Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Eine peinliche Stille war zwischen den beiden Menschen in der Laube, wie sie einzutreten pflegt, wenn ein nachdrückliches Wort gefallen ist, das als ein letztes gelten soll. Wohl hatte sie ihr letztes Wort noch nicht gesagt. Aber sie empfand, daß selbst das eine Wort, dessen Zauber sie noch nicht erprobt hatte, der Name seines Kindes, in diesem Augenblick unwirksam gewesen wäre. Und doch, wenn sie ihn aussprach und alles schilderte, was der harte Mann an Glück und Freude verscherzte, wenn dies liebe Wesen ihm für immer fern bliebe – es schien ihr unmöglich, daß er ungerührt bleiben könnte.

In diesem Augenblick aber sah sie, daß sich die Tür in dem Flügel, wo die Zellen lagen, öffnete und zwei Männer in den Hof heraustraten. In dem einen erkannte sie ihren Cicerone, den Maler, obwohl sein ganzer äußerer Mensch sich verwandelt hatte. Er hatte offenbar sein Feiertagsgewand angelegt, ein schwarzes Röckchen und silbergraue Beinkleider, dazu eine frische Krawatte mit einer Nadel, in die eine antike Münze gefaßt war. Auch Haar und Bart waren sorgfältig gebürstet, nur der Hut saß noch in scheinbar nachlässigem, doch künstlerisch berechnetem schiefem Schwung auf dem buschigen Hinterhaupt.

Sein Begleiter, ein hochgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren, war desto unscheinbarer gekleidet, wenn auch durchaus so, daß er sich nicht scheuen durfte, einer Dame vorgestellt zu werden. Er trug keinen Hut, seine schöne hohe Stirn kam dadurch zur Geltung, unter den festen Brauen blickten seine dunklen Augen forschend der schönen Frau ins Gesicht, die aus der Laube heraustrat und Peter Paul freundlich begrüßte.

Doktor Carus – stellte der Hauptmann vor. Und da kommt noch einer unsres kleinen Freundesbundes, Professor Simon. Wir sind nun bald vollzählig.

Der kleine Herr, der den beiden andern gefolgt war, verneigte sich, nachdem er sich der Dame genähert hatte, mit einer Miene der Verwunderung und sah den »Prior« fragend an. Auch er schien noch nicht in das Schwabenalter eingetreten zu sein, aber ein Zug von Schwermut auf seinem glattrasierten Gesicht ließ ahnen, daß auch er das Leben von seiner dunklen Seite kennen gelernt hatte. Er war ganz schwarz gekleidet, und den ausdrucksvollen Kopf bedeckte ein seidenes Mützchen, das ihm den Anstrich eines Geistlichen gab. Seine Züge aber trugen den Stempel semitischer Herkunft, doch war die Nase nur sanft gebogen, und der feine Mund und die schöngebildeten Augen machten ihn auf den ersten Blick anziehend.

Die Fremde wollte eben mit einem höflichen Wort sich verabschieden, als von dem Seitengäßchen her eine Glocke mit hellem Klang sich vernehmen ließ.

Unsere Tischglocke, sagte der Hauptmann. Wir sind gewohnt, unsre Abendmahlzeit schon früh einzunehmen.

Er stockte einen Augenblick. Seine alte ritterliche Gewohnheit regte sich in ihm, und trotz des aufgeregten Gesprächs hatte er seine ruhige Fassung vollkommen wiedergewonnen. Einen Blick auf die drei Herren werfend, fügte er hinzu: Ich weiß nicht, ob ich der gnädigen Frau zumuten darf, an unserm frugalen Abendmahl teilzunehmen, bei dem auf einen hohen Gast nicht gerechnet war. Aber wenn Sie uns die Ehre erweisen wollten –

Ein liebenswürdiges Lächeln erschien jetzt wieder auf dem schönen Gesicht, das so lange den Ausdruck schweren Kummers getragen hatte. Sie sah die Herren an und sagte: Wenn es nicht bloß eine höfliche Form war, werter Herr Hauptmann, sondern im Ernst gemeint, nehme ich die freundliche Einladung mit Vergnügen an und bitte nur, nicht die geringsten Umstände meinetwegen zu machen. Auch werde ich Ihnen nicht lange lästig fallen, um noch vor Einbruch der Nacht den Weg nach meinem »Blauen Engel« wieder anzutreten.

Über Peter Pauls Gesicht flog ein Freudenleuchten. Er trat rasch zu dem Hauptmann heran und flüsterte ihm ein paar Worte zu, worauf dieser mit einem Kopfnicken antwortete. Dann lief der junge Mann hastig die Stufen hinauf und verschwand im Innern des Hauses.

Die Zurückbleibenden standen eine Weile um ein Gesprächsthema verlegen einander gegenüber, bis sie sich des Nothelfers in solchen Fällen entsannen, an den die Sonne sie erinnerte, die sich strahlend dem Niedergange zuneigte und über die Waldwipfel hinweg sich in den Fenstern des Seitenflügels spiegelte. Der Prior zwar schwieg, noch in all das Herbe und Trübselige versunken, was der Besuch in ihm aufgeregt hatte. Auch der Professor blieb stumm. Der Doktor aber äußerte seine Freude, daß die gnädige Frau zu ihrem Besuch im Annenkloster einen so schönen Tag getroffen habe.

In jeder Jahreszeit freilich und bei jedem Wetter sei der Blick von dieser Höhe herab unvergleichlich schön, und wer dafür Sinn habe, aus den Wolkenbildungen allerlei Phantasien herauszulesen oder auch nur meteorologische Beobachtungen zu machen, könne sich stundenlang aufs anziehendste damit unterhalten. Freilich, fügte er lächelnd hinzu, sei das mehr ein Vergnügen für Müßiggänger und Einsiedler. Wie aber die ersten Ansiedler darauf verfallen seien, in der sumpfigen Tiefebene eine Stadt zu gründen und die gesunde Berghöhe geistlichem Besitz zu überlassen, könne man kaum begreifen.

Vielleicht, bemerkte der Professor, haben die Klosterleute, die ja stets ein glückliches Auge für das Vorteilhafte besaßen, zuerst von dem Berge Besitz ergriffen und erst nachdem sie hier oben festen Fuß gefaßt, Bauern und Fischer sich dazugefunden, von der Kirche und ihren Segnungen angezogen, vielleicht auch, weil immerhin unten selbst auf dem unergiebigen Boden der Fluß zu allerlei Erwerb geeignet erschien.

Er sprach mit einer leisen, etwas müden Stimme, oder wie jemand, der das Sprechen so gut wie verlernt hat und sich langsam wieder darin einübt. Der Doktor hatte einen desto festeren und klangvolleren Ton, und seine Augen schienen mit ihrem klaren, ruhigen Blick seine Rede zu bekräftigen, so daß ihm gut zuzuhören war.

Eben schlug es gleichzeitig auf beiden Kirchtürmchen unten sieben Uhr, da erschien der Maler wieder auf der Schwelle des Portals und lud mit einer stummen Gebärde die kleine Gesellschaft zum Eintritt ein.

Der Prior bot Helene den Arm und führte sie die Stufen hinauf.

Sie traten in eine geräumige Vorhalle, in die zu dieser Stunde durch die zwei schmalen Fenster der Fassade ein falbes Zwielicht drang. Frau Helene konnte im Vorübergehen nur ein paar altertümliche Truhen und einige geschnitzte Schränke erkennen, und da die Tür des einen halb offen stand, sah sie, daß es ein Geschirrschrank war, aus dem eben noch in der Eile eine Ergänzung des alltäglichen Tischgeräts geholt worden sein mochte.

Alsdann öffnete der Maler diensteifrig – er hatte sich ja als Laienbruder bezeichnet – die Flügeltür, und sie traten in den großen Raum, der ehemals den Klosterschwestern zum Refektorium gedient hatte und dem kleinen Häuflein weltlicher Einsiedler auch jetzt zum Speisesaal. Er mochte früher kahl und leer erschienen sein, während die jetzigen Insassen ihn aufs heiterste ausgestattet hatten.

In Manneshöhe lief eine Vertäfelung um den ganzen Sockel herum, die Wände darüber waren aber nicht einfach weiß getüncht und allenfalls durch ein Kruzifix oder das Bild der Schutzpatronin belebt, sondern mit farbigen Malereien geschmückt, die nicht nur die eine glatte Längswand, sondern auch die Zwischenräume der vier hohen Fenster gegenüber reizvoll dekorierten. In der hinteren Schmalwand war eine Tür, zu deren Seiten links ein riesiger grüner Kachelofen, rechts ein großer Anrichttisch stand. Ein paar breite Ruhebänke, mit braunem Leder überzogen, standen an der Fensterwand, kleine Schach- und Rauchtischchen davor, und der weite Saal war, wie es die frühe Jahreszeit erforderte, behaglich durchwärmt. Gerade in der Mitte aber, unter einer dreiarmigen Hängelampe, die jetzt schon angezündet war, obwohl die volle Abendglut durch die Fenster hereinfiel, stand der Eßtisch, sauber gedeckt, je drei Stühle an jeder der länglichen Seiten, am oberen Ende ein siebenter etwas bequemerer Sessel, zu dem der Prior den Gast geleitete. Er nahm zu ihrer Linken Platz, der Doktor auf der andern Seite, neben diesem der Professor, zuunterst Peter Paul.

Noch ein Fünfter befand sich im Saal, den der Hauptmann, als sie eintraten, der Baronin als Herrn Kaplan Wencke vorstellte. Ein hagerer junger Mann in einem schwarzen Gewande wie es die Seminaristen tragen, einen schwarzen Kragen mit weißem Vorstoß um den Hals. Das Gesicht, ganz bartlos, verriet mit seinen etwas groben Formen die bäuerliche Herkunft, aber ein Ausdruck von Tiefsinn und Güte war darüber verbreitet, der die Erscheinung anziehend machte. Ein Kranz dichter blonder Haare, hinter dem sich eine Tonsur verstecken mochte, umgab die fein ausgearbeitete Stirn.

Er verneigte sich artig gegen die Dame und nahm seinen Platz neben dem Hauptmann ein.

Ein Stuhl am untern Ende, dem Maler gegenüber, blieb leer.

Die Fremde mit ihrem Hausfrauenblick hatte sofort den Tisch gemustert, Gedecke und Gerät einfach aber tadellos befunden, ein paar Grade über klösterlichen Zuschnitt erhaben. Verschiedene Schüsseln mit kaltem Fleisch, Butter und Käse standen zierlich geordnet, doch keine Wein- oder Bierflaschen, statt dessen vor jedem Gedeck ein großes Glas Milch und eine mächtige Karaffe voll Wasser in der Mitte. Der Doktor entschuldigte sich gegen seine Nachbarin, daß die Hausordnung beim Nachtessen den Alkohol verpöne und nur zu Mittag denjenigen, die daran gewöhnt gewesen, Wein erlaube. Wenn sie jedoch wünsche –

Sie verneinte lächelnd und bat nur um ein Glas Wasser. Indem ging eine kleine Seitentür neben der Anricht im Hintergrunde auf, die offenbar in die Küche führte, da ein leiser Herdgeruch herausdrang, und ein langer Mensch in ländlicher Kleidung, einer Zwillichjacke und Leinwandhosen, trug auf einem Brett zwei große Schüsseln herein und präsentierte sie auf einen Wink des Hauptmanns zuerst der Dame, die den Vorsitz führte. Sie nahm von dem dampfenden Eierkuchen, der wie ein riesiger gelber Schild auf der Schüssel lag, ein Stück und auch etwas von dem hellgrünen Salat und fing unzimpferlich an zu essen.

Die Klosterköchin, sagte sie lächelnd, versteht ihre Sache. Ich habe lange keinen so vortrefflichen Eierkuchen gegessen.

Unsere Vögtin, Frau Marianne, die die Küche besorgt, hat einen sehr geschickten Gehilfen, den bekannten »besten Koch«, versetzte der Doktor. Hier oben in der scharfen Waldluft, zumal nach weiten Spaziergängen, bringen wir stets seinen tapferen Hunger mit zu Tische. Doch will ich damit ihr Verdienst nicht schmälern. Aber sehen Sie sich unseren Andreas an, das Faktotum des Klosters. Der arme Kerl, fügte er leiser hinzu, ein Tischlerssohn aus der Stadt unten, hat ebenfalls im Leben Schiffbruch gelitten, wie wir alle, und sich auf diese sichere Klippe heraufgerettet. Wie es damit zugegangen, weiß man nicht so genau. Nun macht er sich bei uns auf alle Weise nützlich, hält unsere Zimmer und Betten in Ordnung, putzt uns die Stiefel, leimt zerbrochene Tische und Stühle wieder zusammen und wartet auch bei Tische auf. Daneben hat er in seinen Feierstunden kein anderes Vergnügen, als mit dem Kinde des Klostervogts zu spielen und dem Nero den dicken Pelz auszukämmen.

In diesem Augenblick wurde die Tür der Vorhalle aufgerissen, und ein Verspäteter kam hereingestürmt, ein stämmiger Gesell mit einem interessanten Strubelkopf auf den breiten Schultern, einen schwarzen Hut in der einen Hand, in der anderen ein Bündel Zeitungen.

Ich bitt' um Verzeihung, sagte er, ich hab' im Walde gesessen und gelesen und darüber die Glocke nicht gehört. Der verdammte Reichstag! wieder eine Sitzung, deren Verhandlungen sechs Spalten füllen – alle Parteien auf dem Platz und wieder die alte Geschichte – jeder redet am andern vorbei, und wenn man fragt, was dabei herauskommt – ah!

Er hielt plötzlich inne, da er jetzt die Fremde bemerkte, und blieb mit offenem Munde und erstaunten Augen an seinem Platze stehen.

Herr Jürgen Rabe – Frau Baronin von Rittberg – stellte der Hauptmann vor. Peter Paul flüsterte dem Nachzügler ein paar leise Worte zu, worauf dieser sich niederließ und in ziemlicher Gleichgültigkeit sich daran machte, das Versäumte nachzuholen.

Der schöne Gast, der heut an der Tafel präsidierte, schien keinen sonderlichen Eindruck auf ihn zu machen, da er noch mit allen Gedanken bei seiner Zeitungslektüre verweilte, während der junge Maler kein Auge von ihr verwandte. Es war auch freilich besonders reizend, wie ihr Gesicht durch die roten Flammen der Lampe rosig verklärt wurde und die stahlgrauen Augen unter den goldblonden Wimpern fast schwarz erschienen. Peter Paul mußte sich gestehen, daß er sein Rubensideal nie so vollkommen verkörpert gesehen hatte, wie in dieser Frau. Sie war auch offenbar, obwohl ihre Mission gescheitert war, in der liebenswürdigsten und mitteilsamsten Stimmung, die endlich selbst den schweigsamen Professor ansteckte. Nur der Prior blieb stumm.

Nachdem ihre Augen zunächst nur auf die Tischnachbarn gerichtet gewesen waren, wanderten sie jetzt an den Wänden des Saales herum und verweilten auf den Malereien.

Ich irre wohl nicht, Herr Peter Paul, sagte sie, wenn ich Sie für den Schöpfer dieser Gemälde halte. Soviel ich davon verstehe, könnte man sich den Raum nicht glücklicher ausgeschmückt denken, da auch die schmalen Zwischenwände zwischen den Fenstern mit so reizenden Figuren belebt sind. Aber nun möcht' ich bitten, daß Sie mir erklären, was die beiden Zyklen vorstellen, die jedenfalls durch einen geistreichen Sinn verbunden sind. Mein bißchen Verstand reicht nur nicht aus, sogleich dahinterzukommen.

O gnädige Frau, sagte der Maler, dem das Lob aus dem schönen Munde sehr sanft einging, die Bedeutung der Bilder ist sehr einfach. Die Figuren an der Fensterwand stellen die sieben Todsünden vor, gegenüber befinden sich die sieben Kardinaltugenden. Mit denen bin ich, wie Sie sehen, noch nicht fertig. Der Herr Professor ist so gütig gewesen, mich bei der Auswahl zu beraten. Denn da unsre Gesellschaft kein richtiger Mönchsorden ist, brauchten wir uns nicht an die kirchliche Überlieferung zu halten, die uns nicht immer einleuchtete. So sehen Sie nun an der Fensterwand, so viel die mangelhafte Beleuchtung jetzt noch erkennen läßt, als erste Todsünde die Unduldsamkeit, die bei den kirchlichen bösen Sieben fehlt, dann die Eitelkeit, die Lüge, die Prüderie, den Neid, die Habsucht und in der Mitte die Dummheit.

Die Dummheit? Halten Sie die auch für eine Todsünde? Es heißt ja: Dummheit ist Gottesgabe, und nur wenn man diese Gabe mißbraucht, könne sie zur Sünde werden.

Sie haben recht, gnädige Frau, nahm der Professor das Wort. Ein Naturfehler kann eigentlich nicht ins Gewissen geschoben werden. Aber weil Dummheit die Wurzel und Grundursache aller Sünden ist, weil kein Mensch ein Verbrecher werden würde, wenn er Verstand genug hätte, das Verwerfliche seines Tuns einzusehen, haben wir die Dummheit gleichsam als die Mutter der Intoleranz, des Neides, der Prüderie und so fort in die Mitte zwischen ihre mißratenen Kinder gesetzt.

Ich habe schon früher mit Ihnen darüber gestritten, lieber Simon, sagte der Doktor lächelnd, daß Sie angeborene Schlechtigkeit nicht gelten lassen, böse Triebe im Blut, die selbst die klarste Einsicht nicht bezwingen kann. Aber wir wollen den Streit hier nicht erneuern, und da Sie Philosoph sind und Psycholog von Beruf, haben Sie in dieser Sache das letzte Wort zu sprechen.

Ich sehe, daß ich an einem helleren Tage hätte kommen sollen, um diese bedeutungsvollen symbolischen Gestalten gründlich zu studieren, versetzte Helene. Vorläufig erkenn' ich nur so viel, daß sie keine abschreckenden Gesichter haben, sondern bei allem Unheimlichen so verführerische Mienen, wie sie Sünden eigen zu sein pflegen. Auf der Wand der Tugenden ist nun vollends alles eitel Schönheit und Liebenswürdigkeit, auch sind die Figuren heller beleuchtet. Ich kann aber die Namen nicht lesen, die auf den Schildchen über den einzelnen stehen.

Den Anfang macht die Treue, sagte Peter Paul, dann folgt das Mitleid, die Wahrhaftigkeit, die Andacht, der Humor, jenes ausgelassene Frauenzimmerchen auf dem Esel, dann der Stolz –

Der Stolz? Rechnen Sie den auch zu den Tugenden?

Gewiß, gnädige Frau, bemerkte Simon. Er schützt vor der Sünde der Eitelkeit, und wem er fehlt, der hat keinen inneren Halt. Dummer Stolz freilich ist wie alles Übertriebene vom Übel, aber wir meinen den auf den eingeborenen Adel der Menschennatur, der sich nicht an das Gemeine wegwirft.

Ich verstehe, nickte sie ernsthaft. Und nun diese Siebente, hier in der Mitte –

Die Anmut. Ohne die erscheinen alle andern Tugenden wie moralisierende Pedantinnen. Unser Maler hat die ganze liebliche Schwesternschar hier in einer freieren Gruppe auf blumiger Wiese zusammengestellt, einige sich verträglich die Hände reichend oder mit den Armen umschlingend, während die Sünden schon ihrer Natur nach, auch wenn sie nicht durch die Fenster getrennt wären, meist in Feindschaft miteinander leben, da jede ihren Mann gern allein beherrschen möchte. Diese Wand aber ist, wie Sie sehen, noch ziemlich unfertig. Für die Anmut zumal hat unser Künstler in seinen Mappen keine Studien gefunden, die ihm genügten.

Die kleine Tischgesellschaft war inzwischen aufgestanden und an den Wänden herumgewandelt.

Während der Rede des Philosophen hatte nun Peter Paul in heller Verzückung die schöne Fremde betrachtet, die ganz in den Anblick der Bilder versunken war. Jetzt wandte er sich plötzlich zu dem Hauptmann, der zerstreut dabeigestanden hatte, und redete eifrig in ihn hinein. Der Prior hörte ihn ruhig an und sagte dann nur achselzuckend: Versuchen Sie's!

Der Maler aber näherte sich der Baronin und sagte in einiger Befangenheit: Ich komme, gnädigste Frau, mit einer großen Bitte, durch deren Gewährung Sie mich – ich darf sagen, uns alle aufs höchste beglücken würden. Sie sehen, der Kopf dieser letzten Figur ist nur schwach umrissen – es hat mir immer an einem lebenden Modell gefehlt, und die raffaelische certa idea wollte mir nicht kommen. Wenn Sie nur die große Güte und Gnade haben wollten, mir zu einem Porträt zu sitzen, das ich dann für das Bild benutzen könnte – nur ein paar kurze Stunden – welche Freude wär' es für uns, daran für ewige Zeiten eine sichtbare Erinnerung an diesen schönen Abend – der ja freilich auch ohne das unvergeßlich –

Er blieb stecken, sein Gesicht war über und über rot geworden.

Auch Helene war errötet. Aber ohne sich lange zu sträuben, erwiderte sie mit einem Lächeln, das ihr den vollen Anspruch gab, unter diesen Tugenden als Anmut einen Platz einzunehmen: Ich müßte kein Weib sein, das von der Todsünde der Eitelkeit wie alle ihres Geschlechts ihr Teil abbekommen hat, wenn ich eine so freundliche Bitte abschlüge. Wollen Sie daher zu mir in den Gasthof hinunterkommen – ich denke ohnehin noch ein paar Tage zu bleiben –

O verehrteste Frau, rief der Maler – nun kommt das Schwerste, was ich Ihnen zumuten müßte. Unten im »Blauen Engel«, den ich sehr gut kenne, wär' es mir unmöglich zu arbeiten. Nur hier oben in meinem Atelier hab' ich das richtige Licht und könnte auch die Beleuchtung, wie sie für das Fresko nötig ist, probieren. Wenn Sie es jedoch scheuen, noch einmal hier heraufzusteigen, müßte ich freilich versuchen, auch unter erschwerenden Umständen –

Sei's denn! sagte Helene. Ich will gern noch einmal kommen. Auch möcht' ich die Wandgemälde recht gründlich am hellen Tage betrachten. Also wenn es Ihnen morgen vormittag recht ist –

Sie sind ein Engel, gnädige Frau! entfuhr es dem Überglücklichen. Er ließ sich mit einer raschen Bewegung auf ein Knie vor ihr nieder, haschte eine ihrer Hände und drückte ehrerbietig die Lippen darauf. Bravo! rief der Doktor. Peter Paul aber sprang sogleich wieder auf, gab dem Kaplan einen Wink, und beide verschwanden durch die Tür im Hintergrunde, die aber offen blieb.

Es ist spät geworden, sagte Helene. Im Gasthof wird man nicht wissen, was man von meinem Ausbleiben zu denken hat. Ich will mich rasch auf den Weg machen und nur noch herzlichen Dank sagen für die liebenswürdige Gastfreundschaft, die ich bei den verehrten Herren gefunden habe. In der Tat, hier ist gut sein. Wenn es in allen geistlichen Verbrüderungen so freundlich aussähe, müßte man die Aufhebung der Klöster bedauern.

In diesem Augenblick drangen sanfte, friedliche Töne durch die dunkle Tür herein, eine Geigenmelodie, zu der auf einem Harmonium die Begleitung gespielt wurde. Es schien eine alte italienische Arie zu sein, kein kirchliches, aber doch auch kein profanes Stück, eine elegische Kanzone, die ein verliebter Musiker aus dem siebzehnten Jahrhundert für eine spröde Schöne gesetzt haben mochte. Bald aber wechselte die Tonart, der Rhythmus wurde munterer, und nach und nach brach sich eine freudvolle Stimmung Bahn, die zuletzt in volle heitere Harmonien ausklang, als ob nun der Widerstand der Dame besiegt sei und der Himmel sich aufgetan habe.

Sie hören, wie gewöhnlich unsere Abende beschlossen werden, flüsterte der Doktor Helenen zu. Wenn wir das entbehren müßten, würde uns das Beste fehlen.

Helene war an die Schwelle der Tür getreten und sah jetzt daß sie in die kleine Klosterkirche führte. Vom Inneren war bei dem Helldunkel nicht viel zu erkennen. Neben dem kleinen Altar aber sah sie den Kaplan an einem Harmonium sitzen, auf dem Pult lag von zwei Kerzen beleuchtet ein Notenbuch, und Peter Paul stand daneben, die Geige zwischen den Armen.

Als das Spiel verhallt war, trat sie über die Schwelle, die Spieler hatten sich erhoben, sie drückte beiden mit stummem Dank die Hand, und an ihrer Bewegung war zu fühlen, wie sehr die Musik sie ergriffen hatte. Dann trat sie in den Saal zurück und verabschiedete sich von den übrigen.

Alle gaben ihr das Geleit in den Hof hinaus bis an die Gittertür. Neben dieser stand der Klostervogt mit seiner noch jugendlichen Frau, der sie für ihr Abendessen ein freundliches Wort sagte. Das Faktotum Andreas schloß das Pförtchen auf.

Ich muß darauf verzichten, gnädige Frau, Sie hinunter zu begleiten, sagte der Hauptmann. Wir haben es aber zur Regel gemacht, die freilich nicht unverbrüchlich ist, den Umkreis unseres Gebiets nach der Stadtseite nicht zu überschreiten. Unser Diener wird Ihnen auf dem Waldwege, der jetzt schon dunkel geworden, bis in ihren Gasthof das Geleit geben.

Daß er es vermeiden wollte, das aufregende Thema noch einmal unter vier Augen mit ihr zu berühren, verschwieg er.

Sie wollte die Begleitung ablehnen, da sie sich nicht fürchte. Man ließ es aber nicht zu, und nach einem freundlich erwiderten Gutenacht verließ sie an der Seite des schweigsamen Begleiters den Burgfrieden des Klosters.


 << zurück weiter >>