Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.

Carus, als er später bei ihm eintrat, fand seine Zelle leer. Als sie sich bei der Mittagstafel trafen, kam es natürlich zu keiner vertrauten Aussprache. Es war überhaupt, wie so manchesmal, wenn jeder der Klosterbrüder eignen Sorgen nachhing, eine wortkarge, unerquickliche Stimmung unter der Tafelrunde, fast als träfen sich ihre Mitglieder zum erstenmal als völlig Fremde. Simon hatte gehofft, von Helene etwas über sein Buch zu vernehmen. Peter Paul vollends war in eine förmliche Schwermut versunken, da er auf seine Anfrage, wann er Helene wieder zu einer Sitzung erwarten dürfe, keine Antwort erhalten hatte.

Auch der folgende Tag verging, ohne daß seine Sehnsucht gestillt worden wäre. Hinrich aber hatte ihm erzählt, die fremde Dame habe Besuch bekommen und sei mit der anderen und einem kleinen Mädchen am Nachmittag spazieren gegangen, er habe sie im Garten des Sommerkellers getroffen, als er dort leere Flaschen abgeliefert und gefüllte dafür empfangen habe. Sie habe ihn angerufen und beauftragt, den Herrn Peter Paul zu grüßen, sie werde am Nachmittag des nächsten Tages wieder zur Sitzung kommen.

Nun hatte er freilich von niemand geradezu erfahren, wer die Neuangekommenen waren, wußte auch um die Eheschicksale des Priors nicht genau Bescheid und glaubte nur, er sei von seiner Frau geschieden worden. Als er aber am nächsten Nachmittag zu der gewohnten Stunde ungeduldig harrend in der Laube saß und pünktlich um drei Uhr das weiße Kleid hinter den Eisenstäben auftauchen sah, heute nicht allein, sondern neben ihm ein dunkelblaues, das ein kleines Mädchen trug, zweifelte er keinen Augenblick, daß es das Kind Greiners sein müsse, von dem »Tante Helene« ihm schon einmal gesprochen hatte.

Lieber Herr Peter Paul, sagte diese, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich das Töchterchen meiner Freundin, Frau von Greiner, mitgebracht habe. Sie langweilt sich unten im Blauen Engel, und auf sie findet die strenge Klosterregel, die weibliche Gäste ausschließt, doch wohl keine Anwendung. Gib dem Herrn eine Hand, Hildchen. Und steh nur, da kommt wie gerufen das Klosterkind, mit dem kannst du Bekanntschaft machen und hier im Hof eine Weile spielen, bis wir wieder gehen.

In der Tat kam gerade in diesem Augenblick das Evchen um die Ecke des Hauses mit ihrem treuen Begleiter Nero und blieb schüchtern stehen, als sie die Fremden erblickte. Nur der Hund ließ ein kurzes rauhes Aufheulen vernehmen, schwieg aber sofort auf Peter Pauls Zuruf und blieb dem Evchen dicht an der Seite, als diese sich Hilde näherte.

Er ist nicht bös, sagte der Maler, du kannst ihn ohne Furcht streicheln. Die Kleine zitterte dennoch ein wenig vor dem gewaltigen Löwenhaupt, hielt sich aber als ein Soldatenkind tapfer und legte die kleine Hand leise auf die zottige Mähne.

Daß die schöne Frau das Kind nur mitgebracht hatte, um auf irgendeine Weise dadurch einen neuen Sturm auf das Vaterherz zu machen, ahnte er freilich nicht.

Er begriff nur, daß die geschiedene Frau Gründe haben müsse, sich ihrem Manne nicht zu zeigen. Doch warum war sie überhaupt in seine Nähe gekommen, und wenn sie ihm etwas zu sagen hatte, warum erschien sie nicht selbst? Von dem Auftritt im Walde hatte er nichts erfahren. Rasch aber schlug er sich das Rätsel aus dem Kopf und gab sich einzig dem langentbehrten Glücke hin, das geliebte Gesicht wieder anschauen zu dürfen.

Die Kinder waren zurückgeblieben und Evchen hatte Hilde an der Hand gefaßt, um sie herumzuführen. Alles, was die kleine Fremde sah, erregte ihre Bewunderung, die Vögel, die auf dem Rande des Ziehbrunnens saßen, der dicke Efeu, der die Pforten und Fenster umwucherte, die Ziege in dem hohen Grase des ehemaligen Kreuzgangs. Erst nach einer Weile, in der sie stumm nebeneinander hingegangen waren, ein liebliches Bild die beiden fast gleichaltrigen kleinen Mägdlein, das Evchen trotz ihres lahmen Ganges die Frischere mit den luftgebräunten Bäckchen unter dem wehenden Blondhaar, Hilde, das Stadtkind, zarter und unter der seidenen Kapuze ihres Mäntelchens immer ernst hervorschauend, – da erst sagte diese: Wie heißest du?

Eva.

So hat Adams Frau geheißen. Heißen auch kleine Mädchen so? Ich heiße Hilde. Und der Hund?

Nero.

Er ist schön. Bleibt er immer bei dir?

Immer. Nur des Nachts schläft er in seiner Hütte. Wir haben noch eine Kuh und ein Pferd. Willst du die sehn?

Hilde nickte. Während sie nach dem Stall gingen, fragte sie wieder: Und hast du auch Freundinnen, die mit dir spielen?

Nein. Die Mädchen aus der Stadt kommen nie herauf. Wenn Andreas Zeit hat, spielt er mit mir. Er hat mir auch einen Wagen geschenkt, den er selbst gemacht hat, und ein Gärtchen gepflanzt, nur für mich, draußen im Wald, das will ich dir zeigen. Aber erst den Stall.

Hinrich erschien in der Stalltür, den kleinen Damen die Honneurs zu machen. Als Hilde fragte, ob die Kuh auch Milch gäbe, lachte er: Wozu würden wir sie sonst füttern? Wenn sie in zwei Stunden wiederkommen wolle, werde sie zuschauen können, wie sie gemolken würde. – Darum wollte sie die Mama bitten. Der Braune interessierte sie weniger. Sie hatte viel schönere Pferde gesehn. Desto mehr gefiel ihr die Ziege, die erschrocken davon sprang, als Evchen sie am Horn fassen und ihrer neuen Freundin vorstellen wollte.

Es ist schön bei euch, sagte diese. Ich wollte, ich könnte hier bleiben, wenigstens im Sommer, denn im Herbst komm' ich in die Schule. Bisher hab' ich nur bei der Mama lernen müssen. Lernst du auch schon?

Freilich. Onkel Carus gibt mir Stunden, Lesen und Schreiben und auch Rechnen. Und bei dem Herrn Kaplan habe ich zweimal in der Woche Singstunde. In die Stadt hinunter läßt mich die Mutter nicht wegen meines Fußes, es würde mich zu sehr anstrengen, sagte sie. Aber nun komm, du mußt meinen Garten sehn.

Damit lief sie voran, als könne sie nicht eilig genug der Freundin ihre Herrlichkeit zeigen.

Ist dies alles dein? fragte Hilde, als sie in den Hausgarten gekommen waren.

Nein. Da pflanzt der Vater seine Blumen und das Gemüse für die Küche. Mein Garten ist viel schöner, du wirst schon sehen.

Sie traten durch das Hinterpförtchen in den Wald hinaus. Ein schmaler Weg führte von der Hauptstraße rechts ab, zunächst durch dichtes Unterholz, dann zu einer kleinen Lichtung. In der Mitte stand eine alte Fichte, deren Zweige in Mannshöhe sich schattig ausbreiteten. Am Fuß des mächtigen Stammes hatte Evchens kunstreicher Freund etwa vier Meter im Geviert ein Blumengärtchen angelegt, kleine zierliche Beete mit Primeln, Stiefmütterchen und Maiblumen bepflanzt, die freilich noch einige Wochen brauchten, um in Flor zu kommen, da in dieser frühen Zeit nur hie und da eine Blüte sich vorgewagt hatte, das ganze kleine Gebiet [war] aber schon jetzt sehr hübsch anzuschauen, da von der Seite die Strahlen der Nachmittagsonne hereinfielen. Das Schönste aber für ein Kinderauge war ein winziges Sommerhaus, das mitten im Gärtchen stand und zu dem von den vier Seiten schmale gerade Wege führten, mit gelbem Sande bestreut. Es war ein zierlicher Bau mit kleinen Glasfenstern und einer richtigen Tür, die aufzumachen war, darüber ein kleiner Balkon, das Ganze durch ein hohes, mit geteerter Pappe gedecktes Dach gegen den Regen geschützt, der durch die Fichtenzweige doch etwa niedertriefen wollte. Den Garten aber umgab ein Zaun aus sauber geschnitzten Stäbchen, die mit einem Draht verbunden waren.

Oh! sagte Hilde und betrachtete die ganze Ansiedelung wie ein kleines Märchenschloß. So etwas Schönes hab' ich mir nie vorgestellt. Und das gehört dir ganz allein?

Evchen nickte, beugte sich weit vor über die vorderen Beete und öffnete eine Klappe im Dach. Aus der zog sie eine kleine Puppe in seidenem mit Spitzen geschmücktem Kleidchen, die eine winzige Krone auf dem Kopf trug.

Das ist die Prinzeß, sagte sie, der gehört das Schloß. Ich bin nur die Gärtnerin. Aber ich werde von der Prinzeß gescholten werden, denn ich habe seit gestern die Beete nicht begossen. Sieh nur, wie alles verdurstet ist! Aber ich will gleich Wasser holen. Indessen bleib hier ruhig sitzen – da auf der Bank – und nimm die Prinzessin auf den Schoß und erzähl ihr was. Ich bin gleich wieder da, und den Nero lass' ich dir auch.

Sie zeigte auf das Kinderbänkchen, das der Schöpfer dieses Märchenwunders neben den Stamm der Fichte gestellt hatte, gab Hilden die Puppe in die Hand und lief davon, Nero auf ihren Fersen, der ihrem Ruf, zurückzubleiben, nicht hatte gehorchen wollen.

Nun saß die Kleine ruhig auf dem angewiesenen Platz, betrachtete erst die Prinzessin mit großem Interesse, wußte ihr aber nichts zu erzählen und legte sie neben sich auf die niedrige Bank, um sich ausschließlich in die Betrachtung des Hauses und Gartens zu versenken. Sie hatte zu Haus wahrlich keinen Mangel an Spielzeug gehabt, auch ein wohleingerichtetes Puppenhaus besessen, aber das alles schien ihr leblos und kindisch gegen das, was hier in der freien Natur aus dem Boden gewachsen war und grünte und blühte, gepflegt und begossen werden mußte, eine lebendige kleine Welt, in der sogar eine Puppe eine ganz andere Rolle spielte, als in der Zimmerluft der großen Stadt.

Je länger sie in diese Märchenwelt hineinblickte, je mehr kam sie sich selbst verzaubert vor. Sie hätte gern gewußt, wie es im Innern des Gartenschlößchens aussah, ob die Prinzessin noch andere Zimmer hatte, als das Schlafzimmer unterm Dach, aus dem das Evchen sie herausgeholt hatte. Auch Dienerschaft müßte wohl vorhanden sein, daran fehlte es ja in keinem richtigen Zwergenschloß. Sie war freilich alt genug, um sich sagen zu können, das alles sei ja nur geträumt, die Prinzessin lebe nicht eigentlich und könne sich an ihrem Haus und dem lebendigen Garten nicht freuen. Aber diese Betrachtung hielt doch nicht stand in der wundersamen Stimmung, die hier, rings vom einsamen Wald umrauscht, durch den die nesterbauenden Vögel leise zwitschernd hin und her flogen und von fern der Specht hämmerte, ihre kleine Seele überkam. Sie hatte die Puppe wieder auf ihren Schoß genommen und die starren blanken Augen in dem rosigen Gesicht übten eine geheime Macht über ihre Phantasie, so daß es sie zuletzt seltsam durchschauerte. Warum kam auch ihre Gespielin immer noch nicht zurück? Zuletzt hielt sie es nicht mehr aus, sondern legte die Puppe wieder fort und stand hastig auf. Aber als sie sich umwandte, um den Weg zu suchen, auf dem sie gekommen war, sah sie plötzlich eine große Gestalt aus dem Gebüsch heraustreten, die langsam sich ihr näherte. Nur einen Augenblick war sie im Zweifel, wen sie vor sich habe. Dann streckte sie die dünnen Ärmchen zärtlich aus. Papa! O Papa! rief sie, ganz wie bei dem ersten Begegnen. Diesmal aber wandte sich der finstere Mann nicht zu eiliger Flucht. Mit ein paar großen Schritten war er bei dem Kinde, hob es mit zitternden Armen an seine Brust und hielt es daran fest, den Mund an die kleine Stirn gepreßt, während große Tropfen auf das weiche dunkle Haar herabfielen.


 << zurück weiter >>