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Der Löwenkäfig

Num Eddaula war Häuptling der Brüderschaft der Wahrsprechenden. Sie wohnten ein jeder für sich in ihren Häusern wie Kaufleute oder gelehrte Übersetzer der ältesten Schriften, aber alle Jahr beim ersten Neumond nach dem Beiramfest versammelten sie sich nachts mit Fackeln und weißen Gewändern in einer abgelegenen Schlucht.

Eines Nachts, als Num Eddaula auf dem steinigen Bergpfad von einer solchen Versammlung zurückkehrte, sagte er zu dem Diener, der die Fackel trug:

»Wir haben eben unser Brudergelübde geschworen, immer die Wahrheit zu sagen, mit einer einzigen Ausnahme, nämlich, wenn es sich um die eigenen guten Taten handelt. Die sollen wir verschweigen oder wegleugnen und sollen danach streben, vergessen zu sterben. Was spiegelt der Ewigkeit stille Größe schöner als Vergessenheit? Auf der ganzen Erde gibt es keinen so schönen Fleck als ein vergessenes Grab. Das Gras rauscht da anders, und anders zwitschern die Vöglein. Höre mich, mein Freund! Die Freimütigkeit der Wahrsprechenden hat den Sultan so geärgert, daß er gelobt hat, sie mit dem Schwerte auszurotten, falls er nicht meinen Kopf als Buße bekommt. Er ist leicht zu erkennen an dem sternförmigen Geburtsmal am Auge. Ich will ein Mann sein und den Kopf selbst zu ihm tragen. Aber dies ist eine gute Tat, die nicht länger gut bleibt, wenn sie Ruhm nach sich zieht, und ich habe weder das Verlangen noch das Recht, sie darzutun. Ahnten die Unseren meine Absicht, so würden sie mich binden und verstecken und mich bis zum äußersten verteidigen. Deswegen sollst du mir einsam folgen, und wenn ich meine Strafe erlitten habe, sollst du mich in aller Stille an einem unbekannten Ort beerdigen und dann verbreiten, ich sei gegen meinen Willen ergriffen worden, wie ein feiger, fliehender Tropf.

Als es tagte, warf der Diener die Fackel weg, und sie stiegen in das blühende Feld nach dem Schlosse Timurtasch hinunter, wo der Sultan ein Lustgelage hielt.

Num Eddaula wurde ganz verwirrt, als er die prächtigen Rüstungen und Zelte sah. Begierig lauschte er einem Sklaven, der erzählte, der schwedische König wohne auf dem Schlosse mit seiner spärlichen Kriegerschar, halb als Gefangener, halb als Ehrengast.

»Laß uns hinaufgehen,« sagte er zu seinem Diener, »denn ich selbst bin ein schwacher Mensch, und der Anblick eines Helden würde mir Stärke verleihen. Meine altersmüden Augen werden sich dann mit Freuden schließen.«

Sie schritten durch den Garten, wo die Sommersonne zwischen Feigen- und Maulbeerbäumen schien, und wo der Brandklepper durch die Gänge zur Tränke geführt wurde. Als sie die Schloßtreppe heraufkamen, begegneten sie unter den Türken, die soeben einen Blick auf den König hatten werfen dürfen, dem Sultan selbst, als Janitschar verkleidet. Num Eddaula drückte sich wider die Mauer und zog das wildhängende Haar über das Geburtsmal am Auge, aber er fühlte an seinem Handgelenk den Atemzug des Mundes, der am gleichen Abend seinen Tod verkünden sollte. Einen Helden, einen Helden wollte er vor sich sehen, sonst würde er selbst anfangen zu schwanken!

Eine Türe sprang auf. Er ging ein paar heftige Schritte vorwärts und neigte sich, und durch das Loch in einem Schirm betrachtete er den König.

Das weite Gemach, in dem die Tänzerinnen des Sultans oft beim Flötenspiel die Teppiche getreten hatten, war von oben bis unten und längs den Wänden derart mit vielfarbigen Arabesken übersponnen, daß Num Eddaula eine Laube zu sehen glaubte, wo zwischen Blumen und Ranken verhexte Spinnen ihre Goldnetze befestigt hatten. An der entferntesten Wand lag der König in einem schmalen Feldbett, das Hemd fest bis an den Hals zugeknöpft; ohne Soldaten, ohne Macht und doch ein Alleinherrscher über ein fernes Reich, hatte er nicht einmal genügendes Geld für das Händedrücken und Beschenken, das bei einer Begegnung mit dem Sultan nötig war. Er konnte sich nicht vor den fremden Gesandten demütigen und als ein geschlagener und verarmter Flüchtling vor den Sultan treten. Er errötete bei dem Gedanken, sich vor seinen Lakaien und Stallknechten als entwaffneter Arrestant zeigen zu müssen, der sich dem Willen eines anderen zu fügen hat, wie eifrig sie es auch täglich wiederholten, es geschehe auf seinen eigenen gnädigen Befehl. Deswegen hatte er sich statt dessen zu Bett gelegt; was ihm fehlte, war nicht Gesundheit, sondern Geld. Seit dem Kampf in Bender war er Monat für Monat liegen geblieben. Er wollte nicht einmal den Fuß auf den Boden setzen, sondern ließ sich in dem Leintuch nach dem Diwan tragen, wenn das Bett gemacht werden sollte. Seine beiden Leibärzte Skraggenstjerna und Neuman merkten mit Angst, daß seine Glieder anfingen lahm und steif zu werden, wie bei einem Fakir, der zur Ehre Gottes lange in derselben Stellung auf einem Kehrichthaufen ausgehalten hat. Vergebens baten sie ihn, wenigstens einmal am Tage aufzustehen und einige Schritte auf dem Teppich zu machen.

Auch Num Eddaula war es, als betrachte er einen der heiligen Männer, die ehrfurchtsvoll unter irgendeiner schattigen Eiche oder auf der Sonnenseite einer entlegenen Turbe gegrüßt wurden.

Hustend hatte eben der brustkranke Magister Eneman von seinen langen Reisen erzahlt. Er schüttelte ein paar junge Krokodile aus zwei mitgebrachten Gläsern und zeigte, wie sie grünes und schwarzes Gift ausspritzten, währenddem sie in einem Gluthaufen auf einem runden Messingbrett vor dem Bette lebendig verbrannten. Der König lehnte den Arm auf die Kissen und betrachtete die Tiere, wie sie von der Glut verschlungen wurden.

»Ob man mit dem bloßen Degen ein erwachsenes Krokodil erlegen könnte?« sagte er. »Man kann, was man will.«

Der einstmalige Hofkanzler von Müller, der jetzt angefangen hatte als Oberkoch zu dienen, seitdem niemand anderes dafür zu haben war, streichelte schmunzelnd seine verblaßten Rockschöße.

»Kann man auch, wenn man will, einen Käsekuchen ohne Eier und Rahm backen?«

»Man kann das anschaffen, was fehlt ... im Notfall mit der Klinge.«

Grothusen zog seine pfefferbraunen Nasenflügel in die Höh und trommelte auf dem galonierten Paradehut und wandte sich leise sprechend zu Müller: »Im schlimmsten Fall verschafft man sich das Notwendige gegen vierzig Prozent.«

»Die edlen Paschas sehen so fröhlich aus. Wovon reden sie?« fragte Num Eddaula den nächststehenden Lakaien, dieser aber wurde ganz verlegen und sagte vermittelnd auf gut Glück:

»Sie reden von einer der schönsten Stellen in den Evangelien.«

Dabei traf es sich, daß er auf dem glatten Fußboden an den Schirm stieß. Als der König des ehrwürdigen Alten ansichtig ward, winkte er ihm, näher zu treten, und befahl Grothusen, Dolmetscher zu sein.

Der König sagte:

»Sicherlich bist du ein weiser Mann. Würdest du auch den Mut haben, da zu stehen, wo die Kugeln pfeifen?«

Num Eddaula ließ den Turban sinken und streichelte sinnend den weißen Bart, der ihm bis zum Leib herunterreichte.

»Ich gehöre der Brüderschaft der Wahrsprechenden an und darf mir keine Tugend zurechnen, aber antworte mir du, der du ein Held bist! Wenn dein erster Lehrer dir sagte: Töte nicht, töte sogar nicht auf einem Gluthaufen das böseste und grimmigste Tier ... wenn die hohen Paschas um dich und alle Menschen dir jeden Morgen sagten: Töte nicht, denn es ist Sünde. Bleibe zu Hause in deinem Reiche und überwache die Ernten, obwohl du damit keinen Ruhm erlangst ... Würdest du den Mut dazu haben? Hast du im Unglück den Mut, dich zu demütigen und dich für besiegt zu erkennen und deinen Feinden und Henkern zu verzeihen?«

Der König runzelte die Stirn.

»Soll ein guter Soldat sich nicht lieber standhaft erweisen?«

»Der du die Lügen hassest, und der du nie wolltest, daß andere dich vollkommener erachteten, als du es warst! Hoch und edel ist deine Stirn, groß sind deine Augen, aber du hast eine böse Falte um deinen zusammengebissenen Mund. Man glaubt, er lächle, er lächelt aber nicht. Es ist etwas anderes, was die Lippen sagen. Sie versuchen Gott. Sie sagen, daß dein Wille der seine sei. Du versammeltest dein Volk, und es wurde geschlagen. Wenn Gott ein Volk geschlagen hat, wälzt er einen schweren Felsblock über die Gruft und gebietet Stille. Er will wieder goldene Äcker und spielende Kinder sehen. Du aber setztest den Streit allein fort – und gegen ihn. Die Wahrheitbezeugenden, alle die Standhaften, die im Glück Demütigen und im Unglück Stolzen, sie sind herbeigekommen, um dich zu sehen, – und jetzt wenden sie sich weg. Vielleicht hat dein Volk viele große Männer und Könige geboren, aber könnte wohl einer von Anbeginn an mehr zum Streiter des Lichtes erkoren sein als du? Du fürchtetest die Vergessenheit. Ein Stern sollte auf deinem Grabe angezündet werden und tausend Jahre brennen. Das Glück zeugte aber gegen dich, denn Gott wollte dich und dein Volk schlagen. So vollende deine Heldentat! Schiebe den eitlen Ruhm weg, wie du den Wein und die Weiber verschmäht hast! Tu es demütig oder tu es stolz, wie du es kannst. Gehe hin und setze dich in die Ecke der Besiegten und Verarmten. Gehe hin und setze dich wie Hiob auf den Aschenhaufen. Du kannst über dein Gesicht befehlen, befiehl auch über dich selbst. Du vermagst mehr, als was du vollbringst. Das ist es, was Gott einem Helden nie verzeiht. Nie erhob er in seine rechte Hand einen durchsichtig reineren Edelstein als dich, und nie warf er im Zorn sein eigenes Werk so tief ins Dunkel zurück ... Und deshalb liebe ich dich, denn ich bin ein Mensch. Unter allen Männern, denen ich begegnet bin, habe ich keinen so geliebt wie dich, keinen. Hüte dich, hüte dich, es gibt auch andere, die dich lieben, und die viel gefährlicher sind als deine schlimmsten Feinde und Verleumder.«

»Und wer sind die?«

»Die Narren! Sie haben sich die Falte um deinen Mund gemerkt und deuten sie in ihrer eigenen Sprache. Die Narren wenden sich nicht weg. Sie klammern sich an die Kleider an. Die Narren brauchen einen Narrenhelden, einen lorbeerumhüllten Erznarren für alle Zeiten, und dazu wollen sie dich unter Jubel erküren. Die Narren fragen nicht viel danach, wie du bist. Sie lieben nicht Menschen. Sie gleichen den kleinen Affen, die in dem Palmenhain von Hidschas auf den Steingötzen zusammengekauert sitzen und Datteln fressen im Sonnenschein, die aber, sobald sie Schritte eines Menschen hören, schreiend und einander nachlaufend anfangen von Zweig zu Zweig zu springen. König, den Tod fürchtest du nicht. Gott wird ihn dir einmal aus Barmherzigkeit schenken in einer Stunde, da er sich erinnert, wie deine Knabenhand das Schwert der Cherubime führte. Tiefer wird seine Rache treffen. Er schenkt dich den Narren.«

»Du gehst weit in deiner Freimütigkeit.«

»Ich will nur prüfen, wie weit dein Mut reicht, da du ein Held bist. Hast du den Mut, als ein Vergessener zu sterben?«

Der König wurde noch düsterer und suchte nach einer Antwort. Er saß quer in dem Bett, die Decke fest um Kniee und Füße gewickelt. Num Eddaula legte die Hände kreuzweis über die Brust und verneigte sich.

»So gibt es noch vieles, wozu dein Mut nicht ausreicht.«

Grothusen schlug den Hut gegen das Messingbrett.

»Du, der du ein Wahrsprecher bist ... Wer sagt, daß du nicht hier stehst und dich blähst über deine Demut? Wer sagt, daß nicht Mut dazu erforderlich sei, als ein Unvergessener sterben zu wollen?«

Num Eddaula schloß die Augen und tastete voller Angst mit den schmalen Fingern in der Luft herum.

»Da sprachst du wahr, Pascha. Ruhm, das ist unreine Verleumdung, unreine Ehre. Das ist Irrtum und Schein. Der Hochmütige wird demütig, der Demütige hochmütig. Ihr allbekannten Männer und Frauen der Welt seit Adams Zeiten, wieviel würde von dem klaren Gold der Wahrheit bleiben, wenn die täuschende Asche weggesiebt werden könnte? Und du, König. Wer las deinen letzten Gedanken abends, wenn du einschliefst? Wer sah dich in der Dunkelheit, in der Einsamkeit, wenn du wach lagst? Wer wird einmal an deiner Bahre die Hand ans Herz legen können und sagen: so war er! – Nur Narren werden das wagen und sagen: Fraget uns, er war wie wir! – Wenn sie müde werden, Lob zu singen, werden sie anfangen dich zu steinigen, sich über dich lustig zu machen und mit den Fingern auf deinen schweren Haudegen zu zeigen. Dein friedloses Grab wird ihre liebste Zuflucht sein. Sie werden so dicht zusammenstehen, daß die Klugen deinen vermoderten Knochen nicht nahe kommen können. Das sage ich dir aber. Erkoren die Narren dich zu den Ihrigen, und vermagst du dann noch einmal dich zu erheben und die Klugen und Wahrheitzeugenden und die Standhaften, die im Glück Demütigen, im Unglück Stolzen um dich zu versammeln, – dann hast du die Probe bestanden. Dann bleibst du ein Kämpe Gottes noch als Erinnerung und Schatten. Dann haben die Menschen dich mit falschen Gewichten gewogen. Dann bist du, was ich will, daß du sein sollst!«

Num Eddaula warf sich auf die Knie und berührte den Teppich mit der Stirn.

»Ich bin ein schwacher Mensch und habe mich an deinem Anblick gestärkt. Viel habe ich in meinem Leben verbrochen, viel Geringes. Habe ich keine Narben auf der Haut, so habe ich sie in der Seele. Ich will vergessen, vergessen werden. Ich will schlafen, schlafen. Der Ruhmreiche wird ein Sklave bei anderen. Je nachdem er seinen letzten Herrn zufrieden gestellt hat, bekommt er einen Kranz ins Haar geflochten oder Hiebe und Schläge. Keine Liebe kann friedvoll über seinem Staube leuchten. Es wächst hier ein immer höher werdender Baum empor mit immer wunderlicher geschlungenen Ästen und mit nie ersterbenden Unruhen und Seufzern in den Blättern.«

Niemand antwortete ihm. Es wurde still in dem weiten Gemach. Schließlich klapperte und klang etwas auf dem Messingbrett, und der König reichte dem weißbärtigen Wahrsprecher eine glänzende Dublone. Er kroch auf den Knieen bis ans Bett heran und drückte sein Gesicht gegen das herunterhängende Leintuch, schob aber die Münze von sich weg.

»Du magst leben, du magst sterben,« sagte er, »immer wird Streit dich umgeben. Ich gehe zur Ruhe.«

In der Frühe des nächsten Morgens wurde Num Eddaula vor dem Zelte des Königs hingerichtet. Die sichere Gewißheit stillen Vergessens breitete ihren Frieden über seine letzte Stunde.

Der Diener begrub den Leichnam abseits zwischen zwei Zypressen. Als das Grab zusammengeschaufelt war, übersäte er es mit Maiskörnchen für die Tauben, die zu Hunderten aus Gebüschen und Bäumen herbeiflogen. Bald entsproßten der Erde Sträucher mit weißen Blüten. Müde Soldaten und Hirten fanden hier einen schattigen Fleck und legten sich oft zu einer Ruhestunde ins Gras. Es war ein heiliger Raum. Hier ruhte ein vergessener Mensch.


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