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Das Schiff

Deutlich zeichnete die Sommernacht ihre Schatten, aber weit draußen in den Schären versammelten sich auf Korsö die bewaffnete Volksmenge und die Schärenbewohner von Sandhamm und Harö.

Ein Winter hatte geschneit seit dem Sonntag, da in Tistedal die knatternden Musketen zum letzten Mal vor dem Könige präsentierten. Mehrere von den ältesten und gichtbrüchigsten der Karoliner hatten sich schon mit ihrer knappen Pension auf ihre kleinen Höfe zurückgezogen und knüpften ihre Fischnetze am Fenster oder blätterten in ihren alten Tagebüchern. Ernst, gottesfürchtig hielten sie die Zusammenkünfte des Sonntags bei der Kirche in Ehren, und ohne Unterschied des Ranges umarmten Generale und Obersten mit feuchten Augen ihre Kriegsbrüder aus den langen Feldzügen. Noch war ja der Friede nicht unterzeichnet. Als die Kanonen der russischen Flotte wieder zwischen den Schären donnerten, knöpften die Veteranen ihre zerschlissenen blauen Röcke so stramm wie ehemals und schnallten den Haudegen vom Bettpfosten ab. Dann ging ein jeder hinaus, Heim und Herd bis zum äußersten zu verteidigen.

Hauptmann Reßlöf hatte sich selbst zum Anführer ernannt für die auf Korsö versammelten Scharen. Der Kammer bereits müde, stand er ganz getrost unter dem Volk. Schere und Barbiermesser hatten den Winter über in der Truhe geruht. Sein Haar war so lang, sein Bart war so weiß, und es war eine solche Freude, ihn zu sehen, daß sogar die trüben und melancholischen Schärenbewohner aufleuchteten, sobald er sich zu ihnen wandte.

Die Schlagwellen rollten noch von dem Sturm des Tages gegen den felsigen Meeresstrand der Insel, aber in dem Talkessel an dem spiegelhellen Sund strich kaum ein Windeshauch durch die Föhren, unter denen die Männer, wartend und unruhig, die entfernten Kanonenschüsse zählten.

Ein Pfarrerssohn von Djurö trat vor. Er verdrückte seine Mütze, und seine Blässe wurde bei dem Nachtlicht noch fahler. Seine Stimme zitterte.

»Hauptmann! Um mehr Volk herbeizuschaffen, haben sie die Schuten, die uns hierher führten, in die Schären hinaus geschickt. Zwei lecke Ruderboote, das ist alles, was wir haben, um uns darauf zu retten, wenn der Feind ans Land steigt, aber wir sind mehr denn vierzig Mann, verbirg uns nicht länger die Wahrheit! Unsere geringzählige Schar kann hier nichts mehr ausrichten. Wohl haben wir vernommen, daß der reiche Fuchs mit seinen Sörmländern schon nach Södra Stäket marschiert ist, um den Feind zu schlagen oder das Leben zu lassen, und daß Düker mit seinen Dalekarliern und Västmanländern bald nachfolgt, aber wir wissen auch, daß bei Boo und über die ganzen Schären von Vermdön und Södertörn bald nichts anderes mehr auf den Felsplatten zu suchen sein wird als schwarze Asche. Vergib mir meine Rede, aber wir alle haben vernommen, daß Trosa geplündert ist, und daß Nyköping brennt, so daß der Feuerschein weit weg gen Stockholm leuchtet. In Norrköping plünderten schwedische Bauern und Soldaten die Lastfuhren der Flüchtlinge auf offener Straße. Auf Vikbolandet gibt die Volksmenge den russischen Schiffen Zeichen mit Leintüchern und gebleichten Geweben, um zu unterhandeln und dem Zaren Treue zu schwören, und auf Marstrand hat Tordenskjold seine dänische Flagge gehißt. Wohin wir auch schauen, ist die Luft geschwängert von Flammen und Rauch der Mordbrennereien ... Es ist aus mit Schweden, unserer Heimat, unserer Heimat!«

»Ich verschweige nichts,« antwortete Reßlöf, »aber verlaßt euch darauf, daß in der elften Stunde den Schweden allezeit Hilfe kommt. Selten kommt sie ihnen früher.«

Der Pfarrerssohn lächelte verächtlich und antwortete, indes er wegging:

»Es ist jetzt Nacht, und die zehnte Stunde ist soeben verstrichen. Laßt uns hoffen!«

Das Volk drängte sich in großer Unruhe dicht um Reßlöf herum. Noch immer donnerten zwar die Kanonenschüsse draußen auf dem Meer, aber schwächer und entfernter.

Da kam von neuem der bleiche Pfarrerssohn über die Felsen. Er strauchelte und stolperte. Er lief. Er drängte sich mitten unter die Volksmenge, ohne sich zurückhalten zu lassen.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu, gutes Volk! Da draußen auf dem Meere kommt ein Schiff, das eine Laterne auf der Galeon angezündet hat, aber ohne Mast oder Segel oder Ruder ist. Und keinen Menschen kann ich auf Deck erspähen. Niemand steht am Steuer. Dennoch geht das Schiff vorwärts ... wenn auch langsam, langsam.«

Ein Gemurmel abergläubischen Grauens durchzog die Menge, aber die wortkargen Schärenbewohner folgten Reßlöf nach der obersten Klippe bei der Einfahrt. Sie glaubten, daß der Pfarrerssohn das im Geiste gesehen hätte, denn sie konnten auf dem weiten Meere, über dem der Nachthimmel glühte, nichts entdecken.

Aber plötzlich taten sie alle einen Schrei des Erstaunens, und das übrige Volk, das in einem Abstand nachgefolgt war, begann wieder zu murmeln. Hinter den bergigen Landspitzen trat aus einer Schlagwelle schwerfällig und langsam eine Brigantine hervor, ohne Segel und Tauwerk, aber mit weißgemalten Schießlöchern, und am Vorderteil stand unter der angezündeten Laterne ein goldener Löwe mit erhobenen Tatzen, wie zum Sprung bereit.

»Das ist ein Spukschiff!« murmelte die Menge.

Unentschlossen befahl Reßlöf einigen von den mutigsten Schärenbewohnern, ihre Musketen zu nehmen und ihm in eines der Ruderboote zu folgen.

Vorsichtig, mit lautlosem Ruderschlag und gehobenen Musketen, näherten sie sich dem Schiff, aber als sie es anriefen, erhielten sie keine Antwort. In der Kajüte des Hinterteiles glänzten einige der kleinen Fensterscheiben, aber es war der Widerschein der Nacht, und bald wurden sie alle gleicherweise dunkel. Nur die Galeonleuchte brannte und flackerte.

»Erbarm dich Gott!« flüsterte Reßlöf und deutete auf den langen Zeugstreifen, der am Hinterteil im Wasser nachschleifte. »Das sind die Farben der Unsrigen. Und nun kann ich auch den Namen lesen... Es ist die Brigantine ›Schwedischer Löwe‹!«

»Ja, ja, es ist die Brigantine ›Schwedischer Löwe‹!« murmelte die Menge auf der Insel.

Sie zogen die Ruder ein. Sie legten beim Steuer an und kletterten an den Seilen des zerrissenen Tauwerks empor, aber als sie durch ein zerbrochenes Fenster in die leere Kajüte stiegen, mußten sie mit den Händen im Dunkeln umhertasten.

»Ist hier nicht ein einziger Mann der Besatzung?« frug Reßlöf mit erhobener Stimme, aber niemand antwortete, und alles verblieb gleich ruhig.

Dann stieß er die Tür nach dem Deck auf. Die Schiffsratten sprangen hin und her über die Planken, aber auf beiden Seiten lagen am Dahlbord entlang bleiche und unbewegliche Matrosen, die auf ihrem Posten gefallen waren. Er ging von einem zum anderen, um sich zu überzeugen, daß sie alle tot waren. Danach sagte er zu seinen Begleitern:

»Die elfte Stunde ist gekommen. Führt nun das Volk an Bord und bindet die beiden Ruderboote vor den Steven, ehe daß die Schlagwellen und die Strömung die Brigantine auf den Grund treiben, wir können so uns selbst in die Schären hinein retten und der Krone ein Schiff erhalten, das sein Gefecht tapfer bestanden hat.«

Der Alte ging über das Deck hin und setzte sich zu oberst ans hintere Schiffende bei der Fahnenstange, einsam und getrennt von den anderen.

Sobald das Volk an Bord gebracht worden war, wurde die Brigantine im Schlepptau zwischen die Inseln gerudert. Unter dem sacht dahingleitenden Vorderteil spiegelte in der Sommernacht das glänzende Binnenwasser des Sundes den goldenen Löwen wieder.

Die Kanonenschüsse rollten nicht mehr vom Meere her. Langsamer, als ein gebrochener Veteran an der Brücke nach seinem Häuschen wandert, glitt das Schiff zwischen die Schären. Frauen und Kinder, die sich hier unter Büschen und Baumwurzeln verborgen hielten, kamen aus ihren Verstecken hervor. Erfreut, vom Deck die Laute ihrer Muttersprache zu vernehmen, drängten sie sich an die Ufer und Brücken mit unzähligen, bestürmenden Fragen.

»Es ist der ›Schwedische Löwe‹, der heimzieht vom Streit!« antwortete das Volk an Bord.

Da erwachte an der Flaggenstange der alte Karoliner aus seiner Schwermut und richtete sich empor.

»Es ist mehr als das! Reicht mir eure Hände!« sagte er zu den jüngeren Männern und zog sie dicht an sich heran. »Den Hut ab, gutes Volk, den Hut ab. Dieses zerstörte Schiff gleicht Schweden, das mit seiner letzten Schar und seinen Gefallenen sich hinter seine Schären rettet. Wie sehnten sich die Gefangenen, die Hunderte von Meilen weit den sibirischen Flüssen entlang desertierten ... Einsam, verkleidet standen sie auf dem Schiffsdeck der Walfischfänger, die unergründliche Wasserfläche des Eismeeres vor Augen, stündlich Gott in ihren Ängsten anrufend, daß er ihr Lebenslicht nicht verlöschen lassen wolle, ehe sie unter heimatlichem Dache wären. Heimatlichem Dache? Verbrannt liegt es am Boden! Geschlagen, geschlagen ist unser Volk, vertauscht ist unsere Herrschaft, und an den Küsten rauchen die Schutthaufen. Unerforschlicher, ewiger Gott, kommt keine Morgendämmerung? ... Stille, stille, gutes Volk, die Morgendämmerung kommt. Die Gefangenen in den Städten Sibiriens sollen eines Morgens, wenn sie stumm bei ihrem Handwerk sitzen, aufspringen und auf dem Marktplatz eines Ritters gewahr werden, der zum Zeichen des Friedensschlusses die weiße Fahne schwenkt. Die verdursteten Lippen sollen aus dem goldkantigen Glase Friedrichs und Ulrikens trinken und die Weihnachtstische wieder von Frauen ohne Trauerkleider gedeckt werden. Noch einmal wird Heu in Schweden duften! Die Kirchenglocken werden läuten. Ein ganzes Jahr durch werden sie um die Mittagstunde für den Frieden läuten ... und für die Gefallenen. Wo stehen dann wohl die alten Bataillone mit Grothusens Trommel und dem türkischen Seidengewebe in den Fahnen? Und er, der uns zusammenhielt in dem großen Streit und nie an das Zeichen glauben wollte, daß Gott uns verlassen hatte, er, in dessen Heldenwesen all unsere Sehnsucht verborgen lag, – wo lebt er dann? Fragt die Kinder, die singen! – Ach, sie gehen dahin, einer nach dem anderen, die alten Waffenbrüder. Wohin wir in der ganzen Gegend ziehen, zu Fuß oder auf der Postkarre, werden wir durch den Nachtnebel hindurch die weißen, kleinen Kirchen wiedererkennen, woselbst über dem Grab von acht oder zehn starken Söhnen die Steinplatte liegt. Und wo blüht in fremdem Hand ein noch so entlegenes Feld, auf dessen Scholle wir uns nicht setzen könnten und flüstern: Ist dies wohl der Ort, wo einer von den Unseren schlummert, einer von den verbluteten? – In ihrer einfachen Kleidung weilten sie noch eine kurze Stunde bei uns beim Lagerfeuer und gingen dann fort und fielen. So waren sie. So erinnere ich mich ihrer. So leben sie auch im Andenken und in der Sage ihres dankbaren Vaterlandes ... Geliebt sei das Volk, das beim Fall seiner Größe seine Armut zu ehrendem Ansehen gebracht hat vor aller Welt!«


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