Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben.Neue Deutsche Monatsschrift 1795, Aprilheft. – D.

 

Gewiß treten Sie nicht der verachtenden Kälte bei, mit der einige Stimmen Schmidt's Geschichte der Deutschen in ihren letzten Theilen aufgenommen haben. Sie ist, wie man sagt, schonend geschrieben; ich wollte wissen, wer in unsrer Lage der Dinge, auch auf der Gegenseite, von den Zeiten Maximilian's an eine ganz unparteiische Geschichte Deutschlands zu schreiben wagte. Das eben benannte Werk indessen ist in sich selbst beständig; es ist mit großem Fleiß, nicht ohne Wahrheitsliebe und mit einem heitern, ordnenden Blicke verfaßt: wer's besser machen kann, mache es besser; er schreibe eine Geschichte unsrer Nation, eine Geschichte der Deutschen.

Eine Geschichte der Deutschen? Wer sind diese? Sind's die Deutschen, die Tacitus beschreibt, oder die Vandalen in Afrika, die Sueven und Westgothen in Spanien, die Rügen, Herulen, Ostgothen und Longobarden in Italien, die Burgunder und Franken in Gallien, die Angeln in Britannien oder gar die Picten in Schottland, die Skandinavier in Norden, die der Geschichtschreiber beschreiben soll? Wir schätzen Alle des gelehrten Mascov's Werk,»Geschichte der Deutschen«, Leipzig 1726–1737. D. Anton's »Geschichte der Germanen« verdient diesem Werk in vieler Absicht beigefügt zu werden. – H. aber als eine bloße Antiquität ausgewanderter Völker. Urtheilen Sie, ob aus diesen Zeiten für uns viel mehr, als von ihm und Andern geleistet worden, zu erwarten steht.

Sollen wir Karl's des Großen und seiner unglücklichen Nachfolger Geschichte unsre Geschichte nennen? Er, der uns als Barbaren behandelte, der unsere Hauptvölker, Sachsen, Thüringer, Baiern, überwältigt, der unsre alte Verfassung zerstört hat, sollte unser Geschichtanführer werden? Möge sein Bildniß bei Kaiserwahlen umhergetragen und auf sein Schwert und Evangelium dem Papst der Eid der Treue fernerhin gelobt werden, habe er sogar unsern Kalender ordnen wollen: er ist und bleibt ein Frankenkönig, der mit seinem ganzen Geschlecht unserm Deutschland in mehr als einer Rücksicht von Grund aus verderblich gewesen ist.

Also Sachsen, Franken, Schwaben, das alles aber waren Familienkaiser, die in und außer Deutschland mit Horden umherzogen, Bischofthümer errichteten, Horden beschützten und in Italien allemal so zu Schanden wurden, wie es (so sagen wenigstens die Italiener) deutschen Horden geziemte. Jedermann ehrt die persönlichen Verdienste dieser Regenten; man gönnt ihnen das Glück, von Rom die Römerkrone erlangt zu haben, und wünscht nicht, daß Gelimer der Vandale, Attila der Hunne, Dschingis-Khan und Tamerlan sie erlangt hätten: in allen diesen Heereszügen aber wo ist der Deutsche, wo ist Deutschlands Geschichte?

Allen ältern und neuern Chronikschreibern und diplomatisch-statistischen Kirchen-, Staats-, Lehn- und sonstigen Geschichtforschern bleibe ihr Werth; was von Mascov, Hahn, Bünau, Ludwig, Gundling, Gebauer, Olenschlager, Pütter und Mehreren, einzeln und allgemein, geleistet worden, behalte sein anerkanntes Verdienst; so auch die Geschichte Kaiser Friedrich's II., Maximilians', Karl's V., und was sonst im Einzelnen Vortreffliches hervorgebracht worden. Bei dem Allen aber wo ist die Geschichte der Deutschen? nicht deutscher Kaiser, nicht deutscher Fürsten und Fürstenhäuser, sondern der deutschen Nation, ihrer Verfassung, Wohlfahrt und Sprache?

Kurz, was noch nicht geschrieben ist, zeigt durch sich selbst gnugsam, daß es bis dahin noch nicht geschrieben werden konnte. Wenn dies geschehen kann, wird's werden.

Indessen versuche man, was man vermag, und schreibe Particulargeschichte. Möser mit seiner osnabrückischen Geschichte ging voran; Spittler mit seiner württembergischen und hannöverschen, Andre mit der Geschichte ihrer Länder sind fortgeschritten; und vor der Hand, was wollen wir mehr? Bestand nicht von je her Deutschland aus mehreren Völkern? hat der arabischeSoll wol fränkische heißen. – D. Kaisermantel ihm eine Einheit geben können, die es nicht von Natur hatte oder durch eine wirkliche, bindende und bildende Verfassung bekam? Sodann fahre man auf diesem, dem geprüftesten Wege fort und schreibe:

1. Eine Geschichte der Nationen Deutschlands, ihrer Abkunft, Verfassung, Sitten und Sprachen.

2. Eine Geschichte der Meinungen dieser Nationen, dort und dann, ohne oder mit Erfolgen, nur redlich, ganz, und so vielseitig es immer sein kann.

3. Eine Geschichte der einzelnen und der Zusammenbeherrschung dieser Nationen. Sie ist nicht blos die deutsche Kaisergeschichte.

4. Eine Geschichte der Stände in diesen verschiedenen Völkern, des gemeinen Mannes, der Geistlichkeit und des Adels, ohne Rücksicht auf den Gesichtskreis unsrer Zeiten, treu und ganz. Der obere Stand gelte wie der untere, und allenthalben spreche nur der Mensch.

5. Eine Geschichte des deutschen Nationalgeistes. Moser hat einige Bogen darüber geschrieben; es ward ihm widersprochen und behauptet, daß Deutschland gar keinen Nationalgeist habe. Er setzte dieser Behauptung gutmüthige Patriotische Briefe entgegen, die aber wie gewöhnlich an den großen deutschen Nemo geschrieben waren. Da nach dem Begriffe der Amerikaner jeder Strom, jeder Baum, jede Wiese einen Geist hat: sollten die deutschen Eichen, die deutschen Berge und Ströme dergleichen nicht auch haben? Es werde also der deutsche Nationalgeist gegen solche Verleumdungen in Schutz genommen und in Beispielen gezeigt, daß Deutschland von je her, unverrückt, in allen Ständen einen Nationalgeist gehabt habe, solchen noch habe und seiner Verfassung nach nothwendig auf ewige Zeiten haben werde. Mehr als eine Bürgerkrone verdiente der Geschichtschreiber einer solchen Geschichte, einen Kranz von Eichen-, Buchen-, Fichten- und Lindenzweigen; nur – muß er ihn sich selbst flechten!

 


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