Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Elftes Kapitel.

Der Wirt erwartete sie wieder unten in der offenen Haustür, einen Brief in der Hand, den die Post eben für sie gebracht habe. Sie erkannte die Handschrift der Freundin, entschuldigte sich, daß sie nicht zur Table d'hote kommen könne, und ging auch an der Wirtin, die auf der Schwelle der Küche stand, den Bescheid des Arztes von ihr zu vernehmen, mit einem bedauernden Achselzucken und dem ihr zugeflüsterten Versprechen vorbei, hernach ausführlicher zu berichten.

In ihrem Zimmer angekommen, öffnete sie hastig den Brief und las das folgende:

»Meine geliebte Einzige!

Ich habe Deinen Brief. Daß er mir nichts anderes bringen würde, habe ich erwarten müssen. Hab' ich doch auch nichts anderes verdient. Ich danke Dir wieder und wieder, daß Du den schweren Gang für mich getan hast. Dich konnte er ja nicht zurückschicken, wie meine Briefe, aber so warm Du für mich gesprochen haben magst, in den Briefen hätte er doch meine Stimme gehört, die ihm einst so lieb war. Wenn der beredteste Anwalt um Verzeihung fleht, um mildernde Umstände, es kann dem Richter doch nicht so tief zu Herzen dringen, wie wenn der Schuldige selbst seine Reue, seine Zerknirschung – ach, seine Verzweiflung vor ihn ausschüttet. Und darum muß ich selbst kommen.

Du schreibst, um mich zu beruhigen, er zürne mir nicht mehr, aber wenn er auch verzeihe, vergessen könne er nicht. O Liebste, ich wollte, er geriete noch in Wut, wenn er meinen Namen hörte, Schmerz und Grimm tobten in ihm, wie da er zuerst meine Feigheit, meinen Verrat erfuhr. Er würde dann noch das Band, das unser Leben vereinen sollte, fest um sein Herz fühlen, wenn er es dann auch von neuem zerschneiden möchte. Aber jetzt, da ich nichts mehr für ihn bin als eine Tote, eine Erinnerung an das Bitterste, was ihm je geschehen, – was hab' ich noch zu hoffen, wie kann ich glauben, daß die Tote ihm je wieder aufleben würde, außer um ihm neue Qualen zu bereiten!

Und doch muß ich selber kommen. Er braucht nicht zu fürchten, daß ich mich in sein Leben wieder einschleichen möchte, mit kleinen schmeichlerischen Künsten ihm Begnadigung abzugewinnen. Es wäre ein neues Unrecht gegen ihn. Er hat sich, nachdem er seinen Beruf, seine sichere Stellung im Leben verloren, eine Zuflucht erobert, in der er die Welt vergessen und wohl auch entbehren kann, da er sie verachten gelernt hat. Wie fände ich in diesem Asyl eine Stelle? Wie könnte ich neben ihm stehen, ohne daß er es als eine Störung seiner Ruhe empfände? Nein, für mich hoffe und wünsche ich nichts mehr. Ich habe es nicht besser verdient, als so mir selbst zur Last, niemand zur Freude hinzuleben, hoffentlich nicht mehr lange. Aber mein Kind, sein Kind! Um unsres armen Kindes willen muß er mich noch einmal sehen und anhören.

Ich bin darauf gefaßt, wenn ich mich vor seine Füße werfe, wird er über mich hinwegschreiten, statt mich aufzuheben und wieder an sein Herz zu ziehen. Aber das Kind wird neben mir stehen, und da er ein edler Mensch ist, wird er fühlen, daß er die Schuld der Mutter nicht an dem Kinde heimsuchen darf. Hilde ist so ganz die Tochter ihres Vaters, warmfühlend bis zu leidenschaftlicher Heftigkeit, tapfer und stolz, aber all ihre guten Eigenschaften müssen von einem klaren, verständigen Erzieher behütet werden, wenn das junge Leben sich rein und ohne Verirrungen entfalten soll. Das zu erreichen, bin ich, seine Mutter, nicht weise, ruhig und heiter genug. Das ist sein Amt, seine Pflicht, und ihm das aufs Gewissen zu legen, muß ich selber kommen.

Irgendwie muß er entscheiden. Wenn er Hilde bei sich behalten will, werde ich beiseite treten und nur so nahe bleiben, daß ein Ruf mich erreichen kann, sobald man mich braucht. Wie andere Mütter ihr Kind in eine Erziehungsanstalt geben, wenn die Verhältnisse es nötig machen, so werde ich mich von meinem trennen müssen – wie schweren Herzens, brauch' ich Dir nicht zu sagen. Aber sein Wille hat darüber zu entscheiden, und vielleicht, wenn er sieht, daß ich auch zu diesem Opfer bereit bin – –

Ich habe gegen meine Mutter, die der Tod des Vaters in einen fassungslosen Zustand versetzt hat, das Äußerste getan, meine Kindespflicht zu erfüllen. Du selbst hast gesehen, daß sie körperlich und geistig jeden Halt verloren hatte. Wenn ich sie früher verlassen hätte, würde ich mir einen schweren Vorwurf machen müssen. Jetzt ist sie so weit beruhigt, daß ich an meine andere Pflicht denken kann. Und so habe ich nur noch ein paar Tage nötig, um mich zur Reise und dem Schein aus den alten Verhältnissen zu rüsten. Dann kommen wir.

Ich schicke das kleine Bild meines Lieblings voraus, es ist in diesen letzten Tagen gemacht worden. Es soll für den Vater sein, sagt' ich ihr. Sie schien zu verstehen, was damit gemeint war. Ob Du für gut hältst, es ihm zu zeigen, über lasse ich Dir.

Leb wohl, Liebe, Teuerste, Beste! Verlaß mich nicht! Ich habe keinen Freund, als Dich. Was auch kommen mag, dieser Trost kann mir nicht geraubt werden.

Leb wohl! Auf Wiedersehen!

Deine Juliane.«

Nun erst, nachdem sie den Brief gelesen, betrachtete sie die kleine Karte, die dabei gelegen. Sie stellte ein etwa sechsjähriges Mädchen dar mit einer Fülle dunkler Haare, die ihr frei bis über die schmalen Schultern fielen und ein Gesichtchen von seltsamem Reiz einrahmten, nicht kindlich weiche Züge, sondern ein schmales, etwas scharfes Oval, das an ein Knabengesicht erinnerte. Unter der klaren, charaktervollen Stirn sahen zwei dunkle Augen sehr ernsthaft und doch wie mit einer schüchternen Frage in die Welt, während das festgeschlossene Mündchen einen fast trotzigen Ausdruck hatte. Die schlanke, schmale Figur stand neben einem Tischchen, über dessen Rand eine Efeuranke herabhing, in der linken Hand hielt sie einen Strauß Feldblumen, aber dieser banale photographische Aufputz konnte den Eindruck eines tiefen, frühreifen Ernstes nicht aufheben, der aus dem Kindergesichte sprach.

Kein Zug von der Mutter, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! sagte Helene vor sich hin. Sie stand auf und ging ruhelos nachdenkend im Zimmer auf und ab. Zuletzt trat sie wieder an den Tisch, nahm ein Kuvert aus ihrer Mappe, in das sie Brief und Bild hineinsteckte, und nachdem sie es geschlossen und die Adresse »Herrn Hauptmann von Greiner« darauf geschrieben hatte, klingelte sie und trug dem Pikkolo, der nach ihren Befehlen fragte, auf, den Brief sogleich nach dem Kloster hinaufzutragen und keine Antwort abzuwarten.

Sie konnte sich nicht entschließen, in den Speisesaal hinunterzugehen, wo sich heute noch mehr Mittagsgäste als sonst eingefunden hatten, um sich die Fremde anzusehen, von der in der ganzen Stadt gesprochen wurde. Sie ließ sich ein einfaches Gericht in ihr Zimmer hinaufbringen, von dem sie auch nur ein paar Bissen genoß. Zu viel Aufregendes war an diesem Tage über sie hingegangen, ihr Gespräch in der Laube droben, der Brief Julianes mit der Ankündigung ihres Kommens, das nicht im Plan gelegen hatte, die Erwartung, wie die demütige Herzensergießung der Mutter und das Bild des Kindes auf den starrsinnigen Mann wirken würde.

Hierüber jedoch sollte sie nicht lange im Zweifel bleiben.

Kaum eine Stunde, nachdem sie die Botschaft ins Kloster hinaufgesandt, klopfte es an ihre Tür. Hinrich trat unbeholfen ein, machte einen verlegenen Kratzfuß und überreichte, ohne einen Laut von sich zu geben, einen versiegelten Brief, worauf er sich hastig zurückzog.

In dem Kuvert lag Julianes Brief, die Photographie und ein Blatt von Greiners Hand mit folgenden Zeilen:

»Es ist grausam von Ihnen, gnädige Frau, daß Sie mir das Schwere noch erschweren, da Sie wissen, daß eine Änderung meines Entschlusses eine moralische Unmöglichkeit ist. Meinem Vorsatz getreu sende ich den inliegenden Brief ungelesen zurück. Schwerer ist es mir geworden, auch das Bild wieder in Ihre Hände zu legen. Aber die Pflicht der Selbsterhaltung gebietet mir, nichts in mein Leben eindringen zu lassen, was mir die Entbehrungen, die das Schicksal mir auferlegt hat, zu einem täglichen Kampf machen und meine schwer errungene Resignation erschüttern würde. Ich wäre Ihnen dankbar, gnädige Frau, wenn auch Sie jeden weiteren Versuch in dieser Hinsicht unterlassen wollten.

Ihr ergebenster         Gr.«

Ein unsäglich bitteres Gefühl schmerzlicher Enttäuschung überkam die einsame Frau, als sie das Billett überflogen hatte. »Nicht einmal gelesen!« wiederholte sie das bekannte Wort, indem sie aufsprang und heftig durch das Zimmer ging. Freilich, wenn er gelesen hätte – diesem Brief hatte sie die Macht zugetraut, den Stein, den er statt des Herzens in der Brust trug, zu schmelzen. Sie war ihrer Sache so sicher gewesen, die Nacht wenigstens hätte jeder andere, als dieser »Unmensch«, vergehen lassen, das süße Kindergesicht betrachtend, die rührenden Geständnisse der einst geliebten Frau immer wieder in seinem Gemüt erwägend und sich fragend, ob die strengste Gerechtigkeit hier nicht zur Gnade sich herablassen müsse. Und nun diese schroffe Abweisung ohne jede Bedenkzeit! Und er dünkt sich gewiß noch ein Held zu sein, wenn er alle menschlichen Regungen in sich erstickt und sich selbst am schwersten straft, indem er der Fürbitte dieser lieben Kinderaugen sein Herz verschließt! O diese hochmütigen Männer, die dem Götzen ihres falschen Ehrbegriffs alles zum Opfer bringen, was das Leben der Mühe wert macht, und glauben, es handle sich um die Bewahrung ihrer Selbstachtung, während sie nur nach dem Urteil der Menge hinhorchen und vor dem zu bestehen für ihre heiligste Pflicht halten!

In diesem Augenblick fühlte sie einen Haß gegen den Mann in sich aufsteigen, den sie bisher nur beklagt hatte. Was hätte sie darum gegeben, ihm jetzt gegenüberzustehen und ihm ihren Zorn, ihre Geringschätzung ins Gesicht zu schleudern. Wie anderen Grund hatten die Männer, die seine Weltflucht teilten! Wie edel und wahrhaft hochsinnig erschien vor allen der Doktor neben diesem starrsinnigen Egoisten, dem seine eitlen Wahnvorstellungen von einem erlittenen Unrecht, das nie zu sühnen sei, über alles gingen!

Doch um so fester war sie entschlossen, nicht das Feld zu räumen, den Kampf fortzusetzen, bis sie den stolzen Toren gedemütigt und ihn zu seinem Glück gezwungen hätte, dessen er ihr in diesem Augenblicke freilich nicht würdig erschien.

Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, steckte sie seinen Brief in einen neuen Umschlag und schrieb dazu:

»Du siehst, Liebste, wie gering die Hoffnung noch ist, unser Ziel bald zu erreichen. Aber ich habe schon einen Plan, ihm näher zu kommen, von dem ich mir viel verspreche. Ehe ich ihn ausgeführt, bitte ich Dich, nicht zu kommen, zu warten, bis Du von mir hörst, daß es nun Zeit sei. In der jetzt noch herrschenden Stimmung wäre es ein übereilter Schritt, Dich ihm in den Weg zu stellen, und könnte die Lage unheilbar verschlimmern. Ein so harter Stamm fällt nicht auf einen Schlag. Ich schreibe Dir, sobald ich Dein Kommen für wünschenswert halte. Mein Vertrauen auf das endliche Gelingen steht unerschütterlich fest.

Deine Getreue.«


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