Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Philosophei und Schwärmerei, zwei Schwestern.Novemberheft 1776 des Merkur. Herder braucht Philosophei launig neben Schwärmerei und Herrnhuterei, aber auch sonst.   D.

 

Unter Geistesgeschwistern ist Freundschaft eben eine solche Seltenheit als nach dem Sprichwort unter leiblichen Geschwistern. Sie hassen sich, weil sie einerlei Natur in sich erkennen, gerad' in entgegengesetzten Zügen: sind zu nah und zu entfernt gegen einander und zerhacken also sich und die gemeinschaftliche Schale, die sie gebar.Anspielung auf das Ei der Leda. – D.

Philosophie nährt sich von Abstractionen, Schwärmerei auch. Jene zerfrißt das Blatt als Raupe, diese entsaugt's als Schmetterling; durch beide wird das Blatt dürre. Der Schmetterling erzeugt Raupen, aus der Raupe wird wieder Schmetterling werden; das ist die ganze Geschichte jener beiden Extreme des menschlichen Geistes.

Hat Don Quixote über Dulcinea und alle seine Ritterideen mehr gehalten als die Philosophen über ihren Stand der Natur, System der Natur, Schüler der Natur, über Quidditäten und Abstractionen? Und ist in all diesem ein Quentlein Wahrheit mehr als in jenen Visionen? In den Dingen nämlich, von denen diese Abstractionen abstrahirt wurden, da waren sie, bestanden, waren Wahrheit; so war auch die Dulcinea von Toboso Wahrheit: keine Lüge auf der Welt ist anders als aus Wahrheit entstanden. Seit sie aber abgezogen, falsch, halb, unrichtig realisirt wurden, da ward Dulcinea ein Traum; da bekam der Duft Flügel; der Schatte ward Gespenst, kommt bald als Alp zu drücken, bald als Sylphe zu tändeln; oder es wird mit stummem Glauben, mit in petto behaltnen, anderswo zu erweisenden Gründen an ihn geglaubt, eben weil man keine Gründe hat, weil er, wie alle Götzen in der Welt, nichts ist.

Sollte ein Mensch mit Gottesstrahl im Blicke die Gegenden der Dämmrung aller Zeiten, die Klüfte der Schwärmerei und Abstraction aller Völker durchgehn: welche ewige Gleichheit würde er finden! überall Schatten sehn, die eine Zeit lang für Wesen galten, Lehrstühle und Altäre bekamen, Priester und Vertheidiger schufen und nachher – dem kommenden Lichte von selbst entflohen. Die Philosophei jeder Sprache, wenn sie Dunst war, zerging und konnte sich nicht anders als in den Elementen des Dunstes, als die Theilwahrheit, aus der sie entstanden war, lösen. Lachen wir Deutschen nicht über einen großen Theil des französischen Abstractionswesens? Eben weil er uns fremde ist, weil wir unsern Verstand von Jugend auf nicht in die Formen und Wortformuln gossen. Ein Theil der englischen Philosophie ist uns so fremde als der lieben Erfahrung nach ein großer Theil der Wolffischen Philosophie allen Nachbarn ringsum gewesen, deren Verstand gerade nicht in der latein-deutschen Hülse wuchs. Wer darf sich rühmen, jetzt den Scheitel der Wahrheit erreicht zu haben, der über alle Dünste weg ist?

Mit der Schwärmereigabe nicht anders. Der warme Busen, der hier- oder darüber zuerst Empfindungen vordrängte, sie zur Sprache, nothwendig zu so warmer, dunkler, verflochtner Sprache schuf, als seine Empfindungen waren: er hatte an diesen Empfindungen und an dieser Sprache ohne Zweifel Wahrheit. Es waren warme Abstractionen der Gegenstände, die ihn umgaben, wie's nur die kältesten Abstractionen dem spekulativsten Kopf sein konnten. Wichen aber die Gegenstände in ihrer Fülle hinweg, und man wollte den Dunst der warmen Abstraction als solchen, ohne jene, unmittelbar haschen und nachempfinden: den Augenblick ward Alles Lüge, Nachäffung, kalte Wortschwärmerei über warme Gegenstände, wie es nur je die sinnlose Wortgrübelei und blühende Jüngerphilosophei über kalte Gegenstände gewesen.

Als Klopstock den Messias sang, nothwendig sang er seinen Messias, mit seinen Empfindungen; das waren seine Abstractionen, Augen, mit denen er sah. Da er Alles als Geheimniß behandelte, so schwieg er und betete an, zog Kreise sichtbarer und unsichtbarer Wesen umher, die auch singen, d. i. schweigen und anbeten mußten – das war Klopstock's Manier. Sie geht bis in seine Lieder über, die auch singen, d. i. schweigen und anbeten. Und nun kamen seine Nachahmer, ein entsetzliches Heer! Ohn' alle seine stille Ruhe, tiefe Reinigkeit, hohe königliche Feinheit, wollen sie aufjauchzen, schweigen und anbeten, wo gar nicht zu schweigen und anzubeten ist, singen überall den Messias, wo gar kein Messias, singen Marienmäßig, Cidlisch, Hermannisch, englisch, teuflisch, wo gar keine Cidlis und Marien, Engel und Teufel sein sollten. Die ganze Dichtkunst bis zum einfältigen Gebet und heiligen Kirchenliede soll Klopstockianism ohne Klopstock's Geist und Herz werden. Und nun treten die Philosophunculi hintendrein: »Seht, wie sie die Sprache und Dichtkunst an Originalen bereichern!« Ja bereichern! durch klappernde Mohnköpfe, lyrische Papierdrachen und klingende Schellen in heiliger Christenversammlung! bereichern, daß jede Form der Dichtung und Sprache, an die sie die Hände legen, auf ewig an Gedanken verarmt! bereichern, daß Alles gemein wird und Klopstock's Muse da steht, ärgerlich parodirt! Schlimm! aber nicht schlimmer, als es der Philosophie erging und ergehen wird von nun an bis zu ewigen Zeiten.

Leibniz z. B. liebte zu vergleichen, fremde Einfälle neu zu nutzen und oft die widersprechendsten Ideen zu paaren; sein ganzes System offenbarte er also nicht anders, als wie es ihm erschienen war, wie es in seiner Seele lebte, durch Blicke des Witzes und der Imagination, durch kurze Aufsätze und ewige Befreundung fremder Ideen, die im Feuer dieses Ursprungs und dieser Verbindung gefühlt werden mußten, oder Leibnizens Geist war dahin und mit ihm alle originelle, primitive Wahrheit des Eindrucks. Wolff, der das nicht zu fühlen vermochte oder als Nachfolger und Erklärer zu fühlen nicht Zeit hatte, machte aus Blitzen des Witzes und der Aussicht Theoreme, die nun um so besser zu erweisen waren, weil sie die eingeschränkte, allbestimmte Realität des Ursprungs verloren hatten und Gemeinheiten waren, die Alles und Nichts enthalten durften. Die Nachfolger des Schulzergliederers zergliederten weiter, die deutsch-lateinische Sprache der Philosophie stand als ein Baum da, wo Raupen und Käfer an jedem Blatt eine Metaphysik dürrer Fasern aufgestellt hatten, daß die Dryade des Baums um Erbarmung weinte. Leibniz, Leibniz, wo war Dein Geist?

Statt dessen stahl sich aus England eine Philosophie herüber, die ihrem Geist nach (und also viel eigenthümlicher als die sonst unter diesem Namen bekannte) recht eigentlich mechanische Philosophie ist oder, wie sie sich nennt, Philosophie des gesunden Menschenverstandes. Bekannt ist's nämlich, daß die Briten bei ihren Gewerken die Kunst theilen, daß Jener Uhrfedern macht, Dieser Uhrgehäuse u. s. w. und also durch engern Fleiß die Kunst fördert. So beliebte es einigen ihrer Philosophen, die Materien zu theilen, ein einzelnes Thema mit allem mechanischen Fleiß eines Leinwebers u. s. w. durchzuwirken, und wie das im Einzelnen treffliche Werke gab, so blieb nothwendig das Allgemeine etwas leer. Das füllte man nun wie die Chinesen die Ecken ihrer Landkarten mit Nußschalen:Eigentlich sollte es heißen: »mit guter Vernunft, gesundem Verstand« u. s. w. – D. gute Vernunft, gesunder Verstand, moralisches Gefühl, richtige Begriffe und dergleichen, was sich fein auf ess und ity endete und nun auch als einzeln behandelte Namen Sterlingswerth hatte. Die Sterlinge kamen eben in großem Münzverfall nach Deutschland, zur Zeit, da man eben an der Wolffischen Philosophei und Herrnhuterei gnug hatte; und nun ward's einigen lässigen Herrn, die weder recht denken noch recht empfinden mochten, sehr bequem, diese Worte aufzunehmen, als Paniere aufzustecken und unter ihnen zu – reformiren. Man reformirte zu nicht weniger als zum guten, gesunden, alltäglichen Menschen-, Bürger- und Bauerverstande, und das durch nichts Anders als durch Wörter und Geschwätz vom guten, gesunden Menschen-, Bürger- und Bauerverstande. Das Hauptgesetz blieb immer: »Man muß nicht zu viel denken, auch nicht zu viel empfinden! Das minimum von beiden ist die wahre Alltagsphilosophie, dabei sich so gut verdauen läßt; und gut verdauen ist doch immer die Hauptsache des gesunden Verstandes, moralischen Gefühls und menschlichen Lebens. Heil uns, wir haben die Perle funden! Der wahre Philosoph zeichnet die Hauptumrisse der Gegenstände, wie er sie mit seinem richtigen, unbewaffneten Auge wahrnimmt, und bringt richtige und ähnliche Bilder davon in die Seele. Wir werden dadurch allezeit aufgeklärt« u. s. w.

Ein Mensch, der von gesundem Verstande ohne gesunden Verstand, von richtigen Begriffen ohne richtigen Begriff, von ewiger Toleranz mit möglichster Intoleranz spricht, welchen gelindern Namen kann er sich versprechen als – Schwärmer? Und doch sind diese Leute angeblich die größten Schwärmerfeinde; vermuthlich um ihre Schwärmerei, den liebenswürdigen Auswuchs ihres gesunden Menschenverstandes und moralischen Gefühls, desto ungestörter zu treiben. So sprach und schien jener bekannte Demonstrator Bedlam's über alle Consorten seines Aufenthalts klug und vernünftig, über einen orthodoxen Irrigen ausgenommen, der sich Gott den Sohn nannte, sintemal er, als Gott der Vater (die allgemeine gesunde Menschenvernunft!), davon auch etwas, und zwar zuerst wissen müßte!!!

Und wo wohnt diese allgemeine gesunde Menschenvernunft, die wahre Philosophie eines richtigen Auges, richtiger Bilder, Eindrücke u. s. w. in Person? Gerade wo Dulcinea von Toboso wohnte. Man kann vor ihr stehen und sie doch nicht erkennen: sie wohnt in den Herren, die mit ritterlichem Schlagbaum vor uns treten und uns gebieten, auf sie zu schwören – selbst! Die wahre Philosophie also in den wahren Philosophen, d. i. in denen, die sich so nennen und ausschließend dafür halten. W. z. e.Was zu erweisen. – D.

War's ein Philosoph, der unser Jahrhundert das Zeitalter der Philosophie nannte, so verstand er dadurch vielleicht das Jahrhundert kalter Schwärmerei und schwärmender Kälte. Daß man Hirngespinnsten mit einer Wuth nachsetzt, die leider oft nur eine gelernte, eine Wortwuth ist, im Schreiben, Sprechen, Lesen und Blindhandeln, und sich auf der andern Seite mit einer anständigen Kälte, die inwendig das Feuer eines Todhasses ist, gegen Wahrheiten wappnet, denen man folgen müßte, sobald man sähe, sobald man fühlte! So streiten Feuer und Wasser. Der Schwärmer will der größte Philosoph sein, und der größte Philosoph ist der größte Schwärmer.

Wie die beiden Pole in der Welt so nützen auch diese. Schwärmerei in Abstractionen des Kopfs bekämpft die Abstractionen der Empfindung; sie halten einander das Gleichgewicht, und die ganze volle Kugel der Menschheit schwebt mit ihren zwei Hälften fest und ruhig weiter.

Vor einigen Jahren schwärmte man von Winckelmann's, Hagedorn's, Lippert's Ideen, redete von Sachen, die man nie gesehen, von Abstractionen des Gefühls, die man nie empfunden; man lebte von nichts als Gemmen und Pasten: wo sind die Schreier jetzt? wo sind sie blieben? Zwei oder drei Biedermännern nach weiß man jetzt nichts als trunkne Ideen nachzulallen, unserer werthen Muttersprache, die ohnedem hart gnug ist, die noch übrigen Vocalen sammt Bindewörtern, Schwanz und Ohren abzuschneiden, sich, statt ernster Gefühle, durch Keckheit, Taumel, Grobheit zu unterscheiden:Mit Bezug auf die Nachahmer Goethe's. Nicolai hatte in seinen Freuden Werther's diese Auslassungen scharf persiflirt. – D. in weniger Zeit, wo werden die Schwärmer der Art sein? Gegentheils die alten Herren, die da sitzen und jammern, wissen nicht, woran es liegt, herzen ihren alten, weiland classischen Stil so gedankenlos, wie der alte Swift im ersten Anfall seiner Thorheit den armen alten Herrn bejammerte, den er im Spiegel da vor sich sah; schlafen unsanft auf ihren Lorbeern, regen sich und wissen nicht weiter. Welche arme Wortschwärmer sind die? Stimmen der Tage vor Alters!Nach Ossian. – D. Apotheken alter, abgefallner Herbstblätter, und sehen nicht, was da im Walde knospt und grünt.

Der Strom der Literatur rinnt wie Strom im Weltmeer in aus- und eingekehrten Winkeln; jetzt heißt Philosophie, was bald Schwärmerei heißt, und so im Gegentheile. Wohl, wer im Strome fleußt und nicht auf dem alten Schlamm eines Winkels thront! Wer kümmert sich jetzt um Bodmer und Gottsched als in dem, was Beide für deutsche Sprache und Kritik wirklich thaten? Und was sie gethan haben, kann ihnen kein T . . . nehmen. Kepler und Leibniz, Lessing und Kleist werden sich mit dem letzten Biedermann Deutschlands begegnen, was auch das Schicksal noch für Windstürme mit ihren Wissenschaften und Künsten im Sinne habe. Freilich aber braucht jene große Statue einen Markt von Steinen zu ihrem Postemente.

Alles, was Taumel ist, geht vorüber, die Schlacken gehn zunicht, und nichts als Gold, goldschwerer Werth kann bleiben. Es geht hier wie bei jenem fatalen Traum vom Schatz in der Fabel: Einer stellte dem Andern Gift, und der Schatz kam in fremde Hände, in die Hände der Welt und Nachwelt. Der Schwärmer, der Abstraction haßt, haßt die edelste Gottesgabe: nur durch Abstraction, d. i. durch allgemeine Begriffe wird Menschheit, was sie ist, Schöpferin der Erde. Der Speculant hingegen, der sich von aller Menschenempfindung lossagt außer der, die ihm durch Speculation wird, ist offenbar ein Thor: durch Speculation wird keine Empfindung. Soll Gefühl nichts als »das Resultat solcher und solcher sehr deutlichen, wahren und richtigen Vorstellung von der Wirkung des und des Gegenstandes sein«,Nach Wolff. – D. so wird gerade keine unmittelbare Wirkung. Der Gaul steht hinterm Karren, und nun, Fuhrmann, fahre! Ein Mensch, der allein Kopf sein will, ist so ein Ungeheuer, als der allein Herz sein will; der ganze gesunde Mensch ist Beides. Und daß er Beides ist, jedes an seiner Stelle, das Herz nicht im Kopf, den Kopf nicht im Herzen, das eben zeigt ihn als Menschen.

Alle Schmetterlinge blos geistiger Empfindungen lassen nichts als Raupengeschmeiß hinter sich. Zeigt's nicht jeder Herbst und Frühling? Willst Du den Wein trinken, mein Freund, und mir nur den Duft Deiner hohen Empfindung gönnen: behalte auch den! er macht gierig, aber nicht satt; nicht stark, sondern ekel. Mußt Du, anderer Freund, hingegen um Deines schwachen Magens willen das Obst schälen: schäle! nur muthe mir nicht zu, daß ich die Schalen Deiner Abstraction allein käue! Ich esse das Obst mit seiner lieblichen Wollenfarbe; ich trinke den Becher mit seinem lieblichen Duft.

»In Geistigkeit ohne Körper verliebt zu sein,« sagt Lavater, »ist Schwärmerei, in Körper ohne Geist, viehisches Wesen.« Der Weise, mit Klarheit in seinen Begriffen, d. i. mit Abstraction, wann und wo sie sein soll, und mit Enthusiasmus in seinem Herzen, d. i. mit umfassender, handelnder Wärme, er ist weder Grübler noch Schwärmer, sieht beide Abwege und nutzt beide. »Liegt Euch immer«, spricht er, »einander in den Haaren, ich gehe mitten unsichtbar durch!«

 


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