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Fredrikshall

Die Landeshauptleute riefen jetzt die Bevölkerung zusammen und rechneten einem jeden fünfzig Taler auf den Tisch, der gutwillig Reiter, und hundert einem jeden, der Fußsoldat wurde. Viele Widerspenstige hieben ihre Finger ab oder schnitten sich mit dem Messer, um zum Kriegsdienst untauglich zu werden, aber sie wurden zu fünfzig Rutenstreichen verurteilt oder zu lebenslänglicher Strafarbeit auf Marstrand gesetzt. Wilde Soldatenhorden zogen Gewalt ausübend durch die Gegenden. Wenn der Bauer ihre Stimmen am Weidenzaun hörte, ließ er die Schlüssel im Schloß stecken und verbarg sich unter Heuhaufen oder floh mit Gesinde und Vieh nach der Wildung hinauf. Zu Stockholm schlossen sich die Ratsherren in ihre Stuben ein, um nicht gesehen und befragt zu werden. Von Gardisten begleitet, streiften die Untersuchungsleute von Tür zu Tür und brachen Keller und Vorratskammern auf, und die Wölfe kamen bis auf die Straßen. Es gab keine Waren in den Kaufläden, kein Getreide in den Mühlen, keine Hände, die den Hammer schwangen, kein frohes Lachen, keine gemütlichen Winterabende um das Feuer des Heimes.

Das ganze Volk war von einer prophetischen Ahnung durchschauert. An der Kirchentür oder in der verschlossenen Stube sprach man davon, daß Gott, der Schweden die Krone des Martyriums aufgesetzt hatte, bald die Dornen abfallen und das Laub in schönem, neuem Frühjahrsgrün ausschlagen lassen werde, und daß der König bald stürbe. Tag für Tag wurde die Botschaft erwartet, daß er gefallen sei, und man wunderte sich nur, daß es so lange dauerte. Alle wußten, daß er an Hecken und Zäunen kämpfte wie ein gemeiner Soldat. Die meisten stellten ihre tägliche Arbeit ein und gingen in Furcht und düsterer Erwartung umher. Ein Ratsherr zu Stockholm klagte schon, daß er nicht wisse, wo man Trauerstoff und Geld für die Beerdigung herbekommen solle. Gelbst Görtz lag jeden Morgen schlaflos, wenn sein Diener mit dem Holz für den Ofen kam. Schweden glich dem zusammenstürzenden Königshaus bei Bender, aber über dieser brennenden Ruinenstadt, wo der Jammer in einem wartenden Schweigen dahinstarb, schossen gleich Sternschnuppen geistreich leuchtende Zukunftspläne und Vereinfachungen, von denen fernsichtige Wahrsager prophezeiten, daß sie erst nach Jahrhunderten eintreten und sich verwirklichen würden.

Zu der Zeit lebte in Uppsala ein bettelnder Studiosus, der Pfarrer werden wollte, aber nie etwas anderes zu tun vermochte, als zu würfeln oder zu raufen, oder zu Hochzeiten und Begräbnissen Verse auf Schwedisch wie Lateinisch zu verfertigen. Er hieß Tolle Aarasson. Hände und Füße waren viel zu schlank und fein für seinen großen Körperbau, aber auch wenn er hungerte, blühte sein bartloses Kindergesicht immer gleich voll und rosig. Keinem Menschen wollte er etwas anhaben, wenn er nur frei wie die Vögel leben, seine eigenen Wege gehen und in Ruhe des Morgens schlafen durfte, aber die Kameraden meinten, daß er zwischen gut und böse nicht unterscheiden könne. Als die Werber eines schönen Sonntags mit ihrem Lärmen in der Stadt begannen, wurde er ganz fromm und verbarg sich mit den leeren Einbanddecken seiner lateinischen Grammatik in den Kirchenbänken. Es war in der Dreifaltigkeitskirche. Mitten wahrend des Gottesdienstes drangen die Werber mit einem Bündel Handschellen auf den Achseln lärmend und dröhnend ein, aber Tolle Aarasson beugte sich über seine leeren Bucheinbände. Er wiegte seinen Leib vor und zurück und sang mit einer Innerlichkeit und Andacht, daß keiner daran dachte, ihn zu nehmen, obgleich er zu dem untauglichen Gelehrtenvolk gehörte, das dem königlichen Plakat gemäß für das Heer ausgewählt werden sollte. Danach fand er es doch für ratsam, sein Bündel über den Rücken zu hängen und auf Abenteuer zu ziehen. Entsetzt sah er sich in dem lieben Vaterlande um, das Pest und Krieg so sehr verödet und verwandelt hatten. War das Schweden, das Land, das seine Väter erbaut und gehütet hatten wie ihren Augapfel, die geliebte, die gefürchtete Großmacht des Nordens? Auf den Wegen traf er jammernde Bauern, die in langen Zwangsfuhren ihre Getreide nach dem Hauptquartier in Norwegen oder bis hinauf nach der Schanze Hjerpe im Jämtland befördern mußten. Umgestürzte Ladungen und tote Pferde lagen auf jeder Anhöhe. Oben auf den verödeten Gehöften der Wälder guckten zerlumpte Herumstreicher aus den Stubenfenstern, und er trug beständig sein Geld im Stiefelschaft versteckt. In der Nähe der Bauerngehöfte standen Schlafbänke, Schlitten und Haustiere auf dem Rasen aufgereiht, und unter Weinen und Wehklagen tönte der Schlag des Auktionshammers an das Türholz. In den Herrschaftsküchen erzählten sich die Diener, wie die Familie des Hausherrn ihr Silber vergrub, denn Görtz hatte jetzt befohlen, daß nicht nur alles wirkliche Geld, sondern auch das Hausgeräte von Edelmetall ausgeliefert werden sollten gegen Notmünzen, auf daß der König das ganze Eigentum der Untertanen bekäme. Tolle Aarasson erfuhr, daß nicht einmal mehr die Prinzessin in Stockholm genug Silberzeug für ihre Tafel habe, und daß der König selbst von Eisenblech esse. In den verlassenen Schmieden, außerhalb deren der Fluß ungehemmt dem Meere zuströmte, an stillstehenden Rädern und geöffneten Dammluken vorbei, plauderte er mit dem einzigen zurückgelassenen Schmied, der zu alt und gebrechlich für das Feldleben war. Er erfuhr, daß, sobald etwas Eisen geschmiedet wurde, es gleich gegen ein Säckchen Notmünzen im Vorratshaus des Reiches aufgelegt werden solle. Am liebsten aber saß er doch und wärmte sich in den Pfarrhäusern, wo seine Bibelkundigkeit und sein Latein ihn gern gesehen machten, und mitunter konnte es geschehen, daß der Pfarrer sich mit ihm bis zur Dämmerung unterhielt. Dabei flüsterte man, es würde erwogen, die Schul- und Armenkasse, ja selbst das Geld der Bank zu nehmen; nicht einmal Schreibfedern und Papier gäbe es noch, und die Ämter müßten geschlossen werden, wenn die Herren nicht die Finger in das Tintenfaß tauchen und auf dem bloßen Tische schreiben wollten. Ein ergrauter Kaplan sagte ihm, daß die Landeshauptleute abgesetzt oder unter Aufseher gestellt würden, wenn sie nicht mehr wüßten, wem sie gehorchen oder befehlen sollten; und der Alte beschrieb, wie er selbst die Bibel und den Predigermantel versetzen und Dünnbier in die Abendmahlskanne habe einschenken müssen.

Auf diese Weise wanderte Tolle Aarasson von Gegend zu Gegend und verdiente mitunter einen Pfennig durch das Mitnehmen von Briefen und Amtsnachrichten. Die Postburschen waren nämlich zum Heer befohlen worden, und die ungestümen Gastwirte wurden Postmeister, aber sie verstanden ihr neues Geschäft nicht, sondern die Mütter und Vaterlosen umdrängten sie täglich vergebens und riefen umsonst nach Briefen ihrer Angehörigen in Sibiriens Urwäldern und Bergwerken. Mitten unter den murrenden Bauersleuten durfte er in der Kirche zu Slätthög mit den Fingern den goldgestickten Ehrenpelz eines Sultans streicheln, der als Altardecke dahing. In der Stadt Kalmar wurde er mit dem Artilleristen Edstedt, der gerade ein Dienstmädchen geheiratet hatte, aber selbst gar kein Mann, sondern ein verkleidetes Fräulein Stalhammer war, Duzbruder. Auf Visingsö spielte er Würfel mit den zerfetzten russischen Kriegsgefangenen, und in Karlshamn bummelte er mit Polacken, Armeniern und Juden und zupfte die feierlichen, türkischen Gläubiger an den Turbantroddeln. Er überredete sie sogar, Wein zu versuchen, schlug aber dann das verunreinigte Glas entzwei, so daß es auf dem Pflaster tönte. Zu Lund hörte er unter den bewaffneten Studenten der aufwiegelnden Rede des Professors Ihre zu und schoß nach dem Professor Rydelius, der den Sturm beschwören wollte. Nachdem er das halbe Land durchstreift hatte, stand er schließlich eines Abends in Göteborg, wo der König auf der Durchreise als Gast bei dem Seeräuber Gatenhjelm abgestiegen war im Haus am Stigbergplatz. Staubig und durstig setzte sich Tolle Aarasson in die Kaffeestube der Dorothea Ek, wo die Bürger laut lachend und weinend sich umarmten und erzählten, daß die entsetzlichen Seeräuber von Madagaskar nun die Erlaubnis erhalten sollten, mit sechzig reichbeladenen Kaperschiffen zu kommen und sich in der Stadt häuslich niederzulassen, um den Gewerben aufzuhelfen.

Da konnte er nicht länger an sich halten und ließ sein Licht leuchten und erzählte auf schwedisch wie auf lateinisch seine Erfahrungen und Abenteuer der Wanderschaft. Bald bemerkte er, daß zwei Männer, die mit aufgeschlagenen Mantelkragen ihm zunächst saßen, zu sprechen aufhörten, um ihm zuzuhören, und das machte ihn nur noch mitteilsamer.

»Jetzt müssen die Schweden die Eisenhandschuh fühlen wie nie zuvor seit der Heidenzeit,« sagte er und betrachtete seine glänzenden Nägel. »Der König hat sein Schwert gegen die Völker nacheinander geführt, und nun wendet er es gegen sein eigenes. Konnte das wohl anders enden? Aber unheimliche Ahnungen werden rings im Volke geflüstert. Er hinterläßt keinen Sohn. Was sollte auch ein solcher Mann mit einem Sohn? Im Pult der Ratsherren liegt schon der Entwurf zu einer englischen Verfassung. Nie sollten wir von einem anderen erdulden, was wir jetzt willig ertragen. Vielleicht morgen ... vielleicht heute abend, während wir uns hier unterhalten, sitzt ein munterer Knecht vor einem Gluthaufen an der Felswand und schmilzt Blei in einem Tiegel ... Vielleicht hält er gerade jetzt in der Kugelschere den schwarzen Tropfen, der für ewig den größten unter den Helden einschläfern soll.«

Ein schon hochbetagter Kaufmann mit dem weißesten Haar und den sorgenschwersten Augen klopfte ihm auf die Hand.

»Wir Menschen urteilen alle nach dem Schmerz in unserer eigenen Wunde, aber laß nun einen alten Mann reden. Wenn unser harter Eisenkönig gleich nie geboren worden wäre, so hätten die stets mächtigeren Nachbarn doch begonnen, dies Reich zu zerstückeln ... Langsam, Jahr für Jahr, Tag für Tag würden unsere Kinder und Kindeskinder unterhandelt haben, gedemütigt und einer Provinz nach der anderen beraubt worden sein. Es wäre nie zur Ruhe, aber auch nie zur Ehre gekommen. Es ist ein lumpiges Schauspiel, einen angebundenen Löwen zu sehen, dem das Blut langsam nach kleinen Fingerhüten ausgesogen wird! So will ich denn lieber mit einem Mal die Flamme in den Wolken und einen Mann vor uns sehen! Wann befahl er uns mehr zu opfern, als er selbst opferte? Hat er nicht gehungert, hat er nicht gefroren, und jetzt breitet sich über uns die Ahnung, daß er auch mit uns fallen wird.«

Tolle Aarasson änderte die Stimme. Er wollte sich nicht verstellen, aber es schien ihm beständig, der, welcher zuletzt sprach, hätte recht.

»Schätzte ich nicht Freiheit und ein gemachtes Bett, so würde ich mich hinter dem König einherschmiegen, um den Mund auf seine Fußspuren in dem norwegischen Schnee drücken zu dürfen. Bald kann es zu spät und die Kugel gegossen sein ...«

Wie er diese Worte aussprach, erhoben sich auf ein heimliches, gegenseitiges Zeichen die beiden Männer, die ihm zunächst saßen; und seine Furcht vor dem Soldatenrock war so groß, daß er erblich, als er blanke Messingknöpfe unter ihren Mänteln bemerkte.

»Mein gewogener Junker!« riefen sie ihm ins Ohr und führten ihn wie einen Gefangenen an beiden Armen, »wenn Er so schmuck reden kann, so ist es auch nicht zu viel Ehre, daß Er in der Nähe stehen darf, wo die Kugel pfeift ... Jetzt haben wir einen aufgeblasenen Vogel auf der Leimrute gefangen! Wir sind Werber, wir, mein Herrchen ... Versteht Er? Und jetzt marsch nach Norwegen!«

»Ich habe all mein Lebtag nach nichts anderem verlangt, als Soldat zu werden!« antwortete er sogleich mit so weicher und freundlicher Bestimmtheit, daß sogar er selbst seinen Worten glaubte. »Jetzt legt nur schön das Werbegeld in meinen Hut!«

So mußte er denn endlich den blauen Rock anziehen, vor dem er eine solche Furcht hegte; und einen Tag nach dem anderen erlebte er neue und unerwartete Begebenheiten mitten in dem Land, wo ehemals der Pflug ruhig seine Furchen in die Erde gegraben hatte. Kaum war er ein Stück oberhalb von Strömstad angekommen, als er große Galeeren auf trockenem Boden zu sehen bekam. Er selbst wurde mit Bauern, Pferden und Ochsen zusammen vor den Steven gespannt, um die Fahrzeuge über die Landzungen zwei und eine halbe Meile bis Idefjord zu schleppen. Zoll für Zoll wurden die Schiffe über Knüppeldämme und Reisighaufen gezogen, des Nachts bei Pechfackeln und des Tags in der Hitze der Julisonne. Ein kleiner Mann in violettem Samtrock und buschiger Perücke und mit breiten Goldspangen an den Schuhen ging aufmunternd zwischen dem Volke hin und her. Es war Emanuel Svedenborg, und Polhem hatte ihm aufgetragen, diese seltsame Tat auszuführen. Als er Tolle Aarassons ansichtig ward, beschattete er seine Augen mit der Hand und sagte:

»Das ist eine der fettesten und blühendsten Gesundheiten, die ich seit vielen Jahren gesehen habe. Verfahrt dennoch nicht zu hart mit diesem Mann, meine lieben Korporale, denn ich erkenne wohl, daß er keine rechte Kraft in den Gliedern besitzt!«

Das war das erste mitleidige Wort, das Tolle Aarasson gehört hatte, seitdem er mit seinen Kameraden in Uppsala angestoßen hatte, und alsbald mußte er mit tränenden Augen die runde Hand vorstrecken und betteln.

»Ich bin ein verunglückter, armer Kerl,« flüsterte er in einem Gemisch von Schwedisch und gelehrtestem Latein, »und ich würde für eine einzige Prise Schnupftabak segnen und danken.«

»Schnupfen und der Krone dienen ist zweierlei!« antwortete Svedenborg ernst und ging weg, aber noch am gleichen Abend, als es zum Ablösen blies, kam er mit seinem Schnupftabakshorn.

»Nimm das ganze Horn und behalt es und sprich nicht weiter davon!« flüsterte er und war wieder verschwunden, wie ein Wanderer, der plötzlich auf dem Wege auftaucht.

Die Menschen sind gut, dachte Tolle Aarasson sofort und versuchte sich in sein Schicksal zu finden. Bald hatte er jedoch seine letzten Kupfergötter und den ganzen Inhalt seines Schnupftabakshornes verschwendet, um sich des Morgens mitunter eine Stunde längeren Schlafes zuzuschwindeln. Alsbald meinte er wieder, daß die Menschen schlecht seien.

Als endlich das letzte Schiff mit seinem goldenen Siegesgott am Vorderteil über Idefjord ins dunkle Meer hinausglitt, wurde er von neuem zum Marsch befohlen. Viele fremde und inländische Offiziere schlossen sich allmählich der Schar an, und von Hof zu Hof wanderte der lange Zug der letzten ausgeschriebenen Söhne des Landes.

Da ereignete sich es eines Mittags bei einer Gastwirtstation, daß Tolle Aarasson hinter einem Wagenschuppen saß und mit dem Hut auf den Knieen schlief. Als die Trommel wirbelte und er erwachte, lag im Hut ein blanker Speziestaler auf einem zusammengefalteten Papier.

Dies war ein unverhoffter Anblick, und er rieb sich die Augen, um zu wissen, ob er träume. Er schlug mit dem Fingerknöchel auf die Münze und wog sie in der Hand. Zuletzt wickelte er das Papier auf und las:

»Zu Tistedahl bei der Möllerhütte steht eine trauerbirke, Armleuchter genannt, denn haben sie drei arme an einem stamm. Falls seine königliche Majestät vor feindes kugeln fällt, du sollen die selbenacht das wunder bezeugen, daß ein beutel liegen mit fünfzig ducaten dicht bei dem Armleuchter in dem erde.«

»Dies Schwedisch hat irgendein ausländischer Teufel geschrieben!« stieß Tolle Aarasson beinahe jammernd und wimmernd hervor und zerriß das Papier in kleine Fetzen, die er um sich herum streute. Er scharrte mit dem Fuß Erde darüber und trat darauf. Sodann steckte er den Speziestaler in die Hosentasche, um zu den anderen zu gehen, aber kaum hatte er einige Schritte gemacht, als er das Geld wieder herausriß, als hätte es seinen Körper und seine Kleider gebrannt. Er warf es weit von sich in den Sumpf hinaus.

Als er sein Gepäck auf den Rücken geschnallt hatte, begann er wieder zu marschieren mit seinem gewöhnlichen Kinderlächeln, als ob vieles in der Welt sehr wunderbar und doch durchaus gleichgültig sei, aber die nächste Nacht träumte er von der weißen Birke mit den drei hohen Armen.

Die waldigen Alpenrücken wurden immer umwölkter, die Wege immer steiler, die Töpfe der Marketender immer leerer, aber keine Mühseligkeiten konnten die Wohlgenährtheit von den runden Wangen und Gliedern Tolle Aarassons nehmen. Die Stiefel fielen in Stücken von seinen Füßen und die Hosen der Krone, die auf ein verhungerndes Heer zugeschnitten worden, waren so unzulänglich, daß er sie über dem Magen mit einer Schnur zusammenbinden mußte. Sein gutes Aussehen und seine leuchtende Stirn ärgerten die abgemagerten Kameraden, so daß sie ihn zu prügeln gelobten, aber darum, daß er einen Kopf höher als jeder andere einherging, wagte zuletzt keiner, ihm zu nahe zu kommen.

Obgleich er nichts verriet, grübelte er vom Morgen bis zum späten Abend über das absonderliche Schreiben. Warum wünschten böse Menschen gerade ihn zu ihrem Werkzeug zu wählen? Er konnte an nichts anderes denken. Als die bestaubte Schar schließlich im Hauptquartier zu Tistedahl unter die Zelte und Reisighütten einzog, blieb er plötzlich stehen, und ohne daß er mehr wußte, was er tat, deutete er auf eine entlaubte Trauerbirke.

»Die Birke, die Birke dort! Das ist der Armleuchter! Ich weiß es ... sie muß so heißen!«

»Hier hast du zu schweigen und zu gehorchen!« antwortete der Korporal und stellte ihn gleich als Flügelmann ins Glied zur Musterung.

Als ihn der Korporal am Arm faßte, fühlte er, daß die Sehnen weich waren, und daß der großgewachsene Rekrut bei seinem Anfassen ohne Kraft wackelte.

»Den hätten wir besser weggelassen!« bezeugte der Korporal. »An dem Kerl ist alles mürb und weich!«

 

An einem Novembertag machten einige Truppenabteilungen in einem Bergpaß halt, und obgleich die Uhr erst drei zeigte, herrschte schon Dämmerung. Braungebrannt von der Steppensonne und noch mit einem türkischen Tabaksbeutel an der Brust, betrachtete mancher gealterte Offizier sinnend das Winterreich, in dessen waldigen Wildnissen das Heer jetzt neuen Abenteuern entgegenzog. Gefangene Buschjäger erzählten wilde Sagen von Waldgöttinnen und Hexengeschrei, und männlich hochgewachsene Frauen mit flachsgelben Haaren kamen des Nachts zum Lagerfeuer und hieben mit ihren Äxten erschöpfte und schlafende Schweden nieder.

Es schneite, und tief unten aus der Kluft warf die Sonne einen goldenen Schein über das Alpengehölz und die hängenden Felsstücke der Bergwand.

Es war ein Heer von bleichen Fünfzehnjährigen, von halbwüchsigen Kindern, die in der Schneewehe bei ihren Waffen standen.

Die kleinen Westgoten mit den scharfen Nasen und den unsteten Augen flüsterten miteinander:

»Der König soll sagen, wenn wir nicht verhungern wollen, so müßten wir die Nahrung aus den norwegischen Bergen graben ...«

»So müssen wir denn wohl graben,« antworteten die Smaaländer gedehnt und klagend.

Die Dalekarlier und Bohusläner stützten sich schwermütig auf ihre Musketenläufe, aber die Bataillone von Södermanland begannen zu murren.

Da hielt der Oberst Rutger Fuchs sein Pferd an und blieb vor der Front stehen. Sein einer Fuß saß schräg im Steigbügel, denn bei Gadebusch, wo man ihn vom Schlachtfeld getragen, war ihm das Bein von einer Kugel zerschmettert worden.

»Pfui, ihr Södermanländer!« rief er mit seinem Schonendialekt. »Bekommt ihr nicht Zukost zum Brot der Krone, ihr Butterbuben, so fangt ihr gleich an zu knurren. Ich höre, daß ihr alle verzagt seid. Aber nun gilt es tapfer ertragen, denn das sage ich euch, daß zu keinen Zeiten die schwedischen Männer mehr einem solchen Helden dienen werden wie unserem königlichen Herrn, und willig lasse ich für ihn mein Blut. Seht auf mich! Wie nennt man mich? Nun, heraus damit!«

»Den reichen Fuchs!« antworteten die Soldaten einmütig, und ihre Züge leuchteten.

»Das stimmt. All mein Lebtag habe ich der reiche Fuchs geheißen ... Nun ja, worin liegt denn Fuchsens Reichtum? Wer heraustreten und antworten kann, bekommt zwei Rundstücke.«

Keiner wagte sich vor.

Da zog der reiche Fuchs seine Brieftasche aus der Brust und schlug nach und blätterte in den Seiten und hielt folgende Rede:

»Was Teufel will das heißen, reich zu sein! Das ist eine Buchführungssache, Kinder. Glaubt ihr vielleicht, daß alles Eigentum zinsbringend sei? Ja, versucht! Jetzt hört zu, was ich lese! Schulden: Null, Null. Das ist die erste Hälfte von Fuchsens Reichtum. Dann haben wir des seligen Schlippenbach Schlafrock ... Habt ihr schon den seligen Schlippenbach vergessen, euren früheren Oberst, der mir sowohl seinen Schlafrock als auch sein Regiment im Testament vermachte, die zwei liebsten Gegenstände, die er auf der Welt besaß? Der Schlafrock ist mir so wertvoll, daß ich ihn nicht für weniger als fünftausend Reichstaler verkaufen wollte. Da ist er denn auch für mich gerade die Summe wert. Demnach, hört nun zu! Vermögen:

Des seligen Schlippenbach Schlafrock: fünftausend Reichstaler,

Sörmlands Regiment: zehntausend Reichstaler,

meine geliebte Frau Greta, daheim: siebzigtausend Reichstaler,

der Köter von Holstein: tausend Reichstaler,

meines königlichen Herrn Gnade: achtzigtausend Reichstaler,

das Wirtshaus zum Goldesel: zweitausend Reichstaler ...

Hol' mich der Teufel, ist das nicht alles niedrig gerechnet, aber es ist auch das einzige, was ich in der Welt habe. Nun, was ist denn das Wirtshaus zum Goldesel für ein Ding?«

»Es ist des gnädigen Herrn Oberst Leinwandzelt!« murmelten alle Soldaten durcheinander.

»Ganz recht, ja! In dem Wirtshaus bekommt jederman das Frühstück umsonst, denn es ist nicht das geringste zu bekommen ... Laßt uns nun rechnen! Summe des Vermögens: einhundertachtundsechzigtausend Reichstaler. Aber war Null Null Schulden die Hälfte meines Reichstums, so muß ja die Hälfte auch einhundertachtundsechzigtausend wert sein. Folglich und beweislich habe ich somit, zusammengelegt, dreihundertsechsunddreißigtausend Reichstaler. Seht ihr. Jungen, das ist, was Görtz Finanzen nennt, und solches ist nützlich zu können, begreift ihr. Lernt nur, Buch zu führen und den richtigen Wert auf alles zu setzen, dann seid ihr schön reich und braucht nicht den Kopf zu hängen, wenn der Magen auch knurrt.«

»Vivat! Vivat, der reiche Fuchs!« schallte es die Reihen entlang, aber im gleichen Augenblick flogen alle Degen aus den Scheiden. Die Musketen präsentierten, und die Trommeln donnerten. In dem Schein an der Felswand bewegte sich der hohe, vergrößerte Schatten eines hinkenden Mannes mit runder Pelzmütze auf dem Kopf und einem knotigen Stock in der Hand.

Es war der König.

Er kam zwischen den Föhren, von Trabanten gefolgt, die, ihre Haudegen gezogen, in langer Reihe ihre Pferde führten. Er selbst ging zu vorderst und bahnte den Weg im Schnee. Sein narbiges und zusammengebissenes Gesicht war mit den Jahren durch Sonne und Frost in der Farbe dunkel geworden, und zwischen den Augenbrauen lag eine tiefe Falte. Als er die Pelzmütze unter den Arm steckte und nach allen Seiten hin die Begrüßung der Truppen erwiderte, fiel der Schnee über sein kahles Haupt. Die Generale versammelten sich allmählich um ihn, und die Trabanten hieben mit den Degen einige Föhrenzweige ab und breiteten sie auf den Boden. Während der ganzen Zeit stand er barhäuptig im Schneewirbel, und die ergrauten und an der Schläfe zurückgestrichenen Haarsträhnen glichen zuletzt einem Kranz bereifter Blätter. Er befahl den Soldaten, die Musketen zusammenzustellen und den Reisighaufen anzuzünden, aber die Musikanten blieben an der Felswand stehen, mit der Order, bis Sonnenuntergang zu spielen.

»Die Norweger sind ein lustiges Volk, um sich mit ihnen zu stoßen,« sagte der König. »Solche Männer wie ihr, Kruse und Kolbjörnsen, sollten, wenn sie fallen, in Goldsärgen begraben werden.«

Der Feldmarschall Mörner antwortete:

»Wir haben gerade neuerdings einige norwegische Schnapphähne eingefangen, die hier in den Büschen versteckt lagen, um auf Eure Majestät zu schießen. Sollen wir sie henken?«

»Nein. Gib einem jeden einen Dukaten für vergeudete Zeit, und bitte sie, nicht weiter in das Soldatenhandwerk zu pfuschen.«

Mörner ließ die Stimme sinken.

»Es gibt auch andere, mit Höherem betraute Buschkriecher. Ich habe vorhin von Pfarrer Brenner einen neuen Angebebrief erhalten über heimliche Verschwörung gegen Krone und Leben. Sollte man ihm Glauben schenken, so stünden in diesem Augenblick auf kaum fünf Armlängen Abstand gefährliche Feinde hier herum.«

»So mögen sie stehen, wenn es ihnen nicht behagt, zu sitzen. In Kriegstagen ist keine Zeit zum Untersuchen.«

Mörners Zwerg, Luxemburg, trat jetzt mit der Wasserflasche vor. Als der König getrunken hatte, reichte er dem Zwerg seinen abgenutzten Wacholderstock, wie um den Kleinen auszurüsten, und sagte zu ihm:

»Ein Türk hat mir geweissagt, ich solle mich vor Narren hüten. Du kannst nun erproben, ob ich recht habe.«

Luxemburg nahm den Stock und zupfte und spielte auf ihm wie auf einer Gitarre und stimmte eine französische Liebesweise an.

Mörner trat dann dem König näher und flüsterte hinter dem Hut:

»Die Mannschaft verhungert.«

»Möge der Soldat treu seinen Dienst tun.«

»Aber ein ausgehungerter Soldat läßt die Muskete fallen.«

»Wenn man Schnee schmelzt, wird er zu Wasser, Wenn man auf einen Tannenzweig beißt, kann der Hunger sehr wohl für lange Zeit betäubt werden.«

»Das Volk hier haben wir wenigstens unter den Augen ... Aber die Leute daheim ... Die Pfarrer lehren jetzt offen von der Kanzel, die Rache von oben herabzurufen. Sie meinen, seitdem Gott die Schweden geschlagen und das Zeichen gegeben hat, daß ihr Reich zerstückt werden muß, fechte Eure Majestät für die eigne Ehre allein.«

»Sind denn ihre Ehre und die meine zwei getrennte Dinge geworden? Sie trotzten, und ich antwortete. Ich will sie zwingen, bis zum äußersten auszuhalten. Ist es nicht ebensowohl für ihre Schuld als für die meine? Sie sagen, daß ich Gott versuche. Ich antworte, daß ich ihm folge. Das ist mein Königswort! Im Namen der Gerechtigkeit, das ist mein Eid! Wer ist Schiedsrichter?«

Mit diesen Worten setzte der König die Pelzmütze auf, schlug den Mantelkragen in die Höhe und legte sich so ruhig zum Schlafen auf die Tannenzweige, als wäre kein Feind auf Gottes Erdboden zu finden gewesen.

Düker rief mit Eifer den Offizieren seine Befehle zu. Mörner schlief, stehend gegen eine Föhre gelehnt, ohne länger den Einfällen des kleinen Cronstedt zuhören zu können, und der verschmitzte Stjernroos, der ausgewesen war und spioniert hatte, kam, in eine Schafpelzjacke verkleidet, mit Holzschuhen und mit einem Fäßchen auf dem Rücken. Selbst der König schlief schon regungslos, ohne einen Gedanken an Brief und Drohung. Er hatte sich seinen Soldaten anvertraut.

Aber es waren zwei Augen, die ihm folgten. Tolle Aarasson, der am vorhergehenden Tage in das Regiment Södermanland gesteckt worden war als Korporal und Führer für die Holzhauer, konnte sich nicht zwingen, von dem Schlafenden wegzuschauen. Die Worte des reichen Fuchs lagen ihm noch im Sinn.

»Ich könnte vielleicht auch ein Haushaltungsbuch führen,« dachte er. »Fünfzig Dukaten in der Erde bei der Armleuchterbirke!«

Er stierte mit seinen klaren und freundlichen Augen so starr auf den König, daß er nicht merkte, wie der reiche Fuchs ihm auf den Leib rückte.

»Was ist's mit ihm?« sagte Fuchs und klopfte ihm seelengut auf die Schulter. »Hier ist ein Rapport nach Tistedal, denn jetzt sollen wir hinauf gegen die Festung Fredriksten und tüchtig einheizen. Nimm zwei Mann und zwei Bündel Kienspäne zum Leuchten mit ... und lauf' rasch! Wer einen so prächtigen Mundvorrat unter der Haut hat, braucht weder zu biwakieren, noch öfter als jede dritte Nacht zu essen, wenn er nur mit Gottes Gaben weiter hauszuhalten weiß.«

Tolle Aarasson begab sich mit seinen zwei Soldaten abseits in den Wald hinein, aber noch in weitem Abstand wendete er sich zwischen den Tannen um und sah nach dem König.

Als er bei Tagesanbruch zum Dorf Tistedal kam, blieb er unter der Armleuchterbirke stehen und steckte den letzten Kienspan in den Boden, mit dem brennenden Ende nach unten.

»Ich bin weit umhergestrichen, um zu studieren und zu lernen,« sagte er zu den Soldaten. »Ich bin guten wie schlechten Menschen begegnet. Ob wohl die Tiere und Bäume auch gut und böse sein können? Bei jeder Mittagsrast, wenn ich mit den Holzhauern aus gewesen bin, habe ich mich zum Schlafen hierher gelegt, aber nie kam mir ein Schlummer in die Augen. Es lastet ein Fluch auf dem Baum! Seht ihr, da oben in den einen Ast habe ich eine Axt fest eingehauen. Es wird ein Morgen kommen, da setze ich die Axt an die Wurzel ...«

Er blieb noch zurück und betrachtete den erlöschenden Kienspan.

»Gute Menschen und böse, sagte ich ... Nie sah ich einen herrlicheren Mann als unseren großen König, aber die Jahre machen ihn immer strenger und härter. Er hat weder mit dem Wimmern der Tiere noch mit dem der Menschen Mitleid. Ein Jammerschrei kann ihn nicht einmal verlocken, den Kopf zu wenden. Sein Winter mit dem langsamen Tod ist gekommen. Wie würden wir ihn beweint haben, wenn er in seinen jungen Jahren hätte fallen dürfen! Keine Zeit würde einen größeren und reineren Mann gegrüßt haben als die seine. Seht diesen Kienspan, wie langsam er erlischt, wie er raucht und die Luft verpestet mit seinem feuchten Brandgeruch! Warum nicht lieber mit einer einzigen kleinen Handbewegung ihn tief hinunterdrücken, ohne Säumen ... daß er noch hell glühend in die Erde kommt ...«

Die Soldaten verstanden ihn nicht, sondern antworteten schließlich:

»Möge unserem geliebten Herrn und König nie etwas Böses geschehen!«

Er tat ein paar Schritte, um ihnen zu folgen, aber die Armleuchterbirke streckte beschwörend ihre Äste über ihn, und er blieb abermals stehen und sprach mit sich selbst:

»Wer denkt an Böses? Tolle Aarasson faßt die Muskete, er der Verachtete, der Ausgestoßene, der von Hof zu Hof hat wandern müssen, um das Gnadenbrot zu erbetteln. Er faßt die Muskete und legt den Finger auf den Hahn. Der Schuß wird das ganze Volk zur Versöhnung rufen, wenn auch alle Kanonen von Fredriksten durch die Nacht donnern, niemand wird sie hören. Die Soldaten werden finden, daß es so still ist wie auf einem entlegenen, zugefrorenen Alpsee. Sie werden nur den einzigen Schuß hören. Der wird Nacht um Nacht, Tag um Tag widerhallen, so lange die Menschen auf der Erde leben. Wenn ich die fünfzig Dukaten ausgegraben habe, werde ich zu den Generalen vortreten und alle Geldstücke über ihre Hüte und Perücken werfen und sagen: Heraus mit den Handschellen, gute Herren! Hier habt ihr das Trinkgeld für die Bemühung. Trinkt meine Gesundheit mit echtem Wein! Ich bin es, der Seine Königliche Majestät erschossen hat! Von euch wird niemand reden, aber so lange sein Name lebt, so lange lebt der meine. – Und dann werden die Handschellen zusammengeschraubt. Ich werde auf den Henkerskarren gesetzt und fahre die Götegatan hinauf in Stockholm, aber es wird kein Fenster, keinen Treppenabsatz, kein Dach geben, wo die Menschen sich nicht drängen werden, um Tolle Aarasson zu sehen. Und auf den Herrenhöfen, wo ich am Küchentisch zu essen bekam, und in den Pfarrhäusern, wo ich mich für einen Teller Biersuppe verbeugen mußte, da wird es heißen: In dem Stuhl saß Tolle Aarasson, aus der Pfeife rauchte Tolle Aarasson, auf diesem Türgriff hielt er den Finger, der den Schuß abdrückte. Die Studenten in Uppsala, die hochmütigen, die falschen Freunde, die sich zuletzt für zu gut hielten, um mich eine Regennacht über zu beherbergen ... sie werden altern, sie werden weiß werden auf dem Schädel, aber nie werden sie ermüden, zu sagen: Wir kannten Tolle Aarasson, wir nannten ihn du. – So wird es gehen. Und so oft ein Reisewagen in die Stadt Stockholm einfährt, wird der eine Herr durch das Fenster zeigen und sagen: Hier ist der Galgenhügel! – Es können hundert Hingerichtete in dem Acker liegen, aber er wird nur sagen: Da liegt Tolle Aarasson, der elende Lump! – Und dann antworten die anderen Herren: Der Volksbefreier!«

Tolle Aarasson hob den Arm, um sich zu stützen, aber in dem Augenblick, wo er die Hand gegen die glatte, kalte Rinde des Birkenstammes lehnte, riß er sie mit einem unterdrückten Ruf des Entsetzens zurück.

Die Soldaten blieben stehen und wendeten sich um. Er winkte ihnen zu, weiter zu gehen, und folgte ihnen nach, aber er war bleich geworden wie ein toter Mann.

 

Der König hatte sich auf dem Bergrücken vor dem Laufgraben der Festung eine Bretterhütte erbauen lassen, und ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl wurden dorthin gebracht. Keine Soldaten standen mit geladenen Musketen Posten an der Tür, und der wachthabende Adjutant wurde oft in verschiedenen Angelegenheiten fortgeschickt. Der König überwand sogar seine frühere Scheu vor der Einsamkeit der Nacht und ließ nicht länger mehr zu, daß ein Page neben seinem Bette schlief. Erschöpft von des Tages Mühen, schlief er mitunter draußen auf dem Walle ein, mitten vor den feindlichen Kanonen und den in dem Laufgraben arbeitenden Soldaten. Jeder hätte in der Dunkelheit sich zu ihm schleichen und sein Leben mit einem Degenstoß auslöschen können. Die schlaflosen und angsterfüllten Nächte der Ukraine nach dem ersten zerschmetternden Schlage des Schicksales waren nur noch als Narbe in der Falte zwischen den Augenbrauen zurückgeblieben. Er hatte seine Seele in Mißgeschicken so abgehärtet wie seinen Körper in Strapazen. Er grübelte keine Minute mehr über die Gefahr, aber er wußte, daß sie näher als je ihre schwarze Wolke über sein Haupt gehängt hatte, und dies erfüllte ihn mit der getrosten Ruhe einer entschwundenen Jugend. Sein Stimme war hart geworden, aber die befehlende Ruhe entzündete ihren verjüngenden Glanz in seinen Augen. Alles, alles, was Elend und Untergang Finstres verbergen, erhob sich rings um ihn, und er stützte sich auf seinen Wacholderstock, und oftmals ungeduldig scheltend, leitete er die Arbeit der Soldaten.

Zeitweise betrachtete er den Himmel und suchte die Sternbilder heraus, die er kannte, aber wenn der Nebel sich senkte und die Dunkelheit tiefer wurde, schloß er mitunter die Augen und rechnete an den Fingern: Dreihundert ... dreihundertfünfundachtzig ... neunzig ... vierundneunzig ... vierhunderttausend Reichstaler! – Ob Görtz wirklich so viel bis Dezember würde auftreiben können? Wie sollte wohl sonst das Heer instand gehalten werden? Und ob wohl Görtz schon innerhalb zweier Tage ankommen würde? War es nicht die Erwartung seiner Ankunft, die im Lager solche Aufregung verbreitete? Was war in der Beziehung zu tun? Der König kannte keine Skrupel, denn er war ein Wegelagerer geworden, der Geld und Eigentum verachtete. Hatten ihn die Schweden nicht einen Verrückten genannt und die Hand nach seiner Krone ausgestreckt? Nun wohl, das verzieh er ihnen, seitdem er ihnen geantwortet hatte; aber bis zum äußersten wollte er sie zusammenhalten, wenn auch Grund und Boden brennen sollte. War das nicht der Auftrag, war das nicht das Gottesgebot, das er in seiner Seele beschworen hatte? Es war jetzt keine Zeit für Faulenzer, die am liebsten daheim in ihren Lukenbetten lagen. Und Görtzens Plakat, das auf jedem Gemeindehaus seinen königlichen Namen unter Meineiden von Frieden und dem Wohl der Untertanen hatte prahlen lassen? Wo hatte er während seines Feldzuges die Fürsten in der Stunde der Not wohl anders handeln sehen? Und waren sie nicht dennoch weise und gut genannt worden, wenn es ihnen geglückt war? Wenn der Sturm vorüber war, wollte er Gericht halten und Recht schaffen. Strenge hatte er befohlen, nie mit Wissen Ungerechtigkeit. Nun galt es, die Festung Fredriksten zu erobern, die vor ihm auf dem Felsrücken mit ihren grauen Mauern und den scharfen Ecken den Weg nach Norwegen hinauf verschloß. War nicht das Außenwerk Gyldenlöw schon mit dem Degen in der Hand genommen? – Mit dem Degen in der Hand? – Er schloß die Augen, wie er oft zu tun pflegte, wenn er ungesehen war, und wiederholte leise die Worte. – Sie meinen, daß ich dich versuche, ewiger, wunderlicher Gott, heiliger Geist, meine Freude, meine Wonne, mein Labsal. Immerzu sagen sie: bleib' auf halbem Wege stehen, wo wir stehen bleiben, sonst versuchest du Gott; setze dich nieder, wo wir ermatten, sonst nennen wir dich nicht länger unseren Gideon. – Du, der du Schiedsrichter bist, vor dir demütige ich mich in meiner Not, ich zerknirschter Sünder. Bin ich jetzt irre gegangen auf der Erde, so schlage mich tot darnieder!«

»Der König ist auf seinem Posten eingeschlafen,« sagten die Soldaten, als sie ihn mit gesenktem Haupt und dem heruntergezogenen Hute sahen.

Er hörte sie, sah auf und antwortete:

»Noch nicht!«

Am ersten Sonntag in Advent stieg der König zu Pferd und ritt durch den Nebel nach dem Möllerhäuschen in Tistedal hinunter. Er war trüben Sinnes, und um seine Schwermut zu übermannen, setzte er sich auf die Bank am Kaminfeuer und sah seine Papiere durch. Es waren Bittschriften und alte Briefe und durchkreuzte Rechnungen, noch von dem Aufenthalt in Lund. Seine Augen blieben schließlich auf zwei Halbbogen haften, die mit einer Messingnadel aneinander befestigt und mit seiner eigenen schwerleserlichen Schrift beschrieben waren. Er las:

» Anthropologia Physica. Der natürliche Trieb alles Lebendigen ist das, was Passion oder Genuß der Wollust genannt wird. Die Wollust ist von zweierlei Art, nämlich Wollust der Seele und des Körpers. Wollust der Seele wird die genannt, an der der Körper keinen Teil haben kann. Aber Wollust des Körpers wird die genannt, die der Körper mitsamt der Seele fühlt ... Die drei Teile des Körpers sind: die materielle Gestalt, wodurch die Figur des Körpers mit ihren äußeren und inneren Teilen geformt wird; die fließende Materie, die aus dem Blut mit dem, was dazu gehört, besteht; der materielle Spiritus oder Geist, als die allerfeinsten Teile der materiellen Wesenheit, ist die Kraft und das Lebendige in dem Blute selbst und empfängt das Leben und die Empfindung von den lebendigen Geist oder Seele, und dieselben verursachen den ganzen Leib. Dieser vergeht auch von sich selbst, so bald irgend ein Körper oder Glied abstirbt ... Die Ursache, warum die Seele beider Wollusten teilhaftig ist, und daß der Körper einzig und allein die fleischliche Wollust fühlt, ist die, daß das Leben eigentlich eine Eigenschaft der Seele ist, da es der Leib, der in sich selbst eine tote Wesenheit ist, durch der Seele Werk empfängt ... Das, was gemeiniglich unter dem Namen der fünf Sinne verstanden wird, besteht nur in einem, was Empfindung genannt wird, und ist eine Wirkung der Seele, die, nach einer jeglichen Beschaffenheit des Körpers und der Gestaltung, sich auf fünferlei Weise dartut ...«

Er stand von der Bank auf und faßte den eintretenden Feldmarschall Mörner am Gürtel.

»Wäre Mörner nicht ein gleich schlechter Philosoph, als er guter Hausvater ist, so würde er hier eine schwere Nuß zu knacken bekommen. Nein, lies das Geschriebene nicht ... es sind nur einige Lappalien, die ich eines Abends da unten in Lund aufsetzte. Immer, wenn ich nach einiger Zeit den Gedankenbau wiedersehe, den ich aufzurichten versuchte, bekomme ich Lust, mich als Feind zu verkleiden und meine eigene Redoute zu stürmen. Ob wirklich das Vergnügen des Gedankens in dem Gefecht selbst liegt? Die Wollust, die Glückseligkeit, die vollkommene Zufriedenheit ... wäre das das Lebensziel, dann wäre das Ziel etwas Endliches, ein Stück klares und blankes, aber totes und regungsloses Gold. Warum das Leben als eine Basis betrachten, und oberhalb derselben die Zwecke sammeln wie ein Bündel Linien in einer Winkelspitze, in einem einzigen Punkt? Warum nicht das Leben zu dem Punkt machen, aus dem die Zwecke ausstrahlen wie unendliche Linien, wie Stamm und Äste an einem Baum, dessen Krone in Ewigkeit immer weiter und belaubter wird? Warum nicht sagen: es gibt kein Schlußziel, aber Billionen Zwecke, die sich, ein jeder für sich, in Unendlichkeit zu Billionen neuer auseinanderzweigen? Wie viel größer wird dann doch das irdische Leben jedes einzelnen Menschen!«

Mörner antwortete:

»Eure Majestät sind ein schwerer Zweikämpfer in gelehrten Disputationen, und nie höre ich meinen gnädigen Herrn so beredt wie in derlei Fehden, aber ich kann nicht wie Grothusen selig die Spitze bieten. Ich kann nur dies antworten: Wenn aus einem Erdenleben in das Unendliche Äste emporwachsen, dann birgt auch die kleinste Handlung der Stunde eine ewige Verantwortung ...«

Er riß seinen Rock mit Eifer auf und reichte dem König einige versiegelte Briefe hin.

»Bedenkt, Majestät, auch die lumpigste Anzeige kann wahr sein und für Jahre die Sense aus der Hand des Sensenmannes schlagen.«

Der König kannte im voraus diese Schriftstücke, die mit zierlich geschriebenen Druckbuchstaben und ohne Unterschrift seine Nächsten anschwärzten und ihm einen plötzlichen Tod voraussagten. Die Drohung mit dem Tod ängstigte ihn nicht mehr als das Schwirren einer Kugel. War er nicht sozusagen seit seinen Knabenjahren jeden Morgen aufgewacht, bereit, vor dem Dunkelwerden unter den Gefallenen auf dem Feld zu liegen. Er warf die drei Briefe unerbrochen ins Feuer, einen nach dem anderen, und stand in dem niedrigen Möllerhäuschen so ruhig, als hätte sein letztes Heer erschöpfter und ausgehungerter Jünglinge alle Kronen Europas auf einem Troßwagen mitgeführt.

»Antworte mir aufrichtig!« sagte er nach einigem Schweigen. »Auf wie viele kann ich mich noch verlassen ... ich meine nicht in einem Treffen ... sondern wenn alles gegen uns geht?«

»Muß ich antworten? Ist es Befehl?«

»Ja, auf wie viele kann ich mich noch verlassen?«

»Auf keinen!«

Die Trommeln rollten dumpf außerhalb des Häuschens, wo die Truppen zum Gottesdienst aufmarschierten, und Hultman trat mit den Worten herein:

»Ich muß untertänig melden, daß die Hochmesse jetzt beginnen wird, der Text des Tages handelt von unseres Herrn Christi Einritt in Jerusalem.«

Der König wusch nun allen Ruß von Gesicht und Händen und zog beinah neue Kleider aus blauem Stoff und gelbe Elchlederhandschuhe an. Während Hultman sein Haar puderte, so daß es weiß wurde wie das eines Greises, stützte er einen Fuß auf das Holz im Kamin und sagte ganz leise und hauptsächlich zu sich selbst:

»Der Text ist mir ganz lieb – Aber das Volk breitete die Kleider auf den Weg, und andere hieben Zweige von den Bäumen, und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das voranging und nachkam, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne Davids! Gelobet sei, der da kommet im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!«

»Ja, ja, gnädigster Herr,« antwortete Hultman beinahe flüsternd, »so sollen auch die Heiligen rufen, jedesmal wenn ein rechtschaffener Held Gottes in das himmlische Salem einreitet.«

Dann wendete sich der König vom Feuer weg und schritt hinaus zu den Truppen. Mit entblößtem Haupt stellte er sich unter die Armleuchterbirke. Die Soldaten, die es gewohnt waren, seinen Wacholderstock und seine befleckte Kleidung zu lieben, erkannten ihn kaum wieder.

Den ganzen Tag blieb er im Lager, und erst nach dem Abendgottesdienst, wenn der Nebel zu sinken begann, ritt er auf seinem Pferd »Engländer« den waldigen Bergrücken hinauf bis zur Bretterhütte am Laufgraben.

Tolle Aarasson arbeitete mit seinen Soldaten in dem äußersten Graben. Von dem Franzosen Maigret angeführt, krochen die Schweden mit ihren Spaten voran und rollten Schritt für Schritt die Reisigbündel und Schanzkörbe vor sich her, zum Schutz gegen die Kugeln der Festung. Der Widerhall des feindlichen Feuers donnerte in den Alpen wie das Getöse von Riegeln und Schlössern, wie Keulenschläge auf Eisenpforten zu unterirdischen Gefängnissen und Gewölben.

Um ihre Schüsse lenken und sich vor Überrumpelung schützen zu können, stellte die Mannschaft lange Stangen mit brennenden Pechfackeln aus, und die darumgeschlungenen Leuchtkugeln warfen ihr plötzliches Licht über die Felsenplatten. Feuer und Rauch sprühte aus den Festungsmauern Fredrikstens, und oberhalb des mit Rasen belegten Walles der Schweden erkannte Tolle Aarasson des Königs großen Hut und seinen kleinen Kopf.

Unten im Schatten des Grabens verborgen, riß er die Muskete eines gefallenen Kameraden an sich und ging gekauert ein Stück gegen den Erdwall zurück. Erst als er so nahe gekommen war, daß er des Königs Worte an die Offiziere hören konnte, die im Graben auf der anderen Seite des Walles standen, blieb er stehen.

»Sonderbar!« dachte er. »In den Laufgräben hier fallen fast jede Nacht eine Menge Soldaten ... Woher kommt da die Macht, Hunderte von Menschen zwingen zu können hier stehen zu bleiben und zu fallen, ohne daß sie wagten, einander die drei einfachen Worte zuzurufen: Wir gehorchen nicht!...«

Er wollte knieen und den Himmel um Verzeihung bitten und sich selbst einreden, daß seine Handlung gerecht sei, aber er vermochte es nicht. Er wußte nie, was er selbst wollte; und wenn ein Kind ihm zugerufen hätte, die Muskete hinzuwerfen, würde er gehorcht und den Rat gelobt haben. Aber niemand redete ihn an, und niemand sah ihn, und er fürchtete sich nur, weiter zu zögern, seine eigene angstvolle Ungewißheit zu verlängern. Er spannte den Hahn. Er legte die Muskete an die Backe. Er zielte nach dem, für den er seine Landsleute unterwürfig fallen und verbluten sah ... Aber der Finger lag zitternd und lahm am Drücker.

Schritte näherten sich. Es war der grauhaarige Hultman, der in Knöpfschuhen und weißen Strümpfen und den Hut ehrfurchtsvoll unter den Arm gesteckt, über die Felsen kam, mitten zwischen den schwirrenden Stückkugeln, vor sich trug er die mit einer Serviette zugedeckte Blechschüssel, die des Königs Abendessen enthielt. Sobald er den Wall heraufgekommen war, breitete er die Serviette über den Hut, stellte sodann die Schüssel darauf und bot sie dem König an, der stehend speiste und hin und wieder seinen treuen Diener am Rockknopf packte. Tolle Aarasson senkte die Muskete und hörte ihn sagen:

»Hultman fängt an im Gang ebenso steif zu werden, wie der alte Brandklepper es auf seine alten Tage war ... Aber niemand ist mir treuer gefolgt, wohin es auch ging, und deshalb ernenne ich ihn auf der Stelle zum Küchenmeister. Mit den Jahren bleiben immer weniger der Alten von ehedem übrig...«

»Gott, barmherziger Gott!« murmelte Tolle Aarasson und wiegte mit der Muskete in den Armen hin und her.

Er sah, wie Hultman wieder seinen Weg durch den Kugelregen machte und der König, die Wange gegen die linke Hand gestützt, sich über den Wall hinüber lehnte. Der Mond, der in seiner Fülle stand, stieg jetzt klar und groß über dem Fichtenwald empor.

Schwedische, deutsche, italienische und französische Offiziere unterhielten sich nahebei in ihren verschiedenen Sprachen und ratschlagten, wie sie den König von seinem bloßgestellten Posten herunterlocken könnten. Maigret, der jetzt auch dazu gekommen war, zog ihn leise am Mantel und sagte:

»Dies ist kein Posten für Eure Majestät ... Kartätschen und Musketenkugeln haben nicht mehr Achtung vor einem König als vor dem gemeinsten Soldaten.«

Da hob Tolle Aarasson die Muskete wieder mit beiden Armen. Er warf sie zu Boden, daß der Schuß abbrannte und der Knall in dem Krachen des feindlichen Feuers erstarb.

»Nie,« stammelte er. »Niemals! Ein schwedisch, geborener Mann kann das nie, warteten auch fünfzig Dukaten unter jeder Birke Norwegens. Dann lieber desertieren oder selbst fallen. Was frage ich nach den Dukaten ... Es war sein Leben, das ich nehmen wollte ... Und ich vermag es nicht! Ich könnte es erst, wenn ich die Augen zumachte. Gibt's hier keinen fremden Scharfschützen, der mit geschlossenen Augen einen König erschießen kann?«

Tolle Aarasson merkte nicht, daß der Mond schon in den Graben hineinschien und seinen eigenen Schatten mit den runden Gliedern und den lächelnden Knabenwangen auf den Abhang des Walles warf.

»Was machst du hier, mein Lieber?« fragte der König. »Immer voran und auf den Feind los!«

Tolle Aarasson fuhr empor, drehte sich auf dem Absatz herum und begann auf die Festung los zumarschieren. Hinter sich hörte er noch, wie die Offiziere den König ermahnten, herunterzusteigen.

Der König antwortete ihnen:

»Fürchtet nichts!«

Da griff Tolle Aarasson nach den Hutecken, ohne länger zu wissen, was er tat, und fing an über Schanzkörbe und Reisighaufen zu springen, immer vorwärts und auf den Feind los. Viele schwedische Soldaten, die ihn sahen, standen auf, um ihm zu folgen und zu desertieren. Er blieb stehen und schlug mit der Hand nach ihnen, und jedesmal, wenn er sich umdrehte, erkannte er den König auf dem Wall. Warum ergriff er da nicht einen Spaten und fing an zu graben. Das war es doch wohl, was der König gemeint hatte. Statt dessen lief er immer heftiger und blinder, und zuletzt wußte er nicht, ob er dies tat, um zu gehorchen, oder um zu desertieren. Er suchte Schutz hinter Baumstümpfen und in Klüften, aber dennoch kam er der Festung immer näher. Seine weichen Glieder bluteten schon aus drei Wunden, aber er achtete nicht auf die warmen Tropfen, die unter dem Handschuh herunterflossen, sondern sagte Gebete und Psalmen her und nannte sich einen ewig verlorenen Verbrecher, der über den Verkauf seiner Seele gebrütet hätte.

Er kam an ein entzweigeschossenes Außenwerk von geringer Größe, das verlassen schien, aber als er Stimmen norwegischer Soldaten hörte, verbarg er sich zwischen den Schanzkörben.

Einige Schritte von ihm entfernt, stand ein Feldstück auf zerstörten Rädern, braunrot vom Rost und mit der Mündung gegen des Königs Wall. Es war mit Grieß und altem Eisenschrot geladen. Angefressene Musketenkugeln lagen da, die vor hundert Jahren ein betrunkener Seeräuber gleichgültig in seiner Kugelzange gegossen hatte, während er ein liederliches Lied für seine Dirne summte. Verbogene Schlüssel und Nägel lagen da, die vor langen Zeiten aus der Scheune eines Bauern gefallen waren, und zu hinterst lag ein zusammengebogener Klöppel, der einst in dem sonnigen Hochgebirge in einer Kuhschelle beim Walljodeln der Mägde geläutet hatte.

Lange, zerrissene Wolken eilten weißschimmernd über den Mond, und Tolle Aarasson lag zwischen den Schanzkörben, blutend, mit gefalteten Händen.

»Dies ist so eine Nacht,« stammelte er, »da der Himmel weit offen steht und Gott die Erde in so tiefen Gedanken betrachtet, daß die Menschen seinen Blick fühlen. Sie mögen entfliehen ... sie mögen sich verbergen ... sie mögen Verbrecher sein, wie ich, oder Heerführer, sie spüren doch seinen Blick ... Ein Held ... was ist ein Held? Das ist Standhaftigkeit bis zum letzten, Standhaftigkeit gegen Widersacher, gegen Freunde. Aber du dort oben, du bist dein Rächer wie der Menschen Rächer; und wenn das Stundenglas deiner Gnade abgelaufen ist, hebst du in Allmacht deinen Finger und der Held lehnt seinen Kopf zur Erde ... und liegt versöhnt ...«

Tolle Aarasson bog die Weidenruten des zunächst liegenden Schanzkorbes zur Seite und hörte den norwegischen Konstabel mit den Soldaten reden.

»Ihr Jungen, es hat keinen Zweck, länger Mannschaft und Artillerie auf diesem Schanzwerk zu verschwenden, aber da das alte Feldstück zu gebrechlich ist, um weggeschleppt zu werden, hat mir der Kommandant befohlen, es abzufeuern, ehe wir gehen. Immerhin kann wohl der Schuß den Schweden einigen Schaden verursachen, wenn das Geschütz nicht in Stücke springt.«

Während er sprach, legte er vorsichtig die Lunte auf das Feldstück, und von seinen Leuten begleitet, kehrte er dann mit raschen Schritten und singend nach der Festung zurück.

Tolle Aarasson verfolgte mit dem Auge die gelbliche Flamme der Lunte, die sich dem Zündloch immer näher schlängelte. Er stieß die Reisigbündel und Erdsäcke weg, um sich Bahn zu brechen und die Lunte wegzureißen, und er sprach laut, als spräche er zur Nacht:

»Ich wollte den Mann töten ... und jetzt will ich ihn erretten, nur weil ich ihn eben gesehen habe und ihn sprechen hörte! So macht er uns alle mit einem Blick zu seinen Dienern! Mein Verstand erlischt, und ich kann nicht länger denken.«

Er hieb die Weidenruten mit geballter Faust entzwei, aber das Pfahlwerk versperrte den Zugang, und die ganze Zeit sah er die Flamme am Zündloch. Mitunter erstarb sie und war nahe daran, ausgelöscht zu werden, dann aber schlug sie wieder klar und groß in die Höhe.

Dies sei ein Zeichen, meinte Tolle Aarasson, daß die Menschen heute Nacht nicht mehr versuchen sollten, zu handeln, und er stieg in die Klüfte hinunter, die gegen das Tal und die schwarzen Schornsteine in dem abgebrannten Fredrikshall abstürzten. Noch aus der Ferne sah er die Flamme. Klar brannte sie in weiter Ferne zwischen den Schanzkörben, aber er stieg tiefer und tiefer hinunter in die Felsen. Da hörte er den Knall des Schusses, und der Felsen zitterte.

Seine Kräfte waren erschöpft, und sein Verstand wurde umnachtet. Er erinnerte sich nicht mehr, warum er gegen den Feind gegangen war. Er fürchtete nur dunkel, gesehen und ergriffen zu werden. Er stierte in die Nacht hinauf, und gleich den Wagen Asa-Thors rollten die Donner der Festung über die Alpen.

Er wußte nicht, wie lange er unter den Wacholderbüschen umherschwankte, und nicht, wohin er ging. Zuletzt vernahm er Schritte von schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln und hörte Kies und Steine stürzen. Zwölf Soldaten aus der Garde kamen mit einer Bahre den jähen Hügel herunter.

Er hielt sich hinter den Wacholderbüschen und wartete. Auf der Bahre lag ein Gefallener, von zwei einfachen Soldatenmänteln umhüllt und mit einer weißen, über das Gesicht gezogenen Lockenperücke unter dem in die Stirn gedrückten galonierten Hute.

»Wer ist der Gefallene?« flüsterte er so leise, daß Oberst Carlberg, der vorn die gesenkte Seite der Bahre stützte, nichts merkte.

»Der Oberst sagt, daß es ein kecker Offizier sei,« antwortete der hinterste Träger, aber als er dabei den Kopf drehte, um den einsamen Nachtwandler zu betrachten, stolperte er und fiel unter seiner Bürde aufs Knie.

Die geliehene Perücke und der Hut glitten von dem Kopf des Toten, so daß das Mondlicht klar auf das Antlitz mit der durchschossenen Schläfe fiel.

»Der König! Unser großer geliebter König!« murmelten die Träger und wollten die Bahre niedersetzen.

Der Gefürchtete, dem gerade zugeflüstert worden war, daß er sich länger auf keinen verlassen könne, lag entwaffnet, und alte Kriegsleute, beschmutzt von Lehm und Ruß, rangen ihre verfrorenen groben Hände über seiner Leiche und wimmerten und stöhnten:

»Unser großer, unser geliebter König!«

Der Oberst mußte ihnen mit strenger Rede drohen, daß sie still sein und nicht mit ihrem Jammer verraten sollten, was geschehen war.

Schwer und langsam trugen sie den König weiter, aus derselben ungehobelten Bahre, auf der er während der verflossenen Nächte so manchen schon vergessenen Soldaten ohne Namen gesehen hatte, der, seinem Willen gehorsam, gestorben war.

Mitternacht war schon vorbei, als die Bahre auf einem offenen Rasenplatz zwischen den Häuschen des öden Dorfes Tistedal niedergesetzt wurde. Nachdem die Träger die Notmünzen als Trinkgeld bekommen hatten, entfernten sie sich alle. Der Oberst blieb zurück; grübelnd und laut seufzend, setzte er sich auf die eine Stange der Bahre. Die Salven krachten noch in der Ferne auf dem Waldfirst, aber sonst war alles schweigsam, und das Mühlrad unten am Flusse stand still. Alle Scheiben waren dunkel, und der selbe Vollmond, der dem verkleideten Reiter durch das Stadttor Stralsunds und zu dem düstern Handgemenge auf Rügen geleuchtet hatte, schien heute nacht auf das Gras, wo ein alter verweinter Oberst bei seinem gefallenen König Wache hielt.

Schritt für Schritt war Tolle Aarasson nachgeschlichen und blieb erst dicht an dem Rasen unter den unbeweglich herunterhängenden Zweigen der Armleuchterbirke stehen. Halblaut zu sich selbst sprechend, ging er rings um den weißen Stamm, in immer engeren und engeren Kreisen und träufelte die großen Tropfen aus seinem verwundeten Arm über die Erdschollen, um die bösen Dukaten, die da unten lagen, zu ewigem Schlaf, ewiger Vergessenheit zu beschwören.

»Schlafen, schlafen unterm Fluch! Warum werden nicht die Trommeln gerührt? Die Bahre dort steht so allein. Hier weinen keine Frauen, keine Kinder, keine vertrauten Freunde. Ach, du Mond, der du kamst und gingst und so vieles anschautest, nie werde ich dich über einem schwedischen Wald sehen, ohne der Bahre zu gedenken.«

Er ergriff die Axt, die in einem der Zweige saß, und die er einige Abende zuvor den Soldaten gezeigt hatte. Die Holzsplitter flogen, und seine Hiebe gegen den Stamm der Armleuchterbirke hallten weit durch die Stille.

Dann zog er wiederum seine Hand zurück, und ein neuer Schimmer vom Licht des Verstandes zog durch seine Seele.

»Allmächtiger, rächender Gott! Er, vor dem der bezahlte Mörder seine Waffen hinwarf, er, der lächelnd unzähligen Todesgefahren begegnete, er fällt still wie eine geknickte Ähre am Weg, da du das Maß seines Verhängnisses fülltest. Er fällt beinahe in der Einsamkeit, eines Nachts auf dem Walle, gleich einem geringen Soldaten auf dem Posten. Er stirbt von der Kugel eines ausgedienten und verrosteten Feldstückes, auf das ein paar Soldaten gleichgültig und singend ihre Lunte geworfen haben. Oder ... woher kam wohl auf dein Geheiß die Kugel? Was weiß ich, ein einfacher Mann... Ich weiß nur das, wovon ich soeben Zeuge war, und muß daher glauben ... Aber es waren so viele fremde Stimmen da oben in der Finsternis.«

Noch immer saß der Oberst auf der Stange der Bahre bei dem in Soldatenmantel gehüllten Toten, und immer erschöpfter fielen durch die Nachtruhe die Schläge der Axt gegen den dicken Stamm der Birke. Als schließlich der Baum stürzte, setzte sich der unbekannte Holzhauer schweigend auf den Stamm.

Die Stunden wurden ihm lang. Es ging schon dem Morgen zu, als ein paar nachgeschickte Diener sich näherten, um den gefallenen Herrn hereinzutragen. Zwischen ihnen ging ein Hauptmann mit dem Degen des Königs und erzählte, daß dessen Hand im Augenblick des Todes so heftig um den Griff gefaßt habe, daß die Klinge zur Hälfte aus der Scheide gezogen worden sei.

Jedem Worte lauschend, bog Tolle Aarasson die Zweige der Armleuchterbirke zur Seite.

»Dieser Degen ...« fragte er sich. »War es ein verstockter und zu früh ergrauter Greis, der diesen Degen zog gegen das Andenken jenes Lichtfürsten, der einst seinen Namen trug? Oder ob ...?«

Er trat vor, gerade dem Hauptmann in den Weg, und flüsterte unterdrückt:

»Dieser Degen ... gegen wen wurde dieser Degen gezogen? Unter meinen blutigen Korporalskleidern steckt ein ebenbürtiger, ein vielleicht kundigerer Mann als Ihr, obgleich er vor den Menschen tief gesunken ist. Weist mich daher nicht fort, sondern antwortet aus Barmherzigkeit.«

»Mein Freund, ich verstehe deine Frage nicht.«

»Gegen wen, sage ich? Gegen wen wurde dieser Degen gezogen? ... Ich weiß es jetzt selbst. Gegen wen, frage ich? Gegen alle! Ist diese Antwort uns nicht genug? Ist es nicht so, daß ein Held sterben muß? ... Er glaubte. Er glaubte an die Gerechtigkeit seiner Berufung ... Solchen Trotzern verzeiht Gott, der Herr... Solchen Trotzern verzeihen sogar die Menschen!«


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