Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Aus Herder's Nachlaß.

 

Zu Karl von Dalberg's »Betrachtungen über das Universum« (1777).J. von Müller hatte diesen Aufsatz »Ueber die dem Menschen angeborne Lüge« überschrieben, aber richtig dessen Beziehung auf die Schrift Dalberg's erkannt und seine Entstehung in den Januar 1777 gesetzt. Dalberg erwidert darauf am 27. Januar. Vgl. »Von und an Herder«, III. 251 f. – D.

1. Die Sache des ungeheuern Widerspruchs im Menschen und in seiner Gesellschaft ist leider treffend wahr geschildert, ebenso treffend und wahr auf den Stolz zurückgebracht, unsre erste und fast einzige Sünde, Proteus in hundert Gestalten und ein ewiger Phönix, der aus der Asche seines verglimmten Vorwesers wieder ersteht. Daß die Lehre und Uebung des Christenthums hiegegen der einige, göttliche, wahre Rath sei, ist mit einer Stärke und Wahrheitfülle gesagt, die nur aus dem Herzen und der innigsten Ueberzeugung kommen konnte.

2. Im Wesentlichen sind wir also nicht blos einig, sondern ich bin eben in diesem Wesentlichen und in der tiefen Einfalt seiner Darstellung unendlich Lehrling gewesen, so wie ich's auch noch lange bleiben werde. Aber nun, wenn ich die Reduction aufs Gesetz der Immutabilität u. dergl. (nur der Rand und die terminologische Einfassung der Wahrheit) weniger verstehe, rührt's ohne Zweifel von mir her, und daß ich nur ein abgebrochnes Stück lese, von dem ich nicht weiß, woran es hangt, und zu welchem größern Werk es eilt.

3. Ist der Widerspruch (§. 1) wahr, so giebt's zwei Immutabilitäten im Menschen, zwei principes constans, die nach ihren Gesetzen wirken, und wenn sie beide dem Hauptgesetz gehorchen, daß Jedes Seinesgleichen hervorbringt, so löst dies den Knoten des Widerspruchs im Menschen so wenig, daß es ihn vielmehr recht sichtbar macht und zwei Götter, zwei principes constans, setzt, die, jedes in seiner Natur, nach ewigen Grundgesetzen handeln, handeln müssen und handeln werden. Da ich dies nun mit der Natur des mächtigsten, besten, gütigsten, voraussehendsten Wesens so wenig als mit der Thatgeschichte des Menschengeschlechts vereinigen kann, wo doch (§. 1) ein Mittel, der Geist des Christenthums, gefunden und wirklich da ist, diesen Knoten zu lösen, den Geist des Stolzes unter ein Gesetz höherer Demuth gefangen zu nehmen u. s. w., so muß, da dies Mittel doch von Gott kommt wie die Menschennatur selbst, und bei ihm Alles, Gegenwart, Verbindung, Eins ist, auch dies Mittel zusammt dem vorigen Widerspruche Eins gewesen sein und, wie alle seine Mittel und Zwecke die besten sind, gerade auch in dieser Divergenz und Contrarietät zweier Kräfte der Menschheit vielleicht eben ihr Zweck, ihre jetzige höhere Bestimmung liegen. Um mich indessen diesem schweren Knoten, dem Mittelpunkt höchster Weisheit und Güte in aller uns bekannten Natur, nur durch Analogie zu nähern, dünkt mich's

4. daß die Schöpfung überhaupt in allen ihren Stufen und Arten eben dieser Contrarietät unterworfen sei, sofern sie's nämlich nach ihren Stufen und Arten sein konnte. Es wird, vielleicht etwas freigebig, vorausgesetzt, daß Alles in der Schöpfung sonst Wahrheit sei, nur der Mensch Lüge: sollte dem also sein? Wie würde denn Materie, Thier, Zusammenordnung eines eingeschränkten Ganzen möglich? Die Materie ist eine ewige Lüge, d. i. ein Phänomenon von lauter Kräften, geistigen, wirksamen Kräften, die in ihrer Existenz bezirkt, gehindert sind und durch positive Kräfte und Bahnen, deren Ursachen außer ihnen liegen, bestimmt werden. Wer weiß, was die Kraft der Schwere, der Union eins ist? von welchem Grad geistiger Kraft sie für uns das Phänomenon sei? Wir sehen indeß immer, daß sie nach Stolz, d. i. ewig fortgesetztem Streben und Drücken ihrer Kraft, in gerader Linie wirke, und daß der Schöpfer ihr nur nach positiven Regeln eines höhern Plans, eines Ganzen, von dem sie nichts weiß, gewisse äußere Mittelpunkte des Anziehens gesetzt habe, die die Kraft ihres Stolzes, jener gerad fortlaufenden Bewegung, schwächen und eben damit einen Sonnenplan voll höherer Weisheit und Güte, Körper und Substanzen voll tiefern Lebens und Genusses bilden müssen. Die Contrarietät des Menschen scheint mir also in den ganzen Weltbau verbreitet. Ueberall zwei Kräfte, die sich einander entgegengesetzt, doch zusammenwirken müssen, und wo nur aus der Combination und gemäßigten Wirkung beider das höhere Resultat einer weisen Güte, Ordnung, Bildung, Organisation, Leben wird. Alles Leben entspringt auf solche Weise aus Tod, aus dem Tode niedriger Leben, alle Organisation aus Zerstörung und Verwandlung geringerer Kräfte, alles Ganze der Ordnung und des Plans aus Licht und Schatten, aus divergenten, sich einander entgegengesetzten Kräften, wo das höhere positive Gesetz, das beide einschränkt und aufhebt, eben allein κόσμον, Welt, Plan, Ganzes, höheres Wohl, gemeinschaftliche Glückseligkeit beginnt und anstimmt. Mathematik, Physik, Chymie, Physiologie lebender Wesen sind, dünkt mich, hier überall Zeugen.

5. Im Menschen, dünkt mich, ist also diese Contrarietät nur am Meisten offenbar, etwa weil er das geistigste, entwickeltste Wesen unsrer Welt, Zusammendrang und Mittelpunkt unsrer Schöpfung ist. Das Thier ist keiner menschlichen Lüge fähig, weil es kein Mensch ist; übrigens aber zeigen zehn Beispiele, daß es in Annäherung und seinem Kreise eben die zwei widerwärtigen Kräfte in sich und Bahnen außer sich habe: je mehr sich das Thier dem Menschen nähert, desto mehr nimmt die Helle zu, mit der es beide empfindet; je weiter von ihm fern, desto mechanischer und blinder wirken beide Kräfte. Es ist ein ewiges Geben und Nehmen, Anziehen und Zurückstoßen, Insichverschlingen und Aufopfern sein selbst, und der Plan, der Beides regiert, ist immer höheres Gesetz, positive Ordnung höherer Gattung, die aus diesen Kräften, einzeln oder auch verbunden, ohne höhern Mittelbegriff weder gefunden noch erkannt und begriffen werden kann. Zum Menschen!

6. Der Mensch, als er zum ersten Mal stolz war und Gott ähnlich sein wollte, verfolgte er nicht etwas Gutes? fühlte er nicht in sich eine Menge unentwickelter Kräfte? war's Fehler, daß er sie entwickeln wollte? war er nicht Gottesbild? und war also nicht Gottähnlichkeit die Bahn, die ihm der Schöpfer selbst angewiesen? So wird der einseitige Philosoph fragen, und in dem Walde von Begriffen, den er Naturrecht, Recht der Menschheit nennt, hätte er auch einseitig hypothetisch Recht; alle einseitige Hypothese ist aber Lüge. Der Mensch hat kein ihm eignes, isolirtes Naturrecht, das ihm concubitum vagum mit allen Geschöpfen, der Schlange etc. zur Gottähnlichkeit erlaubte: er ist gebornes Bild Gottes in der Welt Gottes, Mittelpunkt in dieser Ordnung. So wenig der stolze Saturn die Freiheit hat, seine gerade Bahn durch alle Himmel, wo er will, zu verfolgen; er soll von der Sonne gelenkt werden und ist nur durch dies primitive höhere Gesetz des Sonnenplans das, was er ist, worden: so ist nur der Mensch, was er ist, durch höhere Gnade, ex speciali gratia des Schöpfers, der ihn dazu, was er ist, schuf, und an dem Schöpfer also und seinem höhern positiven Gebot muß er hangen. Was ihm die Sonne für eine Bahn vorschreibt, die er weder aus sich selbst noch aus der Schlange lernen kann, der muß er folgen, und zwar frei folgen; denn Freiheit ist eben der Mittelpunkt seines Daseins, der Grund seiner höhern Ordnung, das Gottähnliche, daß er sprechen kann: »Lasset uns – in der Ordnung Gottes wirken«, d. i. sein und nicht sein, wo und wie er's gebietet – hier streben, dort sich verleugnen und darüber nicht grübeln wollen, sondern folgen.

7. Das Gesetz der Freiheit lag also in der Natur des Menschen, aber nicht der vagen Freiheit, von der Einige sehr mechanisch reden, und die eigentlich Knechtschaft ist. Seine Freiheit mußte es sein, einem positiven Gesetz Gottes, einem höhern Sonnenplan zu folgen, auch wo er das Ganze nicht übersähe, zu dem er beiträgt (welcher einzelne Planet kann's?), sondern sich mit allen ihm möglichen Kräften an seinen Gott und Vater, die Sonne, zu halten, in jenem Punkt die eigne Kraft, den Stolz zu vernichten, der auf eigner Bahn immer irren will. Das war Freiheit; sobald er sich diesem höhern Plan nicht aufopfern konnte, sondern sprach: »Kann ich nicht selbst Sonne sein und dieser Schlange zufolge mir meine Welt bilden?« so war's mechanische, sinnliche Knechtschaft, und der Mensch, Gottes Bild, das Geschöpf höherer Ordnung, fiel, d. i. er handelte nach Gesetzen einer niederern Ordnung, ward Thier und, da er das auch nicht ganz sein konnte, mit zwei widerbellenden Kräften Teufel. Das Zusammengesetzte der Kräfte war und blieb Menschennatur (da er am mechanischen Pflanzen- und Thierreich Theil nimmt, so muß er auch an ihren Gesetzen Antheil nehmen, aber als Mensch, im Mittelpunkt höherer Ordnung), nur das Ungezähmte, Selbstgnugsame, der Drang für sich hinaus ward im ersten Punkt Sünde und Unglück: er zerrüttete den Plan Gottes, zu dem der Mensch geschaffen war, und in dem er (jeden Punkt seiner Laufbahn wirkend und vor Gott vernichtigt – angezogen, nicht wirkend) in ewigen Bahnen fortschreiten sollte, in ewiger Spirallinie zum Mittelpunkt, der Sonne, Gott.

8. Alle Philosophie also, die von sich anfängt und mit sich aufhört, ist von ihrer Muhme, der Schlange. Der Planet war nicht vor der Sonne, ist nur durch sie und auf sie geordnet. Das Gesetz des Christenthums ist durch die Schöpfung verbreitet: Vernichtigung sein selbst zu einem höhern Sein, Tod zum höhern Leben. Wie unendlich mehr Leben kommt in die Schöpfung, wenn der Planet um die Sonne geht und sich wärmt! ohne sie (wenn's zu denken möglich wäre) verlief' er sich in den Abgründen der wüsten Schöpfung.

9. Der Mensch fing an, sich zu verlaufen, und sogleich ergriff ihn die väterliche Sonne und brachte ihn mit Gewalt zurück – mit liebreicher Gewalt, die nur auf ihn einfließen soll (nach dem Gesetz der Freiheit seines Wesens, §. 6. 7), daß er selbst zurückkomme. Ungemach und physische Uebel folgen dem moralischen Uebel und reizen ihn zum Rückgange. Der Schöpfer hatte nicht blos Gutes und Böses so verknüpft, daß das Uebermaß des einen immer das andre veranlaßt, sondern kam auch mit einer Reihe positiver Gebote, Sitten, Gesetze dazu, den Menschen mürbe zu machen und sein Gefühl zu wecken, daß er ohne Gott nichts sei, sich also vor ihm freiwillig zu vernichtigen und aus tieferm, unendlich tieferm Tode durch gratia specialiori verdoppelte und unendlich vermehrte Kräfte sich zum höhern Leben emporzuheben.Hier ist wol »habe« ausgefallen. – D. Das ist die Ordnung der höhern Gnade, wo Jesus der Mittelpunkt ist an Licht, Kraft und Vorbild. Der Planet wandelt jetzt in unregelmäßigen Bewegungen um die Sonne, da einst seine völlige Runde ohne Winkel auf einem Plane im Kreise um die Sonne schwamm; jetzt sind ewige Jahrszeiten; Sommer und Winter, Herbst und Frühling soll auch in der Menschennatur nicht aufhören. Unterdrückung des Stolzes und ein neuer feinerer Stolz, der aus der Asche jenes entstand und von Neuem gedämpft werden soll. Damit stärkt sich die Kraft immer, und der überwundne Feind wird schwächer, da er doch nur immer aus der Asche eines andern entstand: bis endlich durch höhere Gnade, die jetzt Gnadenlohn ist, die Laufbahn dieses ringenden Körpers sich ganz ändert und er jetzt in höherm Maß das ist, was er einst in geringerm sein sollte und nicht blieb. Die ewigen Perihelien und Aphelien unsers Daseins sind vorüber, der ausgebrannte, gereinigte, vergeistete Körper schwebt um die Sonne in neuem höhern Plane. »Was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, das hat Gott offenbart Denen, die ihn lieben.«

10. Je tieferer Fall also, je höherer Aufschwung, wenn der Mensch die überwiegende Gegenkraft, die ihm aus Gottes Vatergnade ward, ergreift. Je tiefere Leidenschaft, je mehr Energie, desto mehr Saatkorn zur Ernte, wenn die Leidenschaft durch freilich so größern Kampf geläutert und aus dem Teufel ein brennender Seraph ward. Niemand ist hier übergangen, Niemand versäumt, er hat nur auf die Glückseligkeit Anspruch, von der er inniges Gefühl hat; die übrige ist nicht für ihn und wäre blos Lüge, wenn sie ihm würde. Keine Himmelsseligkeit ist ohne Tugend, keine Krone ohne Kampf möglich, so wenig Brod ohne Hunger schmeckt: nur also aus der überwundnen Divergenz beider Kräfte entspringt höhere Kraft, Seligkeit, Christentum, Gottesleben. Will ich mir die Menschheit hienieden als lauter Licht, Wahrheit, leidenschaftlose Güte u. dergl. denken, so ist's ein falsches Ideal; das Licht kann nur aus überwundnen Schatten, die Wahrheit aus besiegtem Vorurtheil, die Leidenschaft für Gott und das Gute nur aus besiegten und gebändigten Leidenschaften der Sinnlichkeit (die den Stoff dazu geben müssen) werden. Nur aus Schwachheit wird Kraft, nur im Gefühl der Armuth kann und wollte sich Gott offenbaren. Lex contrariorum also, oder opposita juxta se posita, divergentia in unum redacta waren das, worauf Christus gen Himmel stieg und wir Alle ihm nachklimmen müssen. Alle Reinigkeit der Engel, welche kein Mensch gesehen hat, zusammt der Immutabilität alles Fortschreitens in gerader Linie ist nicht Menschenloos hienieden: es ist ein Abstract wie die Stärke der Stoiker und die Wollust der Epikurer. Eben die Contrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum der Erkenntniß Gutes und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt.

 


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