Johann Gottfried Herder
Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Beurtheilungen und Vorreden aus der Weimarer Zeit
Johann Gottfried Herder

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Aus der »Neuen Deutschen Monatsschrift«.

1795.

 

Ueber die Fähigkeit zu sprechen und zu hören.Neue Deutsche Monatsschrift 1795, Maiheft. – D.

 

Mehrmals war es mir fremde, daß wir Deutsche die Wichtigkeit dessen, was Sprache einer Nation ist, so sehr zu verkennen scheinen. Sobald von Sprache die Rede ist, glaubt der große Haufe, daß man von ihr als ein Grammatiker spreche; sie als das Organ unsrer Vernunft und gesellschaftlichen Thätigkeit, als das Werkzeug jeder Cultur und Unterweisung, als das Band der Geselligkeit und guten Sitten, als das ächte Mobil zu Beförderung der Humanität in jeder Menschenclasse zu betrachten, davon sind wir weit entfernt.

Und doch lernen wir nur durch Sprache vernünftig denken, nur durch Sprache unsre Vernunft und Empfindungen, unsre Gesinnungen und Erfahrungen Andern mittheilen. Sprache ist das Band der Seelen, das Werkzeug der Erziehung, das Medium unsrer besten Vergnügungen, ja aller gesellschaftlichen Unterhaltung. Sie verknüpft Eltern mit Kindern, Stände mit Ständen, den Lehrer mit seinen Schülern, Freunde, Bürger, Genossen, Menschen. In allen diesen Fugen und Gelenken sie auszubilden, sie richtig anzuwenden, diese Aufgabe schließt viel in sich.

HagedornHaller. – Anm. J. von Müller's. sagt: »Wer frei darf denken, denket wohl«; sollte man nicht mit gleichem Recht sagen: »Wer richtig, rein, angemessen, kraftvoll, herzlich sprechen kann und darf, der kann nicht anders als wohl denken«? Ist die Sprache eines Menschen, einer menschlichen Gesellschaft schleppend, hart, verworren, kraftlos, unbestimmt, ungebildet, so ist's gewiß auch der Geist dieser Menschen; denn sie denken ja nur in und mit der Sprache.

Wenn also Erziehung unsern Geist bilden soll, so lerne der Zögling sprechend denken. Seinen Lippen werde das Schloß entnommen, das ihm die Seele verschließt; sonst wird es ein Behältniß verworrner, roher, modernder Gedanken.

  Hast thou no friend, to set thy mind abroach;
Good sense will stagnate. Thoughts shut up, want air,
And spoil, like bales unopen'd to the sun.
Had thought been all, sweet speech had been deny'd;
Speech thought's canal, speech thought's criterion too.
Thought in the mine, may come forth gold or dross,
When coin'd in word, we know its real worth.
If sterling, store it for thy future use,
'T will buy thee benefit; perhaps renown.
Thought, too, deliver'd, is the more possest;
Teaching, we learn; and, giving, we retain
The births of intellect; when dumb, forgot.
Speech ventilates our intellectual fire;
Speech burnishes our mental magazine;
Brightens for ornament; and whets for use.
What numbers, sheath'd in erudition, lie
Plung'd to the hilts in venerable tomes,
And rusted in, who might have borne an edge
And play'd a sprightly beam, if born to speech;
If born blest heirs of half their mother's tongue!
'Tis thought's exchange, which, like th' alternate push
Of waves conflicting, brakes the learned scum,
And defecates the student's standing pool.
»Hast Du keinen Freund, um Deinem Geiste einen Ausfluß zu verschaffen, der gesunde Verstand wird ein stillstehender Sumpf werden. Versperrte Gedanken müssen Luft haben, oder sie verderben, gleich den Waarenballen, die der Sonne nicht geöffnet sind. Wären Gedanken Alles gewesen, so wäre uns die süße Rede versagt worden; die Rede, der Gedanken Canal! die Rede, auch der Gedanken Kennzeichen! Gedanken, die noch in der Grube liegen, können als Gold oder als Schlacken ans Licht kommen; sobald sie in Worten geprägt erscheinen, so kennen wir erst ihren eigentlichen Werth. Sind sie ächt, so verwahre sie zu Deinem künftigen Gebrauche; sie werden Dir Vortheil, vielleicht auch Ruhm erkaufen. Ja, je mehr wir unsere Gedanken mittheilen, desto mehr besitzen wir sie; lehrend lernen wir; und indem wir sie der Welt geben, behalten wir die Geburten unsers Verstandes; sind sie stumm, so werden sie vergessen. Durch die Rede wird das Feuer der Seele angefacht; durch die Rede wird die Rüstkammer des Geistes geschliffen, zur Zierde blank geschliffen und zum Gebrauche gewetzt. O, welch eine Menge liegt in der Gelehrsamkeit und in ehrwürdigen Bänden wie in ihrer Scheide, tief bis ans Heft versenkt und eingerostet, welche mit lebhaften Strahlen hätten blitzen und eine durchdringende Schärfe gewinnen können, wenn sie zur Rede wären geboren worden, wenn sie nur die halbe Beredsamkeit ihrer Mütter geerbt hätten! Gleich dem wechselnden Stoße kämpfender Wellen bricht der Tausch der Gedanken den gelehrten Schaum und reinigt den trägen Sumpf des grübelnden Philosophen.« Young's Klagen, zweite Nacht, nach Ebert's Uebersetzung S. 50 f. erster Ausgabe. – H.

Und diese Erziehung geht durchs ganze Leben. Ein Volk, das gut spricht, das über jeden Gegenstand bestimmt, vernünftig, klar, überzeugend oder überredend zu sprechen sucht, erwirbt sich eben damit einen großen Reichthum, einen behenden Gebrauch seiner Gedanken.

Um aber sprechen zu lernen, muß man hören können und hören dürfen. Viele Menschen verstehen diese Kunst zu hören gar nicht; manchen Völkern wird sie über gewisse Gegenstände nicht vergönnt; ihre Seelen müssen also von diesen Seiten ungeschliffen und ungelenk bleiben. Daher sehen wir allenthalben, daß Männer, in denen ein großer Trieb war, die Wahrheit von allen Seiten kennen zu lernen, auch auf abgelegnen Seiten den Umgang der Menschen suchten, die frei zu sprechen wagten. Sie mischten sich, erkannt oder unerkannt, in mancherlei Gesellschaften und hörten. So gewann Swift, ein ungemeiner Geist, in Fällen, wo er ihn anwenden wollte, seinen hellen, überzeugenden Vortrag, seine seltene Volkssprache. Jeder Liebhaber der Eigenthümlichkeit menschlicher Gedanken ging auf diesem Wege; ja, jeder Mensch, der wirklich und vielseitig gebildet werden will, kennt keinen andern. Die Stände, denen der Zutritt zu frei sprechenden Menschen versagt ist, die solche nicht anhören können und anhören mögen, bleiben eingeschränkt in ihrem Gedankenkreise, ungewürfelt in ihrer Vorstellungsart; sie werden argwöhnisch, versteckt, tyrannisch, feige. Nur durch Sprache wird ein Volk, nur durch gemeinschaftliche Sprache werden Menschen humanisirt.

Was mich auf diese Gedanken gebracht hat, ist das Manuscript einer Reise durch Deutschland, die ein Ausländer ohne politische Parteisucht, blos zu dem Zweck unternommen hatte, um zu erfahren, wie man in Deutschland sprach und hörte. Ich würde sie nach der Analogie des einst so beliebten Espion Turc den Sprach- und Hörforscher nennen, darf aber nichts Einzelnes daraus mittheilen. Der menschenfreundliche Reisende fand Gegenden, wo man besser sprach, weil man sprechen durfte, weil man ohne Groll zu hören wußte; andre, über welchen ein fürchterliches Mißtrauen, eine taubstumme Verschlossenheit der Gedanken ihre schwarzen Flügel schlug und eine wortscheue, zaghafte, gleichsam stotternde Denkart herrschte. Von beiden zeichnet er die Folgen. Wie Gegenden, so unterschieden sich Stände; und auch hier waren die Folgen augenscheinlich. »Menschen«, sagt er, »die sich einander nicht mittheilen dürfen, denen die Sprache selbst einen Zwang, ein Cerimoniel auflegt, daß die freie Wahrheit, sie, die nicht anders als unmittelbar von Seele zu Seele, von Herz zum Herzen sprechen will und kann, immer Umwege nehmen und unter niedrigen Schlagbäumen durchkriechen muß, Menschen, denen beruf- und standesmäßig ein Schloß am Munde hängt oder gar die Zunge am Gaumen klebt – sie kennen keine andre als eine chinesische Etikett-Wahrheit.« Die Folgen hievon, sowol für Den, der nicht sprechen darf, als der nicht hören kann, zeigt mein philosophischer Reisender in Beispielen und kommt auf den einfachen Satz zurück: »Wer mit dem Andern oder gar für ihn wirken soll, muß wol auch mit ihm sprechen dürfen.«

»Woher kommt's,« sagt er, »daß eine nachbarliche Nation zu der Schnelligkeit von Gedanken, zu der Gewandtheit gelangt ist, die sie, obgleich jetzt in übler Anwendung, dennoch unbestritten auszeichnet? Unter Andern auch, weil sie sich ihre Sprache leicht gemacht und aus ihr, bereits in ihren schönsten Zeiten, manche Ungereimtheiten des Cerimoniels hinweggeschafft hat; unter Andern auch, weil sie viel spricht, über allerlei Dinge spricht und über jedes bestimmt, hell, anständig und rein zu sprechen sich befleißigt; unter Andern auch, weil sich die Menschen in ihr leichter, geselliger mischten, Einer vom Andern Ideen anzunehmen nicht verschmähte, wodurch denn mehrere Gedanken in schnelleren, vielfachen Umlauf kamen und kein Stand barbarisch bleiben mußte. Welche Nation«, fährt er fort, »hat so viel angenehme und unterrichtende Mémoires als die, von der ich rede? Menschen in allen Ständen und in wie frühen Zeiten haben sie geschrieben! Dagegen fragte ich nach deutschen Denkwürdigkeiten einzelner berühmter Männer, und außer einigen ehrlichen Reiternachrichten, außer den Tagebüchern armer Wallfahrter nach dem heiligen Lande wußte man mir aus ältern Zeiten beinahe nichts zu zeigen.Vgl. Herder's Werke, XIV. S. 177 ff. – D. Aus Allem schloß ich, daß den Deutschen von jeher das Sprechen schwer gefallen sein mußte.«

So mein Autor. Wie also, wenn wir oft, viel, dazu öffentlich, im freien Umgange, wo auf Rede Gegenrede folgt und ein Wort des andern werth ist, und allenthalben mit Lust sprächen: würden wir nicht auch leichter schreiben lernen?Ein großes Hinderniß ist die Departemental-Einrichtung, wodurch Alles auf unermeßliche Schreiberei gekommen ist, wobei kein lebendiges Wort der Untersuchung gewechselt wird. – Anm. J. von Müller's. Unsre Bücher, dünkt mich, würden Abdrücke des gesunden Verstandes, der im Leben herrscht, Vorträge im Ton guter Gesellschaft werden; da jetzt zuweilen die durchdachtesten, witzigsten, sinn- und mühevollsten deutschen Schriften sich weder lesen noch hören lassen. Sie ermüden; unser Othem reicht zu ihren Perioden, unser Ohr zu ihren Vorstellungen nicht hin; oder der Autor wagte gar zu schreiben, was er in einer anständigen Gesellschaft also zu sagen sich schwerlich getraut hätte, und so macht er seinen Vorleser verstummen und erröthen. Vielleicht schrieben wir auch weniger, wenn wir mehr sprächen; Andre wenigstens hülfen uns sodann denken und schreiben, indem wir von, mit und an ihnen im mündlichen Gespräch lernten. Kurz, es ist wahr, was abermals Young sagt:

  In contemplation is thy proud resource?
'Tis poor as proud, by converse unsustain'd.
Rude thought runs wild in contemplation's field;
Converse, the menage, breaks it to the bit
Of due restraint; and emulation's spur
Gives graceful energy, by rivals aw'd.
'Tis converse qualifies for solitude;
An exercice for salutary rest.
By that untutor'd, contemplation raves;
And nature's fool by wisdom's is undone.
»Sucht er seine stolze Zuflucht im stillen Tiefsinn? O, dieser ist ja ebenso arm als stolz, wenn er durch den Umgang nicht unterhalten wird. Der rohe Gedanke rennt im Felde der Betrachtung wild umher; des Umgangs Schule bändigt ihn erst und gewöhnt ihn, das Gebiß des gehörigen Zwangs zu leiden; und der Sporn der Nacheiferung giebt ihm ein anständiges Feuer, welches von Nebenbuhlern verehrt wird. Der Umgang macht uns zur Einsamkeit geschickt, so wie uns die Bewegung zur heilsamen Ruhe bereitet. Ohne des Umgangs Unterricht rast der Tiefsinn wie ein Wahnwitziger, der sich Kaiser im Monde zu sein dünkt, oder verhungert wie ein Bettler, und der Thor der Natur wird vom Thoren der Weisheit verdunkelt.« S. 51 f. – H. [Zeile 5 dieser Note sollte es vielmehr heißen: »welches durch Nebenbuhler in Scheu erhalten wird«, wie in den Werken gedruckt steht. – D.]

Andrer Wohlthaten, die aus gesellschaftlicher Rede entspringen, nicht zu gedenken:

  Joy is an import! Joy is an exchange;
Joy flies monopolists; it calls for two;
Rich fruit! Heav'n-planted! never pluckt by one.
Needfull auxiliars are our friends, to give
To social man true relish of himself.
Full on ourselves descending in a line,
Pleasure's bright beam, is feeble in delight;
Delight intense is taken by rebound;
Reverberated pleasures fire the breast.
»Die Freude ist ein eingeführtes Gut; die Freude ist ein Tausch, kein Monopolium: sie will von Zweien gesucht sein; eine reiche Frucht, vom Himmel gepflanzt und nimmer von Einem gesammelt. Unsre Freunde sind unentbehrliche Gehilfen, um dem geselligen Menschen einen wahren Geschmack an ihm selbst beizubringen. Wenn der helle Strahl der Lust in einer Linie gerade auf uns herabfällt, so ist er schwach an Vergnügen; ein starkes Vergnügen wird durch den Widerstrahl empfangen; zurückgeworfene Freuden entzünden die Brust.« S. 52 f. – H.

Wünschten Sie nicht auch, daß mein Autor seine Sprach- und Hörreise öffentlich machte?

 


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