Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Seneca, Philosoph und Minister.Neue Deutsche Monatsschrift 1795. Juliheft. – D.

Zwei Briefe.

 

Erster Brief.

»Alle Meinungen über die Seelen der Verstorbenen«, sagt Diderot zum Herausgeber der Schriften des Seneca in La Grange's Uebersetzung, »sind mir annehmlich, wenn sie mich rühren oder mir schmeicheln. Mich dünkt in diesem Augenblick, ich sehe den Schatten unsers guten La Grange um Ihre Lampe schweben, indeß Sie Nächte hinbringen, sein Werk zu vollenden und zu erläutern. Ich höre, ja, ich höre ihn; er spricht: ›Wer die zerstreute Asche eines Unbekannten in eine Urne sammelt, thut eine heilige Menschenpflicht; wie viel bin ich Dir schuldig, Dir, der Du Dich um meine Ehre mühest!‹«

Und er fährt fort: »Ach, nur von mir hing es ab, daß Seneca auch zu mir spräche: ›Fast achtzehn Jahrhunderte sind's, daß mein Name dem Druck der Verleumdung unterliegt, und ich finde an Dir einen Vertheidiger? Was bin ich Dir? Welch Verhältniß kann in einem so großen Zwischenraum der Zeit zwischen mir und Dir sein? Wärest Du etwa meiner Abkömmlinge einer? Und was liegt's Dir an, ob man mich tugendhaft oder lasterhaft glaube?‹«

»O Seneca,« antwortet der Verfasser, »Du, mit Sokrates, mit allen ruhmwürdigen Unglücklichen, mit allen großen Männern des Alterthums warest bisher und sollst immer eins der sanftesten Bande zwischen meinen Freunden und mir, zwischen unterrichteten Menschen aller Zeitalter und ihren Freunden bleiben. Du bist der Gegenstand unsrer oftmaligen Unterhaltung, und Du wirst ein Gegenstand der ihrigen sein. Wie oft habe ich, um von Dir würdig sprechen zu können, Deine nachdrucks-, Deine gewaltvolle Kürze beneidet! Wenn Deine Ehre Dir lieber war als Dein Leben, so sage mir: die Niedrigen, die Dein Andenken befleckt haben, waren sie nicht grausamer als Der, der Dir die Adern öffnen ließ? Es wird mir tröstend sein, wenn ich Dich an Einem und dem Andern räche.«

So schrieb Diderot vor seinem Versuch über des Seneca Leben und Schriften;Essai sur la vie de Sénèque, sur ses ècrits et sur les règnes de Claude et de Néron. Paris 1779. – H. er hat sein Wort gehalten; einen wärmeren Freund, einen scharfsinnigern, dringendern Vertheidiger hat so leicht kein anderer Staatsmann und Philosoph gefunden. Er geht des Seneca Leben und Schriften mit Anmerkungen durch, die uns in eine Gesellschaft der weltkundigsten Menschen versetzen und, wo sie uns auch nicht ganz überzeugen, doch so ausgesucht belehren, daß man das Buch fast mit einer süßeren Hochachtung für den Vertheidiger als den Vertheidigten aus der Hand legt.

Wir Deutsche können mit diesem sogenannten Versuch eine andre gute Schrift: Seneca, nach dem Charakter seines Lebens und seiner Schriften, entworfen von Nüscheler,Zürich 1783. – H. verbinden. Warum ist diese schöne Schrift unvollendet? warum ist's bei dem ersten Bändchen geblieben?

Hinter Kleist's Gedichten findet sich ein kurzes Trauerspiel, Seneca, in Prose. Auch Andre haben den Gegenstand bearbeitet, und Lessing hat ihn sowie den Tod des Nero bearbeiten wollen.Vgl. Lessing's Werke, Th. XI. Abth. 2. S. 680. – D. Schade, daß er's nicht gethan hat! Kleist's Trauerspiel ist sehr einfach; die Charaktere des Seneca und der Pompeja (so heißt hier seine Gemahlin) stehen fast unbeweglich da; der Knote wird ins Stück durch eine fremde Person, den Polybius, Seneca's Freund, der für ihn sterben will, nur hineingewebt. Sollte nicht, selbst der Geschichte nach, eine vielseitigere, innigere Bearbeitung dieses berühmten Todes möglich sein, die unstreitig auch lehrreicher wäre?

Seneca nämlich war nicht Philosoph allein, er war Minister. Während der gepriesenen fünf glücklichen Regierungsjahre des Nero verwaltete er mit Burrhus das Reich; ja, vorher schon hatte die Mutter Nero's, Agrippine, seine Zurückberufung aus Sardinien zu ihren Absichten bewirkt; er ward der Lehrer ihres Sohnes. Seitdem geschahen alle Handlungen Nero's vor seinen Augen. Er war's, der dem jungen Kaiser die Trauerrede auf seinen Vorgänger Claudius machte, bei der sich, wie Tacitus sagt, Niemand des Lachens enthalten konnte, und die Seneca nachher selbst durch die Apokolokyntosis bitter widerlegte. Er hatte die Rede gemacht, mit der Nero die Regierung antrat, jene Rede, die ihrer vortrefflichen Grundsätze wegen in Erz gegraben ward und an jedem Neujahrstage vorlesen werden sollte. Er verfertigte die Gnadenreden, die Nero im Senat vortrug; und indem er mit der herrschsüchtigen Agrippine, deren Creatur er war, einerseits zu kämpfen hatte, sahe er auf der andern Seite auch im gütigen Nero lange schon den Löwen voraus, der (nach Seneca's eigenem Ausdruck), sobald er einmal Blut geschmeckt hätte, seine ganze Natur zeigen würde.

Diese zeigte Nero bald. Unthaten, Morde, Vergiftungen, Einziehungen der Güter folgten einander, und viele dieser Güter wurden den Freunden des Kaisers geschenkt, unter denen Seneca seinen Theil auch nicht auszuschlagen wagte. Der Entwurf des Muttermordes wird ihm und dem Burrhus vorgelegt; sie müssen Ja sagen und Seneca die That in einem Briefe an den Senat sogar rechtfertigen.

Mit Gewalt will Nero ein öffentlicher Wagenführer oder Zitherschläger werden; Burrhus und Seneca geben im Ersten nach, um das Zweite zu verhüten, bei welchem er sich aber um sie gar nicht mehr kümmert; Beide müssen zuschauen, wie er unter dem Geklatsch der verworfensten Leute die Zither schlägt.

Nero theilt seine Tage in Grausamkeit und Wollust: Seneca bleibt am Hofe. Rom brennt sechs Tage und sieben Nächte: Nero singt dabei in theatralischer Kleidung den Brand von Troja; Seneca bleibt.

Die Anklagen der Verschwörung nehmen zu, sie wagen sich an ihn selbst; er bittet um seine Entlassung und läßt sich durch eine verstellte Bitte des Kaisers: »er werde doch seinen Freund nicht verlassen wollen!« festhalten, bis endlich die Klaue des Tigers ihm so nahe kommt, daß er auf seinen Abschied dringt, da er denn fortan in seinen prächtigen Gärten, auf seinen reichen Landgütern nirgends mehr vor dem Gift, das ihm droht, sicher ist und sich mit Feld- und Baumfrüchten, mit Wasser aus dem Strom sein Leben fristet.

Wie nun? Der Philosoph, der sich jeden Tag über sein Leben die strengste Rechenschaft abzulegen vorgab, sollte er sich solche jetzt, wenn er in seinen Gärten wie ein Verlassener umherirrt, wenn er dabei seine Reichthümer, vierzig Millionen an Werth, betrachtet, nie abgelegt haben? So darf wenigstens der Dichter des Trauerspiels ihn zwingen, diese Rechenschaft vor sich selbst abzulegen! »Wie bestehst Du mit Deinen Grundsätzen? Was hattest Du mit der Julia? War es Deiner werth, daß Du dem freigelassenen Polybius also schmeicheltest? Konntest Du, als Dich Agrippine aus Sardinien zurückberief, etwas Anders erwarten, als was erfolgte? Und warum ließest Du Dich, da Du das Herz des Nero von innen und außen sahst, so lange halten? Du hinterlässest unnennbare, von Zinsen bedrückter Nationen genährte Reichthümer – für wen? Deine Familie ist untergegangen; einer Deiner Brüder hat sich die Adern eröffnet, der andre hat vom Tyrannen Gnade erfleht, und Du lebst? Du lebtest so lange um ihn, für ihn, machtest es Dir zur Pflicht, ihn als eine Lust des Menschengeschlechts anzukündigen, zu rechtfertigen, zu beschönen: hast Du kein Verbrechen der beleidigten Majestät begangen, indem Du Dich nicht von ihm, sondern von Dir selbst zu solchen Dingen so lange gebrauchen ließest? Ruft nicht jeder Ermordete, ruft nicht das römische Volk, ruft nicht Nero selbst gegen Dich? Und was bist Du, enthaltsamer, standhafter, das Leben verachtender Weiser, vor diesen Tischen, diesen Spiegeln, in diesen Sälen, vor diesen Seen, in diesen Gegenden, bei Dir, in Deinem Innern? Rechtfertige Dich vor Dir selbst; der Tribun kommt, und was will der Tribun?«

Das Haus ist von Soldaten umringt, der Tribun fordert Rechenschaft über eine entdeckte Verschwörung. Sowol Seneca als Nero wissen, daß dies hier nur Vorwand sein soll. Der Philosoph hat dem Tyrannen zu lange gelebt. Seneca ist bei Tisch; er antwortet unerschrocken und heiter. Der Tribun bringt die Antwort. Warum sollte hier nicht der Vorhang aufgezogen werden, um auch des Nero inneres Gemüth und seine äußere Lage ganz zu enthüllen? Hier mögen Poppäa und Tigellin auftreten; selbst das Blutgericht über die Verschwörung des Piso mit allen herzhaften Antworten der Verschwornen erscheine.

Seneca ist unschuldig, und Nero weiß es. Er fragt den Tribun, ob er ihn bereit gefunden, sich selbst den Tod zu geben; und da der Tribun versichert, daß er ihm völlig gefaßt und heiter geantwortet habe, empfängt er die kurze Ordre der Hinrichtung: regredi et indicere mortem. Sie ist bald gegeben; aber der Dichter wird sie nicht so bald verschmerzen. Er wird den Mörder in der Gemüthsstimmung zeigen, in der er sich immer, auch beim Morde seiner Mutter und beim schändlichen Ausgange seines eignen Lebens wies, grausam-feige.

Und diesem Elenden hatte Seneca zu seinem Ruhme verholfen? Er wiederum hatte Seneca gescheut und scheut ihn noch jetzt, wie die Frage an den Tribun zeigt. Beide also, sowol den Tyrannen als den ehemaligen Tyrannenführer, vor das Tribunal zu stellen, dem kein Sterblicher entgeht, Beide davor mit ihren Freunden und Feinden zu confrontiren, dies wäre das hohe Forum des Schauspiels.

Der Tribun hat nicht das Herz, an Seneca den Mord zu vollführen; er fragt darüber den Präfect Fenius und schickt endlich einen Centurio in seinem Namen. Im Verfolg des Drama ist dies ein nicht zu verachtender Umstand. Der Centurio kommt; Seneca will sein Testament machen; es wird ihm verweigert. »So vermache ich Euch mein Leben,« sagt der Philosoph zu seinen Freunden; er besänftigt ihre Thränen und hat, ich möchte sagen, hier einen schönern Platz als Sokrates selbst zu seinen letzten Gesprächen.

Seine junge Gemahlin Pauline will mit ihm sterben; er ermahnt sie zum Leben – eine Scene, in die der Dichter alle Zärtlichkeit und Philosophie bringen kann, die dem Orte gebührt. Endlich willigt er in ihren Tod, und ein Augenblick öffnet Beiden die Adern.

Ich übergehe die folgenden Umstände und wünschte, daß wir die letzten Worte des Sterbenden hätten. Et novissimo quoque momento, suppeditante eloquentia, advocatis scriptoribus, pleraque tradidit, quae in vulgus edita ejus verbis invertere supersedeo.Tac. Ann., XV. 63. – D. Warum hast Du uns diese Worte unterdrückt, o Tacitus? Glaubtest Du, daß das Volk, das sie damals auswendig wußte, immer fortleben würde? Gewiß waren sie ein Bekenntniß, dem ähnlich, das Subrius Flavius dem Nero unter die Augen sagte: »Niemand war Dir treuer als ich, so lange Du Liebe verdientest; ich fing zu hassen Dich an, seit Du ein Mörder Deiner Mutter, Deines Weibes, ein Wagenlenker, Zitherschläger, ein Mordbrenner wurdest.«Tac. Ann., XV. 67. – D. Seneca's letzte Worte würden das Verhältniß, das zwischen ihm und Nero obgewaltet hatte, zeigen.

Er stirbt. Pauline wird mit Gewalt zurück ins Leben gebracht; sie lebt aber nur wenige Jahre, behält ihren Gemahl in rühmlichem Andenken; blaß und blutlos, ist sie selbst fortan ein Denkmal seines Todes.

Welche Scene, da sie wiederum ins Leben zurückkam! welche andre, da dem Sterbenden auch das Gift seines Freundes den Dienst versagte, nebst Allem, was von Seiten Nero's und des Senats darauf folgte! Mich dünkt, es könnte ein Trauerspiel hieraus erwachsen, das die stoische Philosophie am Hofe ebenso prüfte, als z. B. Lessing's andre Stücke ihre Helden prüfen. Vielleicht ist es mir unbekannt längst schon da; gewiß aber kann es aus Tacitus' Beschreibung, den Anschuldigungen Seneca's und Diderot's Buch werden.

Racine sagt vor seinem Britannicus: »Um einen ehrlichen Mann der Pest des Hofes unter Nero entgegenzusetzen, habe ich lieber den Burrhus als den Seneca gewählt. Beide waren Erzieher des Nero in seinen Jugendjahren gewesen, der Eine für die Kriegskenntnisse, der Andre für die Wissenschaften. Beide waren berühmt, Burrhus wegen seiner Kriegserfahrenheit und sittlichen Strenge (militaribus curis et severitate morum), Seneca wegen seiner Beredsamkeit und Geistesanmuth (praeceptis eloquentiae et comitate honesta). Burrhus wurde nach seinem Tode seiner Tugend wegen außerordentlich vermißt und bedauert (civitati grande desiderium ejus mansit per memoriam virtutis).« Mich dünkt, Racine habe zu seinem Zweck den Burrhus sehr schicklich gewählt.

 

Zweiter Brief.

Glauben Sie nicht, daß ich mich in der Idee des Trauerspiels »Seneca« zu seinen Verleumdern gesellen wollte! Rechtfertigt sich der tragische Seneca, wie ich es nach Tacitus glaube, vor sich selbst und seinen Freunden, so kann er, auch bei Schwächen seines Charakters, die er jetzt selbst einsieht, als ein glorreicher Staatsmärterer da stehen, so daß, wenn er das Auge schließt, man ihn eines größeren Lohnes werth hält, als daß man ihm, wie einige Verschworne es wollten, hinter Nero das Reich antrage. Wahrscheinlich würde er das Reich ausgeschlagen haben, wenn er war, wofür ich ihn halte.

Was ich merklich machen wollte, war einzig dieses, daß philosophische Sprüche, wenn sie auch die edelsten, stärksten, ja göttliche Sprüche wären, an und für sich noch nicht das Leben eines Menschen, zumal eines Staatsmannes, beurkunden und vor aller Schwachheit sichern. Der Hof ist ein so trügliches Element und ein politisches Leben unter Nero eine so gefahrvolle Scene, daß alle Briefe des Seneca, auch mit völliger Liebe zur Wahrheit, nicht als Sentenzen, sondern als Sache des Herzens geschrieben, uns jeden Schritt, den ihr Verfasser praktisch that, gewiß noch nicht verbürgen. Nicht daß er deswegen eine ewige Lüge und Satire gegen sich selbst hätte schreiben wollen und müssen, wie Diderot den Fall setzt; denn wer verzeiht sich nicht Vieles, sobald man sich Eins verziehen hat? und wie so manche Täuschungen giebt's, mit denen uns der Wahn, unentbehrlich zu sein, die Hoffnung, mit der Zeit nützlicher zu werden, die Sucht zu gefallen, die Furcht vor einem Aergern, als das Jetzige schon ist, endlich die Liebe zur Gewohnheit, die Anhänglichkeit an Ehre, Rang, Freunde, Bekannte, an uns selbst und alle Buhlerinnen unsers Herzens und Lebens von Tage zu Tage sanft und unsanft hintäuschen? Auch unter solchen Verirrungen konnte Seneca immer noch der mehr als kaiserlichen Achtung werth sein, die ihm Tacitus erweist.

Gnug, wie auch sein Charakter sein mochte, seine Schriften sind ein reiches Füllhorn der schönsten, größten Sentenzen. Diderot hebt mehrere derselben aus, fügt seine Meinung hinzu und spricht mit unserm Innern so vertraulich, daß der Leser sich gedrungen fühlt, hie und da auch sein Wort hinzuzusetzen und mit Seneca, mit Diderot zu raisonniren, als ob er der Dritte sein müßte. Hiemit wird das Buch ein lebendiges Gespräch zwischen dem alten Weisen, seinem Ausleger und Freunde, endlich mit uns selbst, in vielfacher Anwendung auf neuere Welt- und Lebensscenen. »Ach,« sagt Diderot, »hätte ich die Werke des Seneca früher gelesen! hätte ich in einem Alter von dreißig Jahren seine Grundsätze angenommen, wie viel Vergnügen wäre ich diesem Philosophen schuldig, oder vielmehr, wie manchen Schmerz hätte er mir entfernt! Du bist's, o Seneca, dessen Hauch die leeren Phantome des Lebens zerstreut, Du bist's, der dem Menschen Würde, Festigkeit, Nachsicht gegen seinen Freund, gegen seinen Feind, Verachtung des Glückes, der Verleumdung, des Ruhms, der Würden, des Lebens, des Todes einzuhauchen, Du bist's, der von der Tugend zu sprechen und Begeisterung für sie zu entzünden weiß. Du hättest mehr an mir gethan als mein Vater, meine Mutter, meine Lehrer; sie wollten mich Alle zur Güte bilden, sie wußten aber nicht, wie. Wie hasse ich jetzt Die, die mir den Seneca herabsetzten! Ihr kleinmüthiger Geschmack hielt mir die Augen auf den Cicero geheftet, der mich lehren könnte, wohl zu reden, und entzog mir Den, der mich gelehrt hätte, wohl zu handeln. Und doch, welch ein Unterschied zwischen der Reinigkeit des Stils, die ich mit dem Ersten nicht erlangt habe, und der Reinigkeit der Seele, die in mir gewiß gewachsen und befestigt wäre, wenn ich im Zweiten studirt, über ihn nachgedacht, mich in ihm genährt hätte! Selbst jetzt, in einem Alter, in welchem man sich nicht leicht mehr bessert, habe ich den Seneca nicht ohne Nutzen für mich und für Andre um mich gelesen; es scheint mir, daß ich das Urtheil Andrer über mich weniger, mein Urtheil über mich dagegen desto mehr scheue und achte; es scheint mir, daß ich die verflossenen Jahre weniger bedaure, auf die kommenden weniger einen Werth lege. O, wie übel hat man gethan, daß man, um mich zu einem bessern Schriftsteller zu machen, mich hinderte, ein besserer Mensch zu werden! Verhärtet hat mich Seneca nicht; ich gestehe aber, es möchte Weniges sein, worüber ich laut aufschreien würde. Nur glaube man nicht, daß man ihn aus einigen Blättern kennen lerne und über ihn urtheilen dürfe! Man lese ihn ganz, und noch einmal! man lese den Tacitus dazu und werfe meine Apologie ins Feuer! Erst dann wird man wahrhaftig überzeugt sein, daß Seneca ein Mann von einem großen Talent und einer seltnen Tugend gewesen, da seine Verleumder hingegen zu den ärgsten, ungerechtesten Menschen gehören.«

So schrieb Diderot zu einer Zeit, da er sich vielleicht selbst vor den »Confessionen« und, wie er glaubte, den Verleumdungen Rousseau's scheute. Rousseau's »Confessionen« haben ihm nicht geschadet; und auch dem Seneca schadeten seine Verleumder nicht. Dem Xiphilin steht Tacitus entgegen, und seine Schriften sprechen in Tugenden und Fehlern für sich selbst.

»Jedes Alter«, sagt Diderot, »schreibt und liest nach seiner Weise. Die Jugend liebt Begebenheiten, Facta, das Alter Reflexionen. Einem Mann von Jahren, dem die meinigen zu lang, zu häufig, dem Gegenstande zu fremde vorkommen, würde ich rathen, den Tacitus, Sueton und Seneca mit sich in die Einsamkeit zu nehmen; die Sachen, die ihm merkwürdig vorkommen, die Ideen, die sie in seinem Geist erwecken, die Gedanken dieser Schriftsteller, die er zu behalten wünscht, die Gesinnungen, die er erproben will, aufs Papier zu werfen, ohne ein andres Project, als sich selbst zu unterrichten. Fast bin ich gewiß, daß, wenn er sich an den Orten verweilt, wo ich mich verweilte, wenn er sein Jahrhundert mit den vergangnen Jahrhunderten vergleicht und aus erlebten Umständen und Charakteren Vermuthungen über das zieht, was das Heute uns ankündigt, was das Morgen uns hoffen oder fürchten läßt: er würde ein Buch machen ohngefähr wie das meinige. Allenthalben bin ich in Gesellschaft; ich frage, ich antworte.« Wenn dies nicht ein gute Art zu lesen ist, so kenne ich fast keine andre.

 


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