zeigen, gnädige Frau. Sie sollen mir sagen, ob irgend etwas darauf ist, woran selbst ein hochwürdiger Konsistorialrat ein Ärgernis hätten nehmen müssen.

Sie betrachtete, ihre Lorgnette vor die Augen haltend, lange den geistreichen, sauber ausgeführten Entwurf. Dann sagte sie: Ich beneide Sie um Ihre Fähigkeit, so schöne Träume träumen zu können, lieber Herr Peter Paul. Man bekommt freilich ein Heimweh nach einer Welt, in der sich solche Gestalten bewegen, und wenn es je eine Zeit gab, wo die Natur so herrliche Menschen hervorbrachte, empfindet man Schmerz, daß wir so weit davon entfernt sind. Die sich aber daran ärgern, denen gilt das Wort: wen solche Bilder nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein. Nein, nehmen Sie das Blatt noch nicht fort! Ich möchte es noch oft und lange betrachten, so entzückt es mich. Und wie muß es nun erst in der Ausführung bezaubern, wenn man es in festlicher Stimmung bei einem schönen Konzert mit Muße betrachten kann! Wie gut, daß Sie es im ersten Grimm nicht vernichtet haben! Es findet doch noch einmal einen seiner würdigen Platz, wo es die stumpfen Augen keines Konsistorialrats beleidigen kann.

Er zuckte die Achseln und zog die schwarzen Brauen zusammen.

Da müßte ein Wunder geschehen!

Eine kleine Pause entstand. Dann sagte Helene: Wir brauchen vielleicht nicht auf ein Wunder zu warten. Mir fällt eben ein, daß in dem ehemaligen Bankettsaal des alten Schlosses auf meinem Gut der Plafond sich in einem greulichen Zustande befindet. Das schadhafte Dach darüber hat bei einem Gewitterregen nicht dichtgehalten, und die Decke ist zur Hälfte zerstört worden. Mein seliger Mann sprach immer davon, den ganzen Saal restaurieren zu lassen. Darüber wurde er krank, und es unterblieb. Aber wenn ich mich recht erinnere, stimmt das längliche Format des Plafonds mit den abgestumpften Ecken so ziemlich zu dem Umriß dieses Blattes, und wenn die Maße nicht ganz die gleichen sind, dem ließe sich ja vielleicht durch Zusetzen oder Beschneiden abhelfen. Freilich müßte allerlei geopfert werden, das reizende Werk aber wäre doch nicht ganz verloren.

Er hatte, während sie sprach, in so heftiger Erregung gestanden, daß sein Gesicht über und über erglüht war.

O gnädigste Frau, stammelte er, das – das – nein, das sagen Sie nur aus Ihrer himmlischen Güte – das kann doch nur ein Einfall sein, der nie – nie zur Wirklichkeit wird!

Aber warum nicht? versetzte sie lächelnd. Einen Versuch wär' es doch wert. Nur eins freilich – ich bin wohl nicht imstande, Ihnen den Preis zu ersetzen, der Ihnen bei dem Wettbewerb zugefallen wäre, wenn es in der Welt mit rechten Dingen zuginge.

O Frau Baronin, rief er mit schmerzlichem Ton, wie können Sie mich so bitter kränken, nachdem Sie mir eben eine so beseligende Hoffnung gegeben haben! Einen Preis sollte ich mir zahlen lassen für das Glück, meine Arbeit aus ihrer lebendigen Gruft auferstanden zu sehen, an einem Ort zu Ehren gekommen, den Sie bewohnen, von Ihnen gewürdigt und oft betrachtet zu werden, wobei Sie vielleicht hin und wieder auch eines armen Teufels gedenken, den Sie – der Ihnen, seit er jüngst das Glück hatte – verzeihen Sie – ich bin so verwirrt – was werden Sie von mir denken – –

Daß Sie eine echte Künstlerseele haben, versetzte sie lächelnd, die jede Stimmung, Schmerz und Freude, bis ins Äußerste treibt. Nein, fassen Sie sich, lieber Freund, und lassen Sie uns wieder an die Arbeit gehen. Wer weiß, wie oft ich noch dazu Zeit haben werde, Ihnen zu sitzen. Von dem anderen werden wir noch weiter sprechen.

*

Nun saßen sie ziemlich lange in tiefem Schweigen einander gegenüber, er eifrig malend, sie durch das Fenster schauend, aus dem man auf das Kirchlein blickte.

Endlich sagte er, ohne die Arbeit zu unterbrechen: Ich muß um Verzeihung bitten, gnädige Frau, wenn ich Ihnen ungeheuer langweilig erscheine. Aber, wenn ich male, bin ich nur Auge, und mein bißchen Geist sitzt auf der Pinselspitze, nicht auf der Zunge, zumal, wenn mir alles darauf ankommt, mir Ehre zu machen.

Tun Sie sich keinen Zwang an, erwiderte sie. Auch ich bin nicht zum Plaudern aufgelegt. Es geht mir allerlei durch den Kopf, was ich still verarbeiten muß, nichts Heiteres. Für eine Sitzung beim Photographen, wo es darauf ankommt, »nur recht freundlich« auszusehen, wär' ich heut verdorben, und wenn ich zu Ihrer Kardinaltugend sitzen soll, müssen Sie die »Anmut« hinzutun.

Eine Antwort schwebte ihm auf den Lippen, die er aber unterdrückte, weil sie nach einem Kompliment geklungen hätte. Das schien ihm dieser Frau gegenüber nicht angebracht.

Wieder eine lange stumme Pause. Dann sagte er: Wissen Sie, gnädige Frau, wen ich beneide?

Sie sah ihn fragend an.

Den großen Lionardo da Vinci. Dem hat seine Monna Lisa sechsunddreißig Sitzungen oder noch mehr gewährt, da ist's denn kein Wunder, wenn was Wundervolles zustande gekommen ist. Ich bin nun freilich kein großer Meister, bloß der hoffnungsvolle Peter Paul. Aber wenn ich nur halb so oft das Glück hätte, an diesem Bilde malen zu dürfen, ich getraute mir etwas zu machen, was sich doch auch sehen lassen könnte und wohl noch bezaubernder wäre, als jenes kalte, kokette Frauengesicht mit dem mysteriösen Schlangenlächeln, das mir wenigstens, wenn man eine solche Ketzerei aussprechen darf, immer unausstehlich gewesen ist.

Sie dürfen nicht glauben, erwiderte sie ganz ernsthaft, daß ich nur darum, weil Sie nicht Lionardo da Vinci sind, Ihnen nur noch ein paarmal sitzen werde. Nichts ist mir peinlicher, als mich anstarren zu lassen, und seit es Momentphotographien gibt, habe ich keinem Maler mehr gesessen.

Aber Sie müssen's doch längst gewohnt sein, daß, wo Sie sich zeigen, aller Augen sich auf Sie richten?

Freilich. Aber an manche Gewohnheiten gewöhnt man sich eben nicht. Das Gesicht, das man hat, gehört einem doch, wie andere Gaben, die einem die Natur verliehen hat, und wer es angafft, weil es ihm gefällt, bemächtigt sich gleichsam eines fremden Eigentums, auf das er kein Recht hat. Ich bin nicht so töricht, daß ich mir wünschte, häßlich zu sein, aber mein bißchen Schönheit möcht' ich nur denen zu gute kommen lassen, die ich liebe, wie ich ja auch, was ich fühle und denke, nicht einer fremden großen Menge mitteile.

Und dann, fuhr sie nach einem kleinen Besinnen fort, wenn man erfahren hat, daß von allem, was man besitzt, in schweren Schicksalsnöten nichts einem so wenig Trost und Hilfe gewährt, als die Bewunderung, die man wegen seiner äußeren Erscheinung genießt, lernt man den Unwert dieses sehr überschätzten Besitzes kennen. Nur ganz flache Geschöpfe können, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben, einen Trost darin finden, in den Spiegel zu sehen und sich zu sagen, daß ihrer hübschen Larve der Trauerschleier einen besonderen Reiz verleiht.

Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von träumerischer Resignation angenommen, sie schloß die Augen und schien ganz zu vergessen, wo sie war und zu welchem Zweck sie sich auf diesem Sessel niedergelassen hatte. Auch er hatte die Hand, die den Pinsel führte, sinken lassen. Das Gesicht vor ihm war völlig verwandelt, er wußte aber nicht, welches ihm reizender erschien, gern hätte er auch das leidvolle festgehalten, aber er hatte kein Blatt zur Hand, wenigstens einen flüchtigen Umriß zu machen, und jetzt schlug sie auch die Augen wieder auf, und ein schwaches Lächeln belebte den verträumten Mund.

Verzeihen Sie, sagte sie, es hat mich einen Augenblick übermannt, auch hab' ich schlecht geschlafen und bin etwas nervös überreizt. Da taug' ich nun schlecht zu unserm Geschäft. Aber vielleicht, wenn Sie Doktor Carus bitten wollten, auf einen Augenblick zu uns zu kommen, ich habe einen Auftrag an ihn.

Er stand rasch auf und eilte hinaus, kam aber gleich zurück. Der Doktor sei nicht in seinem Zimmer, wahrscheinlich befinde er sich im Freien, da er um diese Stunde der kleinen Eva Unterricht zu geben pflege. Das Kind könne mit seinem lahmen Beinchen nicht zur Schule hinuntergehn, und so habe sich der Doktor seiner angenommen und bringe ihm ein bißchen Lesen und Schreiben bei. Er könne ihn aber heraufholen.

Nein, sagte Helene, ich will ihn nicht lange stören, lieber selbst hinuntergehn und im Vorbeigehn meinen Auftrag ausrichten. Es ist wohl besser, lieber Herr, wir brechen heute die Sitzung ab, und ich entschädige Sie morgen, zu welcher Zeit Sie wollen.

Er verneigte sich zustimmend, bat sie dann aber, erst am Nachmittag zu kommen, da er die Vormittagsstunden dazu anwenden wolle, das Bild auf die Mauer zu übertragen, um zu sehen, ob in dem ganz verschiedenen Licht nicht noch eine Nacharbeit nötig sein möchte.

Das bewilligte sie gern, verbat sich seine Begleitung und ging, so wie sie zu dem Bilde kostümiert gewesen war, ohne den Hut aufzusetzen, durch den Korridor und die Treppe hinab in den Grashof.

Schon von weitem erkannte sie den Doktor und das Evchen in der Efeulaube, vor der Nero in der Sonne schlief. Alle drei erhoben sich, als sie herankam, und der Doktor trat heraus, ihr die Hand zu reichen.

Das Kind hatte in einem Heft Buchstaben mit dem Bleistift gemalt nach einer Vorschrift seines Lehrers, eine kleine Fibel lag auf dem Tisch, es war ihm offenbar unlieb, daß der Unterricht unterbrochen wurde. Doch hellte sich sein Gesichtchen wieder auf, als die schöne Dame seine Schrift lobte und ihm über das dichte Haar strich. Sie sollten auch Evchens Zeichenheft sehen, sagte Carus. Sie hat eine so sichere kleine Hand und klare Augen, und ich lasse sie nur einfache Würfel und Gefäße nach der Natur zeichnen, das bringt sie auch im Schreiben rasch vorwärts. Nun aber geh in dein Gärtchen, Ev', und laß die Blumen nicht verdursten. Wir haben heute genug gelernt.

Die Kleine packte ihre Hefte zusammen, nickte Helenen zu und lief, sobald sie aus der Laube war, um den Bau herum nach der Rückseite, von Nero in ruhigem Trabe gefolgt.

Welch ein Glück für das Kind, sagte Helene, daß Sie sich seiner annehmen! Was würde aus ihm werden, wenn es hier an Leib und Seele ohne Hilfe bliebe!

Oh, sagte er, indem er sie einlud auf der Bank Platz zu nehmen, für mich ist's ein noch größeres Glück. Ich habe mich zwar darein ergeben, den Rest meines Lebens als unpraktischer Arzt so hinzudehnen, aber der alte Trieb, hilfreich zu sein, ist doch nicht ganz auszurotten. Ob ich das Zeug dazu habe, das Evchen so weit zu bringen, wie sie in einer höheren Töchterschule kommen würde, ist mir freilich zweifelhaft. In Handarbeiten müßte sie jedenfalls einen anderen Lehrer haben. Aber kann ein Frauenzimmer ohne Sticken und Stricken wirklich nicht selig werden? Im Nähen besitze ich selbst einige Kenntnisse, das muß ein Wundarzt bis auf einen gewissen Grad verstehen.

Ich begreife, sagte sie, daß es Ihnen schwer wird, eine Kunst nicht auszuüben, die Ihnen, da Sie ein Menschenfreund sind, neben der Betätigung von Talent und Wissen auch eine herzliche Befriedigung gewährt. Für diesmal aber könnten Sie wohl eine Ausnahme von der Regel machen.

Und sie berichtete ihm den Wunsch und die Bitte der Engelwirtin.

Er hörte sie ruhig an.

Gnädige Frau, sagte er dann, es tut mir leid, Ihnen nicht willfahren zu können. Ich habe meinem Kollegen, dem Kreisphysikus, das Versprechen gegeben, mich auf eine Praxis unten in der Stadt nicht einzulassen. Auch wär' es ganz überflüssig, da er zwar etwas rückständig in seinem Wissen ist, aber dafür einen großen Vorrat bewährter Hausmittel besitzt, mit denen er vollkommen ausreicht. Der guten Frau Hegelmüller aber könnte keine ärztliche Kunst und Weisheit aller Fakultäten helfen, die leidet einzig am »Blauen Engel«, will sagen an der Windheimer Luft. Sagen Sie ihr das, und sie möge sich von ihrem Hausdoktor in ein Bad schicken lassen, wo sie vier Wochen wenigstens eine Linderung ihrer Plagen erfahren kann – falls sie sich entschließt, ihr Haus so lange dem Herrn Gemahl zu überlassen. Da sie das kaum übers Herz bringen wird, ist ihr nicht zu helfen, so sehr ich's der armen Seele wünschen möchte.

Helene antwortete nicht sogleich. Dann sagte sie zögernd: Sie werden mich vielleicht der gewöhnlichen weiblichen Neugier zeihen, Herr Doktor, wenn ich Ihnen gestehe, daß mich seit unserm letzten Gespräch das Rätsel verfolgt, wie Sie es übers Herz bringen können, Ihr Pfund zu vergraben, und sich damit zu begnügen, Ihre ärztlichen Kenntnisse nur als Leibarzt eines Kindes auszuüben, während Sie eingestehen, daß der Trieb zu einem weiteren Wirken in Ihnen nicht zur Ruhe kommen will.

Liebe gnädige Frau, versetzte er mit einem seinen Lächeln, vielleicht werden Sie mich der Eitelkeit zeihen, wenn ich statt der gewöhnlichen Neugier ein freundliches Interesse bei Ihnen voraussetze. Aber das psychologische Rätsel, das Sie beschäftigt, hat eine sehr einfache Lösung: ich kann nicht, wie ich möchte, man würde sich dagegen sträuben, die Hilfe, die ich der leidenden Menschheit anböte, anzunehmen, und man kann es auch niemand verdenken, wenn er sich von einem Arzt nicht behandeln lassen möchte, der dafür gestraft worden ist, daß er ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Sie sah ihn erstaunt an.

Welcher Arzt kann von sich behaupten, daß nie ein Kranker einem Mißgriff, einem unverschuldeten Irrtum, den er begangen, zum Opfer gefallen wäre!

Unverschuldet – darum handelt sich's eben. Aber wenn ein Arzt mit vollem Bewußtsein, statt das Leben zu verlängern, den Tod herbeigeführt hat – kann man sich wundern, wenn er der Mehrzahl seiner Patienten Grauen statt Zutrauen einflößt?

Und wenn dieser Arzt vollends erklärt hat, daß er über das, was er getan, keine Reue empfinde, ja unter denselben Umständen unbedenklich dasselbe tun würde, wenn er für sein Verbrechen und dieses naive Geständnis dem Gesetz nach mit drei Jahren Gefängnis bestraft worden ist und das dritte Jahr nur darum nicht hat absitzen müssen, weil eine Amnestie infolge eines frohen Ereignisses im Herrscherhause auch dem Mörder und Totschläger zu gute kam – werden Sie es unbegreiflich finden, daß dem entlassenen Sträfling überall der Ruf seiner Missetat vorangeht und es ihm unmöglich macht, seine Tätigkeit zum Wohl der Menschheit an irgendeinem Ort wieder aufzunehmen?

Denn der Brotneid hat überall gute Ohren und die Hand im Spiel, einem geächteten Konkurrenten Luft und Licht zu entziehen. Als ich in zwei mittleren Städten hinlängliche Beweise hierfür erhalten hatte, gab ich es auf, mich in das Leben, das mich nicht dulden wollte, wieder einzudrängen, und kroch in die Klosterzelle, wie es einem redlichen Büßer geziemt. Daß ich hier Glaubens- und Schicksalsgenossen fand, die gleichfalls ihr reines Gewissen in die Einsamkeit gerettet hatten und lernen mußten, aus der Not eine Tugend zu machen, war eine besondere Gunst des Schicksals, die ein geselliger Mensch meiner Art und Anlage nicht hoch genug anschlagen konnte.

Er schwieg, und es war eine Weile still zwischen ihnen, Dann streckte sie ihm ihre weiße Hand entgegen und sah ihm mit einem warmen Blick voll ins Gesicht.

Ich danke Ihnen, daß Sie mir das traurige Schicksal Ihres Lebens enthüllt haben. Ich entsinne mich nun auch, früher davon gehört zu haben – es mag vor sechs oder sieben Jahren gewesen sein, da ging der Fall durch alle Zeitungen, und obwohl man vor Ihrer Ehrlichkeit, Ihre Tat nicht zu bemänteln, Respekt hatte, wurde doch viel darüber gestritten, ob man es zulassen dürfe, daß ein Mensch über Leben und Tod eines anderen entscheide, selbst mit der Überzeugung, nur zu seinem Besten zu handeln. Viele bestritten es, ich weiß noch, daß ich selbst damals anderer Meinung war als mein Mann, der Ihre Partei nahm. Wie bald sollte ich anderen Sinnes werden!

Ihre Augen umflorten sich. Da hörte sie ihn sagen: Man kann es denen, die am siebenten Gebot festhalten, nicht zum Vorwurf machen, daß sie die schwere Frage nicht so leichthin im Sinn einer höheren Humanität entscheiden. Wohl ist es für den, der die Leiden seiner Nebenmenschen wie seine eigenen empfindet, unerträglich, ein Mittel, wodurch er sich selbst erlösen würde, nicht auch seinen Nächsten zu gönnen, ihnen behilflich zu sein, ein Leben abzuwerfen, das nur noch ein hoffnungsloses tägliches Sterben ist. Wer es für eine Sünde hält, aus einer Gesellschaft, in die er unfreiwillig eingetreten, sich freiwillig wieder zu entfernen, mit dem ist freilich hierüber nicht zu streiten, der muß es als ein Verbrechen ansehen, einem andern die Tür zu öffnen, sogar wenn dieser selbst zu schwach dazu wäre und bäte, daß man ihm eine hilfreiche Hand liehe. Aber selbst für die Freigesinnten, die nicht begreifen, daß man einem armen Tier, das unheilbar verwundet ist, den Gnadenschuß geben und einem Menschen ihn verweigern kann, selbst für solche ist die Sache nicht so einfach.

Denn wie soll man dem Mißbrauch steuern, der mit der Freiheit, über Tod und Leben eines Unheilbaren zu entscheiden, getrieben werden kann? Und wie unabsehbaren selbstsüchtigen Ränken wird ein Freipaß gegeben, wenn es jedem erlaubt sein soll, zu bestimmen, wann der Fall der Notwehr gegen unsägliche Qualen eingetreten ist? Selbst wer mit reinstem Gewissen handelt, ist er nicht dem Irrtum ausgesetzt und kann, da die Hilfsquellen der Natur unberechenbar sind, voreilig urteilen, ein Leiden sei hoffnungslos, für das doch noch eine wundersame Rettung eintreten kann?

Mein Fall freilich war nicht dieser Art.

Es handelte sich um einen älteren Mann, der von jener furchtbaren Krankheit befallen war, für die auch das Messer des Chirurgen kaum jemals Rat weiß. Bei meinem Patienten war auch das ausgeschlossen. Er hatte ein paarmal sich Operationen unterzogen, die den Fortschritten des Übels keinen Einhalt getan hatten. Dadurch war sein Gesicht dermaßen entstellt worden, daß er sich vor seiner Familie und den nächsten Freunden verbarg. Er litt übermenschlich und flehte mich wieder und wieder an, mit seinen Qualen ein Ende zu machen. Irgendwelche Pflichten hielten ihn nicht im Leben zurück, seine Tochter war glücklich verheiratet, einen Taugenichts von Sohn hatte er seit Jahren verstoßen. Seine Freunde mußten es aufs innigste wünschen, ihn zur Ruhe kommen zu sehen.

Gleichwohl bestand ich darauf, eh' ich ihm den Willen tat, noch einen Kollegen hinzuzuziehen, zu hören, ob auch der ihm keine Hoffnung geben könne.

Der Spruch fiel so aus, wie zu erwarten gewesen. Das Leben könne noch auf Wochen, vielleicht sogar auf Monate gefristet werden. Eine Heilung sei ausgeschlossen.

Da tat ich, was ich für meine Menschenpflicht hielt.

Am Tage aber, nachdem er sein armes Leben ausgeatmet hatte, wurde ich durch den Besuch des verlorenen Sohnes überrascht, dem jetzt erst geschrieben worden war, wie es um den Vater stand. Er ließ sich von mir anscheinend ruhig über die letzten Stunden berichten, wobei ich meinen Anteil daran natürlich verschwieg, von mir aber ging er zu jenem zweiten Arzt und hörte von ihm, der Tod sei dennoch unerwartet eingetreten, ja ein leiser Verdacht wurde nicht verschwiegen, er sei durch mich beschleunigt worden.

Als er in wütender Aufregung mich deshalb zur Rede stellte, fühlte ich mich nicht veranlaßt, ihm die Wahrheit zu gestehen. Aber er ließ es dabei nicht bewenden. Er zog mich vor Gericht, erklärte, ich hätte ihn um sein Erbteil gebracht, da der Vater, wenn er ihn noch am Leben gefunden, das Testament, in dem er ihn auf den Pflichtteil gesetzt, widerrufen und ihm seine leichtsinnigen Streiche verziehen haben würde.

Als man mich bei meiner ärztlichen Ehre aufforderte, zu bekennen, ob ich das Ende herbeigeführt hätte, war ich keinen Augenblick im Zweifel, daß es meine Pflicht sei, was ich getan, nicht zu verleugnen. Ich weiß, daß ich durch das offene Aussprechen meiner Überzeugung Eindruck auf meine Richter machte. Ich verdarb es nur wieder mit ihnen, als ich auf die Frage, ob ich ein feierliches Gelübde ablegen wolle, in Zukunft nie wieder so zu handeln, freimütig erklärte, ich könne meinem Gemüt und Gewissen nicht gebieten lassen, zu tun, was die Menschenliebe von mir fordere.

Damit hatte ich mir selbst mein Urteil gesprochen.

Das Gesetz verhängt über solche Verbrechen Gefängnis »nicht unter drei Jahren«. Ich habe Ihnen schon erzählt, daß ich nur zwei davon abzubüßen hatte. Sie genügten, meine Kräfte zu erschüttern. Erst in dem Sanatorium, wo ich den Hauptmann und Professor Simon fand, habe ich mich leidlich wiederhergestellt.

*

Er schwieg und sah still vor sich hin auf die steinerne Platte des Tisches, an dem er saß. Helene stand leise auf und trat aus der Laube ins Freie. Dort ging sie eine Weile hin und her, ihr Tuch vor die Augen gedrückt, die schon während seiner Erzählung übergeflossen waren.

Dann trat sie, sich das nasse Gesicht trocknend, wieder zu ihm.

Lieber Herr Doktor, sagte sie, was ich von Ihnen gehört, hat mir meine schmerzlichsten Erinnerungen wieder aufgewühlt. Verzeihen Sie, wenn ich über meinem eigenen Schicksal das Ihre nicht so tief mitempfunden zu haben scheine. Aber auch meines ist noch so frisch. Ich war drei Jahre verheiratet, mit einem Manne, den ich innig liebte – er war ein so edler Mensch – ich konnte mir kein schöneres Glück denken als das, was ich an seiner Seite genoß. Da wurde er mir eines Herbsttages von der Jagd, zu der er mit einigen Freunden hinausgeritten war, auf einer Bahre gebracht, wie ein Sterbender. Ein Schuß aus einem in seiner Nähe losgegangenen Gewehr war ihm in die Brust gedrungen, mehrere Schrotkörner saßen in der Lunge fest, der Arzt glaubte, er könne die Nacht nicht überleben. Und doch lebte er noch volle vier Monate – mit welchen Qualen, erlassen Sie mir zu schildern! Damals – wie oft fuhr mir der Gedanke, ja der leidenschaftliche Wunsch durch mein armes Gehirn: wenn Gott ihn doch in Gnaden erlösen möchte! Und er selbst – wie oft sah ich seine geliebten Augen mit schmerzlichem stummem Flehen auf mich gerichtet: Hab' ich denn keinen Freund, der mir Hilfe bringen will? Ist meine eigene Frau nicht hochherzig genug, meine Retterin zu werden? Wenn Sie damals in unsrer Nähe gewesen wären – nein, dennoch zweifle ich, ob ich es übers Herz gebracht hätte, Sie um diesen Liebesdienst anzuflehen – aber in den vier einsamen Jahren, die ich seitdem gelebt habe, – mehr als einmal habe ich zurückdenken und es mir zum bitteren Vorwurf machen müssen, daß ich das Morphiumfläschchen, das der Arzt mir in Verwahrung gegeben, ihm nicht in die Hand gedrückt, mich abgewendet und sein Heil ihn selbst habe suchen lassen.

In diesem Augenblick sahen sie den Professor mit dem Kaplan daherkommen, von einem Spaziergang im Walde zurückkehrend. Da sie beide sich nicht imstande fühlten, gleichgültige Worte zu wechseln, wandte Helene sich hastig ab, grüßte den Doktor nur mit einem flüchtigen Neigen des Kopfes und verließ die Laube und den Klosterhof, ohne sich nach den Herankommenden umzusehen.


 << zurück weiter >>