Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Entwürfe zu Abhandlungen.

 

1.
Welche neue und bessere Bildung ist bei unsern Sinnen möglich?

  1. Ausbildung der körperlichen Sinne.
    1. Daß unsere Sinne einer Bildung fähig seien. (Gefühl; Geruch und Geschmack; Gehör; Gesicht.)
    2. Worin besteht die Ausbildung? a. Jeder Sinn hat seine Welt, seinen Kreis, b. Jeder hat seine Stufen der Feinheit, in Bemerkung der Proportionen; c. in Verbindung mehrerer Sinne; d. in Trennung derselben.
    3. Anwendung auf die drei Sinne: Gefühl, Gehör, Gesicht.
    4. Folgen auf die Seelenkräfte, a. auf die Einbildungskraft; b. aufs Gedächtniß und die Erinnerung; c. auf den Verstand.
  2. Ausbildung des moralischen Sinnes.
    1. Daß es einen solchen gebe; nicht in einem eignen Organ wohnend, sondern, wie der innere Sinn des Verstandes, so dieser moralische Sinn wirkend.
    2. Er ist die edelste Kraft und eigentliche Tendenz des Menschen:
      1. in Vergleichung mit allen körperlichen Sinnen;
      2. in Vergleichung mit den niedern Seelenkräften;
      3. in Vergleichung selbst mit dem Verstande, der durchaus aufs Wirken gestellt ist.
    3. Die wahre Cultur des Menschengeschlechts nur durch ihn und zu ihm.
      Beweise:
      1. aus den schönen Künsten und Wissenschaften, besonders der Griechen. (Homer, Sophokles.)
      2. aus dem wirklichen Leben und dem Zweck der menschlichen Geschichte.
    4. Daß der moralische Sinn einer Ausbildung nothwendig bedürfe
      Beispiele:
      1. aus Nationen (Griechen);
      2. aus Ständen (z. B. Krieger, Gefangene, Sclaven u. s. w.);
      3. von einzelnen Menschen.
    5. Daß er sehr vernachlässigt werde,
      1. in Vergleich mit andern Sinnen und Seelenkräften,
      2. in Vergleich mit andern Völkern und Zeiten, z. B. Griechen (Sokrates), Pythagoreern, Christen, Rittern.

 

2.
Vom Einfluß der Schreibekunst ins Reich der menschlichen Gedanken.Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 429–436. Dieser und der vorige Entwurf stammen aus dem letzten Jahrzehnd des vorigen Jahrhunderts. – D.

  1. Ehe an Schreibekunst gedacht ward, waren schon menschliche, und zwar die edelsten Gedanken;
    1. die vortrefflichsten Gedichte. Poesie war nicht Schrift, sondern Gesang, Tanz, Declamation, Vorstellung.
      1. der Ebräer.
      2. der Griechen.
      3. aller ungebildeten Völker, z. B. Ossian;
    2. die besten Reden und Thaten der Menschen;
    3. die größten Erfindungen zum Nutzen der Menschen;
    4. das Gedächtniß der Menschen war vor dieser Erfindung stärker. (Plato.)
  2. Die Erfindung der Schrift machte eine große Veränderung im Reich der menschlichen Gedanken.
    1. Sie bestimmte und fesselte das Wort; dadurch empfing die Sprache, der Dialekt, der Ausdruck, der Gedanke Festigkeit und Ordnung.
    2. Sie theilte es, auch ohne lebendige Gegenwart, mit. Große Einwirkung der Schreibkunst auf ganze Völker und Länder, z. B. Homer, Pindar, Horaz etc.
    3. Sie erhielt es auch für die Zukunft.
    Blick auf das, was erhalten und verloren gegangen ist. Ohne Schreibkunst ist keine Geschichte, sondern Märchen und Sage;
    Chronologie;
    Astronomie und die Mathematik in den meisten Theilen; künstliche Philosophie, Naturgeschichte u. s. w.
  3. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte eine tausendfache Schrift.
    1. Zustand der Schriften vorher, wenig, mühsam, kostbar; verstümmelt, fehlerhaft; bis zur allgemeinen Vergessenheit vergänglich.
    2. Große Veränderung mit der Erfindung.
      Alle Alten lebten auf; sie wurden allenthalben gelesen.
      Auch neue Schriften verbreiteten sich aufs Schnellste.
      Also allgemeiner Wettkampf. Reformation.
    3. Allgemeine Vervollkommnung der Wissenschaften, weil alle Geister in allen Ländern gemeinschaftlich arbeiteten. Galilei, Baco, Cartes, Leibniz, Newton, Herschel u. dergl.
    4. Verewigung der menschlichen Gedanken, daß keine allgemeine Barbarei so leicht mehr möglich ist.
    5. Leider aber auch Schwächung der menschlichen Kräfte, Verderb der Zeit, Nachahmungssucht, Empfindelei aus Büchern, Schreibsucht ohne Gedanken, fast allgemeine Verachtung der Literatur.

 

3.
Welchen Rang die deutsche Nation unter den gebildeten Völkern Europens einnehme. Ob sie sich unter ihnen hervorgethan und wodurch. In welcher Achtung sie bei ihnen stehe.Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 189–191. – D.

Eingang. Nationalstolz ist ungereimt, lächerlich und schädlich, aber Liebe zu seiner Nation ist Pflicht eines Jeden. Zu ihr gehört Nationalehre: daß man seine Nation nicht verachte; sie nicht verkleinern lasse, sondern vertheidige; selbst zu ihrer Ehre und zu ihrem Wohl sein Mögliches beitrage.

 

Frage (obige).

Auffallend, daß, da sich die deutsche Nation durch so Vieles ausgezeichnet, sie eben nicht des Ruhms genossen, der ihr gebührte; daß man es sich sogar zur Ehre rechnet, sie zu verachten; daß dies selbst Deutsche thun.

Unleugbar sei, daß sie sich hervorgethan.

  1. Durch große Begebenheiten, rühmliche Künste, Erfindungen, Bestrebungen.
    1. Sie war's, die die römische Macht einschränkte, ja selbst in den Jahrhunderten des Verfalls das römische Reich schützen mußte.
    2. Sie war's, die die meisten Länder der Römer eroberte und neu einrichtete: Italien, Spanien, Gallien, Britannien.
    3. Sie war's, die in den mittlern Zeiten sich dem Despotismus des Papstes am Meisten widersetzte, wobei große Kaiser sich erwiesen, z. B. Karl,Herder scheint hier seinen sonst so starken Widerwillen gegen Karl den Großen abgelegt zu haben. – D. Heinrich, Otto, Friedrich I. und II. u. A. (Ludwig von Baiern.)Es schwebt hier der in Schiller's Gedicht Deutsche Treue gefeierte Freundschaftsbund Ludwig's des Baiern mit dem von ihm besiegten Gegenkaiser vor, der die Verwunderung des Papstes erregte. – D.
    4. Sie war's, die den barbarischen Völkern Grenzen setzte (z. B. den Hunnen, Tatarn, Türken u. A.) und gegen sie Königreiche stiftete (z. B. in Ungarn, Preußen, Polen, Siebenbürgen).
    5. Sie war's, die die Erfindungen machte, die dem menschlichen Geist aufs Neue aufhalfen, z. B. Buchdruckerei u. a. (Dürer), die Barbarei vertrieben, Cultur gaben oder vorbereiteten u. s. w.
    6. Sie war's, die der Reformation, die überall gelodert hatte, den Ausbruch gab. (Huß, Luther und seine Gefährten.)
    7. Und die seitdem in keiner Wissenschaft und Kunst Andern nachgeblieben. Kepler, Guericke, Leibniz, Herschel, Händel u. A.

    Daß sie für dies Alles die größte Achtung und Ruhm verdiene.
  2. Daß sie von den meisten dieser Bestrebungen für sich nicht allen und den besten Nutzen gezogen.
    1. In den meisten fremden Ländern nahmen die Deutschen einen andern Charakter an – und schämten sich zuletzt ihrer Landsleute.
    2. In andern wurden sie unterdrückt.
    3. In andern verhaßt und für barbarisch gehalten.
    4. Ihre Erfindungen gedeihen selten bei ihnen, sondern in andern Ländern, und zwar wieder durch Deutsche.Klopstock's Aeußerungen in der Ode Mein Vaterland und in der Gelehrtenrepublik schwebten Herder wol vor. – D.
    5. Im Wettkampf mit Andern wird den Deutschen meistens Unrecht gethan.
    6. So weit ist's gekommen, daß man geglaubt hat, sie müßten andern Nationen nur dienen, nachahmen, von ihnen lernen u. s. w.

    Woher dieses?
    1. Wegen ihres aufrichtigen Charakters. Sie erfanden und theilten mit, waren nicht stolz, anmaßend, eitel, sondern behilflich etc.
    2. Sie sind von je her als Werkzeuge für Andere, nicht für sich gebraucht worden, z. B. unter den Römern, unter den Kaisern, gegen den römischen Despotismus u. A. Dies ist ihnen für die gute Sache im großen Ganzen rühmlich.
    3. Sie sind unter vielen Regenten vertheilt. Diesen fehlt es an Gelegenheit, Reichthum, Umfang (Kenntniß) oder gutem Willen, jede Kunst zu nützen, jedes Genie aufzumuntern (z. B. Herschel, Leibniz u. A.).
    4. Deutschland liegt in Mitte des nördlichen Europa, hat zu wenig Seeufer und großen Handel; ihm fehlen Colonien in andern Welttheilen u. A. (Der Hanseatische Bund wurde aus Geiz und Eifersucht aufgehoben.) Ihm fehlt Handel, allgemeine Betriebsamkeit, Reichthum. Auch der inländische Handel ist sehr beschränkt wegen der kleinen, abgetheilten Länder.
    5. Deutschland ist durch sein politisches Interesse mit allen Nationen Europa's verflochten. Daher unaufhörliche Kriege in Deutschland (der dreißigjährige); Tummelplatz aller Nachbarn; selten Ruhe und dauernder Wohlstand.
    6. Schlechte Nachahmungssucht anderer Nationen, insonderheit der Franzosen seit dem westfälischen Frieden. Französisch die Hofsprache; Etikette, französische Leichtigkeit.Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 483–497. – D.

    Hoffnung, daß sich das ändern werde, die Deutschen sich selbst achten werden; dann würde sie Jeder achten
    Wir wollen zur Ehre der Nation beitragen u. s. w.

 

4.
Welchen Einfluß hat die Reformation Luther's auf die politische Lage der verschiedenen Staaten Europens und auf die Fortschritte der Aufklärung gehabt?Die von dem französischen Nationalinstitut 1802 gestellte Preisaufgabe: Charles de Villers gewann den Preis. In der dritten, 1808 erschienenen Ausgabe seiner Preisschrift: »Essai sur l'esprit et l'influence de la révolution de Luther«, theilte er auch Herder's Entwurf in französischer Uebersetzung mit. »Wenn ich auch den Preis nicht erhalte,« bemerkte Herder über seine Arbeit gegen seine Gattin, »so soll's doch eine hübsche Schrift für Deutschland werden.« Zur Ausführung fehlten Zeit und Gesundheit. – D.

Einleitung.

  1. Die politische Lage der Staaten überhaupt und der Zustand der Aufklärung vor der Reformation forderte eine Reformation.
    1. Bellum clericorum cum laicis; abusus auctoritatis clericalis, papae etc.
    2. Knechtische Verstandes- und Gewissensleitung.
    3. Verdorbenheit der Geistlichen und Weltlichen in allen Ständen, mit Hinsicht auf Religion und Politik.
    4. Verändertes Verhältniß zwischen Ernährern und Verzehrern durch Entdeckungen, Handel, Gewerbe.
    5. Neuerweckte Wissenschaft hatte den Geist geschärft.
  2. Molimina dazu vorher: Concilien, Platonische Philosophie in Italien – Alles unzulänglich!

Dies vorausgesetzt, hat sie wirken müssen nach Lage der Staaten: wie sie diese fand; wie diese sie annehmen konnten; wie sie selbst war. Luther wollte sich nicht von der Kirche trennen, wollte den Staat nicht ändern; Kurfürst Friedrich gleichfalls nicht. Niemand dachte an diese Folgen: das Unternehmen so rein, wie irgend ein menschliches es sein kann.

Reformation.

  1. In England. Heinrich's schlechte Beweggründe, schlechte Weise der Annahme, schlechte Folgen.
  2. In Frankreich. Warum Franz sie nicht annahm. Folgen dennoch, durch Calvin.
  3. In den nordischen Staaten, Dänemark, Schweden.
  4. In Deutschland. Warum nicht ganz Deutschland sie annahm. Wie wurde sie eingeführt in Fürstenthümern? wie in den Reichsstädten? Wo und wie Protestanten unterdrückt wurden.
  5. In Italien, Polen, Rußland u. s. w.

Allenthalben Principien etablirt von:

  1. freiem Gebrauch des Verstandes, in Religion, in Allem. Große Folgen davon: Knechtschaft abgethan u. s. w.
  2. Gewissensfreiheit. Also Knechtschaft abgethan in den Seelen. (Untersuchung, in welcher Zeit der Katholicismus gut war, wann entbehrlich oder unentbehrlich, oder hinderlich und schädlich.)
  3. Bessere Begriffe von guten Werken, für bürgerliche, menschliche Brauchbarkeit in allen Ständen, Classen, Künsten u. s. w.
  4. Die Autorität der Geistlichen konnte nicht mehr so viel hindern. Also:
    1. Schulen und Akademien nach anderm Zuschnitt.
    2. Philosophie, Kritik ebenfalls.
    3. Politik: andere freiere Grundsätze, menschlichere.
    4. Anderes Ziel der guten Werkthätigkeit, auch in andern Ständen.
    5. Toleranz.
    6. Mehr Gemeingeist der Menschheit.
    7. Geist des widrigen Nationalhasses geschwächt, allgemeine Zwecke für die Menschheit in Gang gebracht.

Unvollkommen blieb die Reformation weil man in der Dunkelheit stritt, nicht helle Principien hatte; sich schied und trennte. Daher Stockung auf beiden Seiten, Mißdeutung, Empörungen, Bauernkriege. Controversen, Verfolgungen, Inquisition. Jesuiten, die dazwischen traten.

Aber ein fortgehender Geist ist in ihr:

  1. der freien Wirksamkeit des menschlichen Geistes, extensive, intensive;
  2. des menschlichen Gefühls und Herzens, immer mehr alle Nationen zu denselben Interessen ohne Rivalität, mit Aemulation zu vereinen; daß Politik und Moral nicht mehr in Gegensatz stehen.

Lage der Staaten gegen einander muß durch den reellen Protestantismus, auch ohne dessen Namen, gewinnen; das Alte, Drückende, Untaugliche, Unverständliche im Katholicismus muß allmählich weg, Religion als menschliches und zugleich Staatsinteresse allgemein gefühlt werden.

Gegenseitige Duldung bei verschiedenen Formen der Kirche muß herrschend, Religionshaß, Verfolgung lächerlich, abscheulich, Religion eines Jeden nicht von Andern als Richter untersucht werden. (In südlichen Ländern, bei sinnlichen Völkern mehr Festtage, Cerimonien u. dergl. nöthig; bei den weniger sinnlichen Nordländern bei weniger Aufwand mehr Vernünftigkeit.)

Tendenz aller Kirchen zur Einheit der Religion, in Gemeinnützigkeit, Vernunft, Wahrheit.

 

5.
Ob eine Uebersicht der gesammten menschlichen Kenntniß möglich. Warum nicht? Wäre sie nützlich? Wozu?

Gebrauch und Mißbrauch; rechtes und falsches Verhältniß der Wörterbücher.

Von den Gattungen menschlicher Erkenntniß und ihrer Einwirkung auf Wissenschaften und Disciplinen.

Unterschied der Gelehrsamkeit und Weisheit. Verhältniß der sub- und objectiven Wissenschaft gegen einander. Von der Polyhistorie und Polymathie; derselben Nutzen und Schaden.

Welches sind die Zwecke der Wissenschaft? Welches ist der Maßstab zu Schätzung ihres Werthes und Unwerthes?

Welches ist der Vorzug der Alten und der Neuern?

 


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