Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Andenken an Winckelmann, Lessing und Sulzer.September- und Octoberheft 1781 des Merkur. Das Andenken an Lessing ist hier weggelassen, weil Herder es in neuer Bearbeitung in den »Zerstreuten Blättern« gab. Vgl. Herder's Werke, XV. S. 61–79. – D.

»Nach einem Mannesalter,« sagt irgendwo ein Gelehrter, der selbst die seltne Ehre seines Vaterlandes ist, »nach einem Mannesalter werden in Deutschland schwerlich in so kurzer Zeit so viel große Männer sterben können, als in den letzten wenigen Jahren gestorben sind.« Ich lasse die Weissagung auf sich selbst beruhen; denn wer kennt jedes Samenkorn, das still in die Zukunft wächst? aber die Veranlassung der Weissagung ist wahr und andern Nationen mit uns gemein.

Wenn sich bei uns die Natur Zeit nähme, einen zweiten Haller, Lambert, Winckelmann, Sulzer, Lessing hervorzubringen: zu einem Linné und Hume, zu einem Voltaire und Rousseau brauchte sie's minder? Wie es indessen sei, wir wollen die Namen unsrer verstorbnen Edeln nicht verhallen lassen mit dem letzten dumpfen Wurf der Todtenschaufel; wir wollen sie wenigstens nach ihrem Tode kennen und schätzen lernen, da es aus so manchen Ursachen vorzüglich deutsches Schicksal sein möchte, oft nicht eher recht gekannt und genannt zu werden als nach dem Tode. Ich zeichne drei Gestalten, auf die der Weg meines Denkens näher traf; ein Andrer zeichne die andern. Es ist keine Pyramide der Unsterblichkeit, die ich ihnen errichte oder errichten kann; ein paar rauhe Steine mögen's sein, die ich nach Art der nordischen Heldengräber auf ihre Todtenhügel wälze und schweigend von dannen gehe.

Johann Winckelmann.

Geboren 1718,Vielmehr 1717. – D. ermordet 1768.

 

Wenn Winckelmann keinen Buchstab gedruckter Werke hinterlassen hätte, so zeigt sein Leben, so zeigen seine Briefe und sein Schicksal, daß er ein außerordentlicher Mensch war, der sich zu Etwas geboren fühlte. In Armuth und Kummer hatte er seine Jugend verloren; über die Dreißige hinaus saß er im Schulstaube eines Städtchens, wo er die Knaben conjugiren lehrte, und doch verkümmerte er nicht! er verlor nicht den Plan eines bessern Lebens. Seine Liebe für die Geschichte, für Griechenland und edlere Menschengedanken; sein Haß gegen deutsche Metaphysik, barbarische Schultheologie und die gewöhnlichen sieben Magisterkünste; sein Durst nach Freiheit, Freundschaft und Gesinnungen der Alten, die er mit Armuth, Einfalt und titelloser Bescheidenheit gern erkaufte: das Alles zeichnet ihn nach unsern Sitten so sehr aus, daß ich ihm gerne nur dieser Gesinnungen wegen eine Bildsäule unter den Weisen des Alterthums setzte. Lese man seine ersten, armen und bedrängten Briefe an Bünau,Winckelmann's Briefe, herausgegeben von Dasdorf [Dresden 1777-1780], Th. 1. S. 5 ff. – H. man hört den verschlagnen, vom Glück verlassnen, aber noch immer festen und edeln Mann, der, unbiegsam der Kriecherei und Thorheit seiner Zeit, sich selbst fühlt, sich selbst ehrt und nur aus seinem Kerker heraus seufzt. Jüngling, der Du diese Briefe liesest, schöpfe Muth aus ihnen bei vielleicht ähnlichem Schicksal! Deutschland ist lange ein Wald gewesen; aber auch im dicksten Walde findest Du die rechte Himmelsgegend allein durch diese Tugend und Gesinnung der Alten, durch das Gefühl nämlich, zu etwas da zu sein auf der Erde, von Niemand als sich abzuhangen im Begriff der wahren Ehre, des wahren Nutzens und Lebens; Macht zu haben, daß man falschen Zwecken entsage, nach Flittergolde des Ranges, Standes, der Gemächlichkeit und Wollust nicht laufe, auch arm und verachtet sein könne, wenn man nur das wird, was man werden soll, und in seinem Werk lebt. Dies Gefühl von Einfalt und Wahrheit, von edelm Stolz und Aufopferung seiner selbst zu dem Beruf, wozu ihn die Natur gebildet, kurz, diese bescheidne alte Größe zeigt sich bei Winckelmann in allen seinen Schriften, in allen seinen Briefen. Man lese z. B. nur den, mit dem er von Bünau Abschied nimmt und seinen ihm nothwendigen Religionswechsel so kindlich, so beschämt und gerührt entschuldigt;Ebendas., S. 17 ff. – H. man lese die Freude, mit der er aus Deutschland geht und dem Ort seiner Bestimmung, Rom und dem Alterthum, entgegeneilt;S. 55 f. – H. wie er immer auf Gedanken dieser Art ruht und seine Arme ausstreckt nach Gestalten und Gesinnungen voriger Zeiten; wie er in diesem Traum, in diesem schönen Wahne sich an Menschen, Umständen und selbst Kunstwerken so oft, freiwillig gleichsam, irrt und reich ist in seiner Armuth, in seiner Niedrigkeit stolz und groß und glückselig.S. alle drei Sammlungen seiner Briefe, die Zürcher [1778], die Dresdenische und die Berlinische [1781]. – H. Nur so lange glaubte er gelebt zu haben, als er in diesen Gedanken, diesen Beschäftigungen, diesem Genuß lebte.Winckelmann's Briefe, herausgegeben von Dasdorf, Th. 1. S. 116. – H.

Aber wenn ich mich nun von ihm und seinem Gefühl auf die Umstände wende, die ihn von außen umgaben, auf die Beihilfe, die ihm ward, auf den Weg seines Lebens, den er nehmen mußte: verzeihe, Deutschland, wenn ich das alte Lied singe und Deine Unachtsamkeit anklage! Wäre er unter Scythen geboren, hätte es ihm schlechter werden können, als es ihm ward? Arm und verkannt zog er auf Deinen Universitäten einher; selbst die Seelenspeise, die Du ihm von Deinen Kathedern zutheiltest, konnte und mochte er nicht genießen. Bis in sein vierzigstes Jahr Conrector in Seehausen zu sein oder barbarische Mönchschroniken excerpiren zu müssen, nur damit man lebe, und nirgend eine Gelegenheit zu sehen bei der Fülle von Geist, Kenntnissen und Gefühl, nur Einem bekannt zu werden, der einen Menschen der Art von solchem Druck erlöse, keinen andern Weg zu sehn, auch selbst nachdem man eine Schrift, wie die ist:

Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst,

geschrieben, keinen andern Weg zu seiner einzigen Bestimmung zu sehn als die Vorsprache und das Jahrgeld eines Bekehrers; und auch nachher, nachdem man mit der Begeisterung fürs Vaterland, für deutsche Nation und Sprache in Rom unter so armen und drückenden Umständen ein Werk geliefert hat, als

Die Geschichte der Kunst des Alterthums

ist und für alle Zeiten sein wird, in denen die deutsche Sprache lebt; für dies Alles noch nichts zu haben als schale Kritteleien oder Lobsprüche deutscher Journale; endlich so sterben zu müssen, wie man gelebt hat, ein armes Schlachtopfer auf der Grenze zweier Nationen, aus denen und in die man wie ein verbannter Fremdling geht: wenn dies Exempel unter andern gebildeten Nationen viel ähnliche fände, sollte es mir sehr leid thun. In Deutschland ist's ganz in der Ordnung. Seiner Verfassung nach ist dies Land, wie jener Lord sagt, ein drôle de corps, ein wunderbarer Körper, der eben deswegen so viel Köpfe hat, damit ja keiner seine Glieder kenne, eben deswegen so viele Universitäten, Aemter und Anstalten hat, damit es außer dem lastbaren Joch einer Brodarbeit für einen freien, edeln Geist, der sich als solchen gezeigt hat, gar keinen Platz, gar keine Anstalt habe. Durch welche Wege muß unsern Medicis und Este bekannt werden, was sie dicht vor sich Brauchbares und Gutes haben? Etwa von Paris her, durch Parodien von Uebersetzungen, die sie auch alsdann noch lieber als das Original lesen und es gut sein lassen   geschehn lassen, was durch sie selbst geschah? Nach dem Tode etwa? Doch ich mag nicht weiter:

                Quis talia fando
Temperet a lacrimis?
Virg. Aen., II. 6. 8. – D.

Und auch daß ich dies gesagt habe, verzeihe man mir um der Stätte willen, auf der ich's sagte. Das Grab eines Todten ist heilig; und wenn man da nicht die einzige, bittre Wahrheit sagen soll, auf die uns sein ganzes Leben stößt, wo und wann sollte man sie denn sagen? Womit hatte es Deutschland denn verdient, daß Winckelmann nur eine Zeile dessen schrieb, was er geschrieben? Etwa durchs achtjährige Conrectorat in Seehausen oder durch die Chronikenexcerpte und das Jahrgeld des katholischen Beichtvaters? Und wenn nun sein Leben noch durch unbesonnene, kleinfügige deutsche Tadeleien verbittert wurde; wenn man ihm vorwarf, daß er hie und da doch unrecht citirt, nicht immer die Quellen gebraucht, die er in seinem Zustande gewiß nicht brauchen konnte, kurz, daß er nicht allwissend gewesen oder gar als Künstler manu propria selbst statt der Schriften alle deutsche Musea mit neuen Apolls und Laokoons füllte: verzeihe mir, edler Schatte, daß ich auf Deinem Grabe zürne, da Du im Leben selbst die Kälte und Undankbarkeit Deiner Nation hie und da mit einigem Murren, aber nach einiger Erholung immer standhaft ertrugst und sie zuletzt lieber vergaßest, als Dich beklagtest! Eben weil Du's nicht thatest, habe ich's, nicht für Dich oder für mich, sondern für Einen, der Dir etwa gleich sein möchte, thun müssen. Nun aber kein Wort mehr!

Winckelmann's erste Schrift»Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke«. Dresden 1757. – H. ward in Oeser's Hause geschrieben, und Oeser's feiner, andeutender Geist ist bis auf die hohe Liebe zur Allegorie in ihr merkbar. Ein Freund, ein Künstler sollte das Verdienst haben, das kein Begüterter, Satter und Großer sich zu erwerben wußte, den Keim, der in Winckelmann lag, und den Niemand erst hineinlegen durfte, hervorzubringen und zu entfalten. In diesem Schriftchen und in den beiden Schreiben, die drauf folgten, liegt, dünkt mich, die ganze Knospe von Winckelmann's Seele; Rom konnte sie nur mit gelehrtem Laube oder mit Früchten eines bestimmtern, ältern Urtheils krönen. Was Winckelmann in Rom sehen sollte und wollte, trug er schon in sich.Die großen Gestalten sind in uns; Geschichte, Beschauung, Umgang wecken sie nur. – Anm. Müller's.

Damit Niemand dies mißverstehe oder nachtheilig deute, mache ich nur auf die ziemlich allgemeine Erfahrung aufmerksam: daß meistens, wie in der Knospe der ganze Baum, so auch in den ersten Hervorbringungen des menschlichen Geistes die ganze Gestalt desselben und seiner künftigen Wirkung liege, wer sie nur zu sehen und zu entwickeln weiß. Ich rede hier von Früchten und nicht von jungen Mißgeburten des menschlichen Geistes; denn Winckelmann war beinah ein vierzigjähriger Mann, da er seine erste Schrift, und auch sie noch mit aller jugendlichen Blödigkeit und Schüchternheit, schrieb. Da konnte er doch die Ideen, die er in sich trug, mit denen er geboren schien, die ihm so lange unter allem Druck des Schicksals die sichersten Freunde und Gesellschafter gewesen waren, entwickelt haben! Was jetzt folgen mochte, war immer nur Anwendung, mehrere Begründung und Bestimmung, ein schärferer Umriß im Kleinen. In den Jahren ändert man die Seele nicht mehr und wird nicht zum zweiten Mal geboren; daher auch durch alle Winckelmannische Schriften eine Einheit von Gefühl, von Ideen und Ausdruck geht, die ein Schriftsteller wol lassen muß (aber, wenn er klug ist, auch gern läßt), der vom funfzehnten bis zum fünfundneunzigsten Jahr schreibt. Auch die vertrautesten Briefe Winckelmann's sind in diesem einen Geist geschrieben, als ob er sie für Welt und Nachwelt, wie er's doch gewiß nicht that,Es ist ein Zeichen von Winckelmann's einförmigem, geprüften und edeln Charakter, daß man seine Briefe an die verschiedensten Menschen in solcher Zahl so fortgehend hat können drucken lassen. Ob man's aber auch hätte thun sollen, ob in dem letzt herausgegebenen Briefwechsel nicht, wenigstens dem guten Winckelmann zu Liebe, einige Stellen hätten wegbleiben müssen und wirklich hätten wegbleiben können, dies überlasse ich der Empfindung eines Jeden, der sich an seine Stelle zu setzen Freundschaft oder auch nur Billigkeit hätte. Nennen werde ich diese Stellen nicht, um keine dumme Neugier zu locken; mir aber thaten einige derselben so weh, daß ich sie hätte wegkaufen mögen. Muß denn ein edler, so fortgehend edler Mensch auch in der Schwachheit der einzelnen, flüchtigen Momente dem Publicum dargestellt werden, die er etwa nur seinem vertrautesten Freunde nicht verheimlicht? Er war zu sehr Freund oder Kind, um sie ihm nicht sagen zu wollen; wurde dieser aber dadurch berechtigt, wenn auch nach seinem Tode, sie aller Welt zu sagen? Ich will diese Anmerkung nur Winckelmann zu Lieb' und keinem Menschen zu Leide geschrieben haben. Handle Jedermann, wie er zu handeln für gut findet; nur ich weiß, wie ich in solchem Falle selbst gegen meinen Feind verführe. – H. (Es sind die »Briefe an einen seiner vertrauten Freunde [Muzel-Stosch] nebst einem Anhange von Briefen an verschiedene andere Personen« [Berlin und Stettin 1781] gemeint. – D.) geschrieben hätte. Kurz, der deutsche Baron, der damit nicht zufrieden ist, daß Winckelmann spät, mit schon ausgebildeter Seele nach Italien kam und freilich, so wie seine Kenntnisse, so auch seine Begeisterung schon dahin brachte, der lasse sich etwa selbst in Rom gebären und versuche, was er alsdann mit frischem Blick am Alterthum sehen und nicht sehen werde!

Das Göttliche in uns wird mit uns geboren; Gelehrsamkeit, Bücher und Steine bringen's nicht hinein, wo es nicht von Natur war. Wie viel Cicerone haben Alterthümer beschaut und gewiesen! wie viele vielleicht mit ungleich größerer Gelehrsamkeit und Minutienkenntniß, als Winckelmann haben konnte oder wollte! wie wenige aber unter ihnen mochten nach dem, was er war, Winckelmanne sein oder werden? Mit keiner Kunst und Wissenschaft geht's anders; denn woher in der Welt wären sonst die Liebhaber des Vortrefflichen, die Kenner und Künstler der höchsten Schönheit in jeder Wissenschaft und Kunst so selten? Unzählig viel Maler rieben Farben und sahen, was Raphael sah, aber ohne sein Auge, ohne seine Empfindung! sie mußten's also wol sein lassen, Raphaels zu werden, so strenge und genau sie übrigens das Mechanische der Kunst lernten und in einzelnen Theilen derselben ihn übertreffen konnten. In der Idee, die Raphael, wie er sagte, in sich trug, und zu der er nur Beiträge aus Gegenständen um sich her stahl, in dieser konnte und wird er nur von einem zweiten Raphael übertroffen werden. So ist's mit Winckelmann's Philosophie und Lehre. »Vom Plato an«, sagt er, »bis auf unsre Zeit sind die Schriften dieser Art vom allgemeinen Schönen leer, ohne Unterricht und von niedrigem Gehalte; das Schöne in der Kunst haben einige Neuere berühren wollen, ohne es gekannt zu haben.« Diese und häufig ähnliche Stellen hat man seinem Stolz zugeschrieben; sie waren offenbar bei ihm Empfindung und sind außer ihm Wahrheit. Den idealischen Theil der Kunst, den hohen Begriff vom Schönen und der Schönheit fand er nirgend so abgehandelt, wie er ihn in seiner Seele fühlte, wie er ihn dargestellt wünschte; daher sprach er also.Auch ist sein Artikel von der Schönheit eines der Meisterstücke, auf die unsere Sprache stolz sein kann. – Anm. Müller's. Auch seine vertrauten Briefe zeugen, daß er in jedem Augenblick höherer Empfindung in diesem Empyreum eines Gefühls von Abstractionen lebte und selbst zum höchsten Wesen auf diesen Flügeln der Begeisterung, oft von sehr kleinen Gegenständen, emporflog. »Nicht Jedem«, sagt d'Alembert, »ist's gegeben, sich in den Ring Saturn's hinaufzusetzen; wer indeß auf diesem Planeten geboren ward, lebt da in seinem Vaterlande.«

Es ist daher unrecht, wenn man diesen einzig wahren Gesichtspunkt zu Winckelmann's Schriften verfehlt, um sie in einem falschen Licht unvollständig zu sehen; mich dünkt, er selbst hat uns gnug auf den rechten Gesichtspunkt gewiesen. Ehe er nach Rom ging, schrieb er seine Gedanken von Nachahmung der griechischen Werke, in denen nichts als Empfindung des Schönen lebt. In Rom fing er mit der idealischen Beschreibung einzelner Kunstwerke, des Apollo, Laokoon»Bibliothek der schönen Wissenschaften«, B. 5. St. 1. – H. und andrer an; die vorgenommene Schrift von Ergänzung der alten Bildsäulen und dergleichen, die Cavaceppi ohnstreitig besser als er schreiben konnte, ließ er mit gutem Fleiß liegen. Aber in der Abhandlung, Das Schöne der Kunst zu empfinden,Dresden 1765. – H. da lebt seine Seele auf; sie lebt auf, wenn er in seiner Geschichte der Kunst, und wo es sei, an die Region dieser erhabnen Begriffe und Empfindungen reicht. Was soll's also heißen, wenn man sagt, seine Geschichte der Kunst sei mangelhaft und unvollständig? Konnte sie's anders sein? Wollte Winckelmann sie anders schreiben? Ist wol ein Sinn darin, eine vollständige Geschichte der Kunst des Alterthums zu verlangen, da die meiste Kunst des Alterthums selbst untergegangen ist, da von ihr selbst so wenige blutarme Nachrichten übrig sind und die paar Schriftsteller über sie nur wie ein paar abgerissene Ufer da stehn? Der ganze Wald von 50,000 Bildsäulen in Rom und aller Welt, Gemmen, Münzen, Gefäße und Gebäude dazu gerechnet, sind sie etwas Anders als ein zusammengeschleppter Haufe von Ruinen gegen das, was in Pausanias' und Plinius', geschweige in höhern Zeiten lebendige Geschichte der Kunst hieß? Und wo ist nun der Forderer, der's verlangen kann, der arme alte Winckelmann sollte diesen Wald von Tempeln und Bildsäulen und Museen in aller Welt durchkrochen haben, um ihm einen unbezahlten Catalogus realis zu liefern, der in Winckelmann's Plan so wenig lag als in dem meinen? Sein Zweck war, eine systematische Geschichte der Kunst zu liefern, wie er selbst deutlich sagt:S. Vorrede zu seiner »Geschichte der Kunst«. – H. sie sollte die genetische Geschichte des Schönen in der Kunst des Alterthums werden und ist's geworden, wenn ihr auch noch zehnmal mehr fehlte, als ihr fehlt. Sein historisches Lehrgebäude ist vollendet; der simple griechische Tempel mit seinen hohen Heiligthümern und Aussichten steht da. Können wir den Genius der Kunst bewegen, daß er uns wiederherstelle, was durch die Hand der Araber, Türken und Barbaren fiel; daß er uns Nachricht gebe von dem, was auch in Schriften untergangen ist oder hie und da verborgen liegt; daß er uns zeige, in welches Zeitalter jedwedes Kunstwerk, welchem Künstler es zugehöre, von wem Etrurier, Griechen lernten, und welcher kleine Umstand hie- oder dahin einfloß? u. s. w. Wolan, wir wollen unsere Gebete vereinigen, daß dieser Genius des Lichts, der Schutzgeist ganzer Weltalter und Nationen, erscheine und uns Aufschlüsse gebe. Ja, noch mehr, wir wollen ihm helfen, berichtigen und zusammentragen, was in der Welt zusammenzutragen ist; die Geschichte der Kunst des Alterthums wird damit ansehnlich erweitert, ich zweifle aber, ob nothwendig und wesentlich Winckelmann's Kunstgeschichte. Bei dieser ist solcher gelehrte Vorrat nur Außenwerk oder Beiwerk, nicht Hauptgebäude. Dies beruht auf wenigen, aber großen und, wie mich dünkt, ewig festen Ideen sowol vom Wesen des Schönen selbst als von den genetischen Ursachen desselben, die Veranlassung zu Beiden mag hier und da im Kleinen geändert werden, wie sie will. Das Werk selbst sammt den Epochen seiner Kunst, so viel Mangelhaftes diese im Detail haben mögen, im idealischen Ganzen, worauf er arbeitete, ist's richtig; denn es ist in der Ordnung der Zeiten, in der Natur der Sache selbst gegründet.

Anders verhält sich's mit seinem Versuch über die Allegorie,Dresden 1766. – H. und ich bekenne gern, daß dies Winckelmann's Hauptwerk nicht ist; er war in ihm ziemlich außer seinem Wege. Sein Begriff der Allegorie ist unbestimmt, und er verwechselt ihn oft mit historischen Attributen, ja verfolgt ihn bis ins Gebiet der Sprachen. Noch unbestimmter ist die Anwendung desselben bei den so verschiedenen Künsten, Völkern und Zeiten. Keine Kunst kann völlig allegorisiren wie die andre, kein Volk wie das andre, keine Zeit wie die andre. Es kommt hier auf so viel feine Nebenbegriffe bekannter oder unbekannter Gegenstände, geläufiger oder fremder Ideen, ja selbst auf Farbe der täglichen Sitten, des Geschmacks, der Sprache an, daß ohne sie das Buch der Allegorie, zumal in schweren Stein gebildet, dem großen Haufen ewig ein versiegeltes Buch bleiben müßte.Wir haben das Beispiel an den Gebilden von Persepolis. – Anm. Müller's. Zu einer Geschichte der Allegorie in Schriften und Kunstwerken gehört, dünkt mich, so ein eigner Mann, als Winkelmann es für die Geschichte der Kunst des Schönen war; es wird zu ihr eine Art kleines Scharfsinnes erfordert, die Jener bei seiner Empfindung fürs ungetheilte Hohe und Große vielleicht nicht besitzen konnte. Seine Allegorie ist indessen der Anfang einer sehr nützlichen Sammlung allegorischer Begriffe und Bilder, in der ihn doch auch sein Geist nicht verläßt; und da der Verfasser selbst sie nur als einen bescheidenen Anfangsversuch in einem Felde, wo noch gar nichts gethan sei, ankündigte, so hätte man lieber in seinen Gesichtspunkt eingehn, als ihn roh und von der Oberfläche her tadeln sollen, zumal ihn zu tadeln so wenig Kunst war. Die Kälte, mit der man dies immer doch Winckelmannische Werk aufnahm, war dem guten Alten empfindlich, und er wollte weiter nichts mehr deutsch schreiben. Er hat leider auch sein Wort gehalten; denn nach dem zweiten Bande seiner Monumenti inediti übereilte ihn sein hartes, bitteres Schicksal.

Ja freilich hartes und bittres Schicksal! Wenn man die Begierde liest, mit der er sich Jahre lang nach seinen Freunden, nach Deutschland und Vaterland sehnte; wenn man die Ankündigungen, die kindische Freude liest, mit der sein Herz nach ihnen schlug, und wie ihn nun plötzlich Todesangst und Schauer ergriff,S. Winckelmann's letzte Reise in Dasdorf's Sammlung von Briefen, Th. 2. S. 358 ff. – H. da er Deutschland sah, da er die Berge und Hütten sah, die er vormals bei seiner Hinreise nach Italien mit so vieler Liebe und Wohlgefallen beschrieben: kein Freund, keine Ueberredung kann ihn halten, er muß zurück, er eilt zurück, um auf der Grenze beider Länder – den Tod zu finden, und einen Tod auf so unwürdige, abscheuliche Weise! Ja, wenn die Nachricht wahr ist, daß er eben an einem Blatt für den künftigen Herausgeber seiner Kunstgeschichte geschrieben, als die Hand des Mörders ihn übereilte; wenn man bedenkt, daß die schönen Fehler seines Charakters, unschuldige Ruhmesfreude und ein zuvorkommender Wahn der Freundschaft, auch gegen Solche, die es nicht verdienten, zwei Idole, die ihm im Leben so lieb gewesen, die ihn so oft getröstet, erhoben und getäuscht hatten, auch jetzt die Dienerinnen sein mußten, die schreckliche ΚήρDie griechische Göttin eines gewaltsamen Todes. – H., mit Strick und Dolch zu ihm zu führen: wer muß nicht schaudern? wer nicht um ihn und seine fürchterliche todsuchende Ahnung weinen? Du fielst, Edler, unter der Hand der unerbittlichen Parze an der Grenze des Landes, dem Du ein Fremdling geworden, aus dem Du eiltest in das andere Land, das Dich erfreut und geehrt hatte, in dem Du auch jetzt Ruhe und Erholung suchtest. Du fandest diese Ruhe im Grabe, und die Erholung, nach der Du lechztest, die Freundschaft, die Du hienieden suchtest, und von der Du so oft betrogen zurückkamst, die Schönheit, Weisheit und Einfalt endlich, der Du Dein Leben geweiht hattest, und zu der Du so oft begeistrungvoll in den Schooß der Gottheit aufflogst, die fandest Du und konntest sie allein finden in jener reinern Welt.

»Auch in Wälschlands Thale
War's nicht gelebt; nun lebest Du
Die zweite schönre Himmelsjugend«.Aus Herder's Gedicht »An meinen Landsmann Johann Winckelmann«, nach der ursprünglichen Fassung, wo nur »lange« statt schönre steht. Vgl. Herder's Werke, I. S. 260. 579. – D.

Wie ein Wandrer, der mit brennendem Durst und versengtem matten Fuße über die Ruinen Persepolis' und Aegyptens, Gräciens und Rom's hinweggewandert, bei jedem Schritte die Trümmer einer versunknen Königsstadt, einer zerrütteten, nie wiederkommenden Welt, kurz Eitelkeit, Eitelkeit aller menschlichen Dinge sah und fühlte; wie er mit dem letzten Blicke auf diese Gegenden und Werke, die er hinter sich läßt und nie wiedersehen wird in ihren Trümmern, geschweige im Flor und in der Herrlichkeit ihres alten Lebens, traurig-fröhlich auf sein Schiff tritt, um seine neue, freilich andre Welt, aber in ihr Weib, Kinder, Freunde wiederzusehen und sie leibhaft, nicht blos in Ideen zu umarmen: so ist mir, da ich an Winckelmann's Hand das Alterthum hindurch geträumt habe und jetzt auf seiner traurigen Grabesstätte die Eindrücke sammle. Wo bist Du hin, Kindheit der alten Welt, geliebte süße Knabeneinfalt in Bildern, Werken und Gestalten? Du bist hinweg mit Deinem Traum voll angenehmer Wahrheit, und keine Stimme, kein heißer Wunsch des Liebhabers kann Dich erwecken aus Deinem Staube. Aufs Rad der Zeiten geflochten, rollen wir unaufhörlich weiter – wohin? wohin? – und kommen nie an die vorige Stelle wieder. Auch Dein Traum, lieber Winckelmann, von schönen Menschengestalten, von edler Jugendfreundschaft und Erdenweisheit ist verlebt hienieden. Nach verlornem Frühlinge des Lebens genossest Du einige schöne Herbsttage und wurdest vor dem Winter bewahrt, der Dir vielleicht Deinen süßen Trug, die beste Blüthe des Lebens, genommen hätte; aus dem Reich täuschender, schöner Ideen gingst Du in eine wahrere Welt, wo Du nicht mehr Griechenland und seine Götterformen beneidest. Lebe wohl! Dein ermordeter Körper ruht sanft auch ohne Denkmal. Er liegt jenseit der Grenze seines Vaterlandes, und dies arme Blatt kann nicht hingehn, ihm ein Denkmal daselbst zu werden. Aber seinen Freunden, jedem seiner Freunde sei Dank, der dem armen Wandrer, so lange er unser war, nur einigermaßen zu Hilfe kam und eine gute Stunde machte! Die Namen derselben sind in seinen Schriften und Briefen unsterblich, und so lange man diese liest, wird man bei der überfließenden herzlichen Dankbarkeit, womit der Edle ihre Güte preist, auch den Schatten ihres Andenkens lieben und segnen.Ueber Winckelmann vgl. auch den Aufsatz aus der Adrastea, Werke, VIII. S. 135–144. – D.

 

Nacherinnerung.

Ich habe über Winckelmann geschrieben, wie ich im Gefühl seiner Schriften und seines Lebens von ihm schreiben mußte. In seinen Briefen denkt er an eine Schrift Ueber den Verfall des Geschmacks in Italien und an Römische Briefe, die er schreiben wollte: sollte sich nichts davon unter seinen Aufsätzen gefunden haben? Die neuere Ausgabe seiner Kunstgeschichte, die in Wien nach seinem Tode erschien, ist wol (denn hier gilt's die Ehre eines Todten!), insonderheit ihrer Vorrede nach, Winckelmann's nicht würdig. Da in Italien eine vollständigere erschienen ist, so sollte Deutschland, in dessen Sprache Winckelmann schrieb, jenem fremden Lande nicht nachbleiben; und wer der einzige Mann sei, der uns die beste, correcteste, ja eine vermehrte, berichtigte Ausgabe der Winckelmannischen Schriften liefern könnte, weiß ganz Deutschland. Es ist einer der ältesten Winckelmannischen Freunde, Heyne.Fernow, der längere Jahre in Italien verlebte, wo er sich mit einer Römerin verheirathete, war es, der zu Weimar eine Winckelmann's würdige Ausgabe übernahm, die nach dessen vorzeitigem Tode von H. Meyer und J. Schulze vollendet wurde. – Nach unserem Aufsatze folgte im Merkur das Andenken Lessing's. Vgl. oben S. 321, Anm. 1. – D.

 

J. G. Sulzer.

Geboren 1719, gestorben 1779.

 

Da von diesem verdienten Mann bereits Hirzel's Gedächtniß an Gleim»An Gleim über Sulzer«. Zwei Bände. Winterthur 1780. – D. und vermuthlich auch ein éloge académique vorhanden ist,In der »Histoire de l'Académie Royale des sciences et belles lettres« vor den »Nouveaux Mémoires«, 1779, 45–60. – D. so bleibt mir zu meinem Zwecke nichts als ein allgemeiner Gesichtspunkt übrig.

Sulzer's Verdienste sind, dünkt mich, die eines Pädagogen und Philosophen; ich nehme beide Worte im edelsten Verstand. Der Rang, den er als Naturkundiger und Mathematiker haben möchte, ist außer meinem Urtheil.

Als praktischen Philosophen über die Erziehung und Unterweisung der Kinder kündigte ihn früh ein kleiner Versuch»Versuch einiger vernünftigen Gedanken von Auferziehung und Unterweisung der Kinder«. 1745. 1748. »Gedanken über die beste Art, die classischen Schriften mit der Jugend zu lesen«. 1765. – H. an; sein kurzer Inbegriff der Wissenschaften,1745. 1758. 1760. – H. seine Vorübungen,»Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens zum Gebrauch einiger Classen des Joachimthalschen Gymnasiums«. Berl. 1769. – H. die Einrichtung des Mitauischen Gymnasii1774. – H. und viele Verdienste, die er sich um das Schulwesen in Berlin und andern preußischen Ländern erworben, haben durch Rath und That diesen kleinen Versuch sehr hoch erhöht. Wenn's nun wirklich keine nützlichere Philosophie giebt, als die den Menschen, das Kind, den Jüngling bildet, so hat Sulzer einen Rang über manchem scharfsinnigen und nutzlosen Erfinder.

Ich setze in dieses Fach auch einige seiner Schriftchen, die er über die Werke und Schönheit der Natur,»Versuch einer moralischen Betrachtung über die Werke der Natur«. 1745. »Unterredungen über die Schönheit der Natur«. 1754–1770. – H. über den Werth der Noachide,»Gedanken über« u. s. w. 1754. – H. über die bessere Anwendung der Künste1772. – H. und sonst geschrieben. Sie lehren keine neue Wahrheiten, aber sie wenden alte gute Wahrheiten angenehm, faßlich, nützlich an. Ueber die Noachide ist Sulzer eigentlich kein strenger Kunstrichter, sondern ein Freund des Dichters, der die moralischen Schönheiten seines Gedichts entwickelt und der Jugend anpreist, wie er es auch im großen Wörterbuch der Künste oft gethan hat. Der moralische Nutze, auf den er überall die Künste und jede schöne Wissenschaft angewandt wissen will, ist edel und wünschenswerth, vielleicht aber nicht immer, insonderheit auf den Wegen, die er vorschlägt, erreichbar, nicht etwa nur äußerer Hindernisse, sondern hie und da vielleicht des Begriffs der Kunst selbst wegen. Indessen sind bei der großen Zwecklosigkeit und den zum Theil schändlichen Mißbräuchen, in die die besten derselben gerathen sind, zu unsrer Zeit auch Platonische Gedanken und Wünsche hierüber schätzbar.

Als Philosoph war Sulzer ein Philosoph des gesunden Verstandes, der planen, nicht spitzfindigen Vernunft. Psychologie war das Feld, wo ihm die Zerlegung der Begriffe am Meisten glückte; und giebt's in der ganzen Philosophie ein angenehmeres, nützlicheres Feld als dieses? Seine Theorie der angenehmen Empfindungen, seine Abhandlungen über Sprache und Vernunft, über dunkle Begriffe und Triebe, zuletzt über das Wesen und die Unsterblichkeit der SeeleSulzer's »Vermischte philosophische Schriften«. 2 Theile. 1773. 1781. – H. sind voll schöner Wahrnehmungen. Wenn sie die Begriffe nicht allemal zur vollständigsten Deutlichkeit heben, so ziehen sie sie doch aus der Tiefe ans helle, klare Sonnenlicht hervor und sind dem Leser, insonderheit dem sich bildenden Jünglinge so unterhaltend als aufmunternd. Die Leiter, auf der der Philosoph emporsteigt, läßt er stehen und zieht sie nicht stracks nach sich; ein Anderer kann und mag weiter steigen.

Das größte Gebäude endlich, das Sulzer errichtete, ist sein Wörterbuch der schönen Wissenschaften und Künste,»Allgemeine Theorie der schönen Künste«, Theil 1. 2. 1771. 1774. – H. [Das vollendete Werk besteht aus vier Theilen, die 1792–1794 neu aufgelegt wurden. Höchst ungünstig hatte Herder über den ersten Theil im Briefe an Merck vom Juli 1771 geurtheilt. – D.] ein Dädalisches, vielleicht unvollendetes und nie zu vollendendes Gebäude, das seinen Erbauer aber, wenn es auch nur der erste Erbauer wäre, gewiß nicht ohne Kranz ließe. An der Peterskirche in Rom haben Viele gebaut, weil das Werk über eines Menschen Leben hinausreichte; selbst der Plan derselben ward einigemal geändert, das Gebäude kam indessen doch einmal zu Stande, und auch Denen, die die Vollendung nicht erlebten, bleibt ihr Ruhm. Es ist wol unleugbar, daß Sulzer den Plan, den er in den »Literaturbriefen« bekannt machte,Th. 5. S. 33 ff. – H. nicht ganz erreicht hat. Er war nicht der einzige Arbeiter; ein Mann konnte bei so verschiedenen Künsten nicht jedem Begriff, jedem Hauptwort auf den Grund kommen, noch weniger in der für jede zusammenhangende Philosophie fatalen Form eines zertrennenden Wörterbuchs jeden Begriff dem rechten Verhältniß nach an Ort und Stelle führen, noch weniger, da bei verschieden Künsten verschiedne Mitarbeiter waren, die gemeinschaftlichen Ideen verschiedener Künste auf dem kürzesten Wege zu ihrer klaren Quelle leiten u. s. w. Aber wer wird Unmöglichkeiten fordern? wer einem, und zwar dem ersten Versuch das Geschäft vieler Männer, vielleicht ganzer Jahrhunderte zumuthen? Sulzer hat angefangen; man baue weiter: Man binde, leite, simplificire die Begriffe, wo sie noch nicht recht gebunden und simplificirt sind; man stelle die Künste und ihre Theile mit mehrerm Verhältniß gegen einander, als sich bei dem ersten Ueberblick eines Labyrinths von Gedanken und Worten thun ließ; insonderheit führe man auch die Begriffe der Kunst genetischer in ihre Geschichte und schärfe hie und da, was bei Sulzer zu rund, zu allgemein gesagt sein möchte. Das Werk, wie es ist, ist ein Denkmal des philosophischen Sinnes der Deutschen, mit Lacombe und ähnlichen Büchern so wenig zu vergleichen als der Palast mit einer Marktbude. Wenn man Sulzer zum Theil strenge beurtheilt hat, so kam's davon her, daß man ihn nach seinem eignen Plan beurtheilte und in diesen hohen Ideen lange aufs Werk gewartet hatte; kurz, weil man ihn als Sulzer beurtheilte. Jetzt ist wol Niemand in Deutschland, der den Werth seines Buchs verkenne; und auch selbst die Mängel desselben, daß Sulzer sich mehr auf dem Wege des schlichten, gesunden Verstandes hielt, als nach Höhen und Abgründen der Spekulation einzelner seiner Begriffe umherkletterte, sind zum allgemeinen Gebrauch des Buchs Empfehlung. Die schönsten Artikel in ihm sind auch psychologisch und pädagogisch; hierunter sind manche, die ganze Abhandlungen der Akademie gelten möchten. In diesem Werte ist Sulzer eine ganze Akademie selbst.

In den letzten Jahren seines Lebens that der kranke Weltweise eine Reise durch die schönsten Gegenden Europens, um noch mit den letzten Blicken der Dankbarkeit die Schönheit einer Natur zu genießen, die er in seinen frühern Jahren so wahr, so fromm und edel gepriesen hatte. Er hoffte aus ihr noch Athem der Gesundheit zu holen; sie konnte, sie sollte ihm aber denselben für diese Welt nicht mehr geben. Er ging mit Gesinnungen, die ein Brief von Spalding in seinen letzten Tagen beschreibt, in eine schönere Natur Gottes über. Sein Tagebuch dieser Reise, die Briefe, die Hirzel»An Gleim über Sulzer«. 1780. – H. und Lange vorher»Freundschaftliche Briefe«, 1769. 1770. – H von ihm bekannt gemacht haben, zeigen ihn, wie er's auch in seinen Schriften ist, als einen gesetzten und ruhigen Weisen. Mich dünkt, Sack war's, der ihn nach Berlin zog; dieses aufgeklärten und um Deutschland sehr verdienten Gottesgelehrten ist also auch ein Theil des Verdienstes, das Sulzer sich in seiner so nützlichen Sphäre erworben.Sulzer's Selbstbiographie ward 1808 von Merian und Nicolai herausgegeben. – D.

 


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