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Wenn die Glocken läuten

Im südlichen Smaaland, gerade da, wo der steinige Skaane-Weg sich in mehrere einsame Fußsteige teilt, und wo nach der Kirche zu sich eine staubige Anhöhe zieht, stand eine rotangestrichene Mühle mit den größten Flügeln, die in der Umgegend zu sehen waren. Der Müller war schon lange tot. Seine Witwe, die Kerstin Bure hieß, und die in ihrer Jugend glücklichere Tage gesehen und von glänzenderen Zinntellern gegessen hatte, besorgte die Mühle auf ihre eigene Weise. Niemals äußerte sie etwas über ihre Herkunft oder über den Liebeshandel, der sie aus einem wohlhabenden Pfarrhaus nach dem engen Turmstübchen eines Müllers gelockt hatte, wo die Achse der Mühlenflügel gerade über ihrer Schlafstätte krächzte, aber sie sprach auch nie von etwas anderem. Der Mann war zu arm gewesen, um ein eigenes Häuschen zu besitzen, und hatte sich statt dessen einen Schornstein gerade auf durch das Mühldach gebrochen. Hier lebte sie Jahr aus Jahr ein schweigend, mit ihrer Näherei in der Hand, der Arbeit der Knechte zuschauend. Wurde sie einmal um Rat gefragt, so antwortete sie am liebsten mit einem Nicken oder Schütteln des Kopfes, und selten entfernte sie sich auf eines Steinwurfes Länge von ihrer Mühle. Sie war groß und schlank, mit zarten Händen, und ihr Gesicht unter dem allzeit weißen, gestärkten Tuch erinnerte an das der Maria Magdalena auf Altartafeln, nur war es gelblich und gealtert. Niemals nahm sie Frauen in ihren Dienst, und besonders Frauen gewöhnten sich allmählich daran, schweigend an ihr vorbei zu gehen. Sie wußten nie recht, ob sie hoch- oder demütig wäre, die meisten aber hielten dafür, daß sie gut beides zu sein vermöge. Als der Küster mit seinen Brautwerbern in seinem schönsten Sonntagsanzug kam, um um die Hand der schon grau gewordenen Alten anzuhalten, wurde er ganz verzagt und verlegen, denn sie errötete bis unter die Stirn und schüttelte nur ihren Kopf.

Eines Morgens fand sie auf dem Reisighaufen an der Quelle ein zartes Knäblein, und da niemand etwas von den Eltern wußte, nahm sie den Kleinen mit liebender Fürsorge bei sich auf.

»Niemand weiß, ob schlechte oder gute Keime in deinem Herzen liegen,« sagte sie, »der Tag kann aber kommen, an dem ich das zu prüfen habe. Du sollst Johannes heißen, denn du sollst fromm werden wie ein Engel Gottes. Ich bin hart gestraft worden, für dich aber will ich ein schönes Geld zusammensparen, so daß deine Lebensjahre einmal die meinen aufwiegen können.«

Der Knabe wuchs heran, und als er eingesegnet ward, erstaunten alle über seine gottesfürchtigen Antworten. Mit seinem glatten, über die Schultern hängenden Flachshaar saß er an den hellen Sommerabenden der Johanniszeit bei seiner Pflegemutter auf der Mühltreppe und las fleißig in den Büchern, die er von dem Hirten des Kirchsprengels geliehen hatte. Sie saßen immer wortkarg und still, nur bisweilen deutete der Knabe mit dem Finger auf eine Zeile, die ihn besonders schön däuchte, und las sie leise vor.

Die Heuschober und die Wiesen dufteten, und sogar die Kleeblüten und Kleeblätter, die hie und da als Zeichen zwischen den Blättern des Buches lagen, bargen, obgleich getrocknet, ihren Duft von Wiesen und Heuernten. Bis spät in die Nacht brannte nur ein einziger Stern, der war aber groß und leuchtend, alles war wach und gesprächig, und die Haustüren standen offen.

Viele flüsterten einander ein dunkles Gerücht zu, daß das schwedische Kriegsheer bei Poltawa geschlagen sei, und daß die Dänen jetzt landen würden, um den Untergang ganz Schwedens zu vollenden.

Eines Samstagabends hielt ein Reiter an der Mühlentreppe und bat um Quartier.

Johannes blickte die Pflegemutter bedenklich an und fragte den Fremden, ob er nicht lieber den Weg hinauf zum Pfarrhaus fortsetzen wolle.

»Nein,« antwortete dieser, »erst will ich heute Nacht sehen, wie es dem Volk geht.«

Er stellte sein Pferd in den eingemauerten Gang unter der Mühle ein und setzte sich dann ganz vergnügt zu den übrigen zu einem Teller Biersuppe und einem Stück Schwarzbrot.

Er hatte Haar und Backenbart wachsen lassen, so daß er wie ein gewöhnlicher Bauer aussah, bisweilen aber zog er den Mund bis an die Ohren und schnarrte im breitesten Skaane Dialekt, und bisweilen zog er die Augen zusammen und jammerte in klagendem Smaaländisch. Die ganze Nacht durch wachte er und fuhr mit seinem lustigen Geplauder fort. Einmal nahm er ein Stückchen Kohle und zeichnete den Johannes leibhaftig an die Wand. Eine Weile darnach gab er Kerstin Bure kluge Ratschläge, wie sie die Mühlachse schmieren solle, oder er sang Psalmen und Polkas, zu denen er die Worte selber setzte. Am nächsten Morgen zog er aus seinem Reisesack einen Rock mit glänzenden Soldatenknöpfen. Als Johannes und die Alte neugierig den Laden ein wenig aufmachten, um zu sehen, wohin er ginge, stand er schon auf dem Kirchwall, und es entstand unter dem Volk ein solches Gelärm und Getöse, daß es meilenweit hallte.

»Es ist unser Maans Bock,« schrien die Bauern, »es ist unser tapferer General Stenbock. Wenn wir ihn mit uns haben, dann wollen wir, wie wir hier sind, hinaus, Vater und Sohn, und für unser Vaterland kämpfen, so wahr uns Gott helfe!«

»Johannes,« sagte darauf Kerstin Bure zu ihrem sechzehnjährigen Pflegesohn, mit einer Härte in der Stimme, die er nie zuvor gehört hatte, »du bist dazu geschaffen, dich fromm ans Gebetbuch zu halten und einst den Predigermantel zu tragen, wie mein seliger Vater, nicht aber, dein Blut in weltlichem Streite zu lassen. Stecke ein Feuerzeug und ein Messer in dein Wams und binde den Lederrock an den Gürtel. Gehe alsdann hinauf in die Wälder und halte dich wohlverborgen, bis wir Frieden im Land haben. Eher will ich dich nicht wiedersehen. Denke daran. Du hörst jetzt die Männer auf dem Kirchwall rufen, vielleicht wird ihnen aber bald der Mund mit schwarzer Erde verschlossen werden.«

Er tat, wie sie befohlen, und wanderte seines Weges, hinauf, den Wäldern zu, auf unbekannten Stegen. Die Tannen wurden allmählich verzweigter und dichter, so daß er ein langes Stück rückwärts, mit dem Lederrock über dem Gesicht, vordringen mußte. Gegen Abend kam er an einen Sumpf, und weit draußen am Rand eines schwarzen Sees lag eine kleine Insel, von Erlengebüsch überwachsen.

Hier will ich meine Höhle bauen! dachte er, aber das Bebeland des sumpfigen Morastes, das über dem doppelten Boden und dem dunkeln Wasser schwamm, wohin kein Strahl des Tageslichtes den Weg sich bahnte, sank unter seinen Füßen, und ermüdet und halb schlafend setzte er sich auf den Felsen.

Es rauschte noch am Waldessaum, aber der See lag ruhig, und die kleinen gelben, sich spiegelnden Wolkenschäfchen blieben bald unbeweglich stehen. Aus unendlicher Ferne hinter dem Nebel des Sumpfes erklangen bisweilen die kurzen, dumpfen Schläge einer Ziegenglocke. Zwei Hirten bliesen das Horn, und auf dem vergessenen und zusammengesunkenen Grabhügel in der Talsenkung zündeten die Glühwürmchen im Grase ihre Laternen an.

»Bist du einer von denen, die durchgegangen sind wegen des Kriegsdienstes?« fragte ihn eine Stimme, und als er aufsah, stand eine Ziegenhirtin zwischen den Wacholderbüschen und strickte. Sie schien ein oder zwei Jahre älter als er selbst zu sein, und die Lederschuhe hingen ihr über den Rücken.

»So ist's wohl, und jetzt versperrt der Sumpf den Weg, und Beeren und Engelsüß werden auf die Dauer ein mageres Essen.«

»Du mußt den Wald nicht kennen. Da leidet man keine Not. Seit meinem neunten Jahre bin ich jeden Sommer hier in den Wildnissen mit meinen Ziegen. Entäste ein paar junge Tannen und schneide sie ab und binde sie dir mit Weidengerten um die Füße, dann kannst du auf dem Bebeland gehen, wohin du willst. Deck deine Hütte mit Tannenrinde und mach dir ein Fischgerät.«

Sie zog vorsichtig einen gereihten Faden aus ihrer Bluse und befestigte eine Messingnadel daran, die sie aus dem Kopftuche zog, und bog sie zu einem Angelhaken.

»Hier hast du die Angelschnur,« sagte sie und setze strickend die Wanderung fort.

Während der Nacht achtete er wenig auf ihren Rat, aber als die Sonne ihm wieder ins Auge schien, zog er sein Messer heraus. Sobald er sich ein paar Schneeschlittschuhe geästet hatte, so wie sie es ihn gelehrt, begab er sich auf den Sumpf hinaus nach der Insel. Als er dort ins Gras stampfte, schaukelte die ganze Insel wie ein weiches Federbett, er aber meinte, das wäre gut, weil er, wenn Feuchtigkeit in der Erde sei, nicht weit zu gehen brauche, um Angelwürmchen zu finden. Auch grub er kaum mit den Fingern unter den Graswurzeln, als er eine Menge davon sah. Freilich ging es im Anfang schlecht mit dem Fischen, aber nachdem er geheimnisvoll zwei Riedgräser über Kreutz auf das Wasser gelegt hatte, wurde es sofort eine andere Sache, und da er das Feuerzeug im Wams hatte, so war es ein leichtes, den wohlschmeckenden Fang in die Glut zu stecken.

Dann begann er mit einem solchen Eifer sein Hüttchen zu bauen, daß er sich nicht die Ruhe gönnte, in den hellen Sommernächten zu schlafen. Er sah ein, daß es auf dem schaukelnden Boden leicht zusammenstürzen könnte, falls er zu hoch baue. Deshalb baute er statt dessen ein niedriges, mit Torf gedecktes Firstdach, unter dem er nicht aufrecht gehen konnte, sondern kriechen mußte. Jeden Morgen holte er vom Ufer entzweigte junge Bäume und Reiser und Stücke Tannenrinde, und zuletzt baute er einen Herd aus Steinen, auf dem er die ganze Nacht hindurch Wacholderreiser langsam brennen ließ, um die Mücken zu vertreiben, während seiner Beschäftigung sprach er bisweilen halblaut mit sich selbst; er stellte sich vor, er sei der Vogt einer ganzen Arbeiterschar, und das Inselchen nannte er »Villerö«.

Ziemlich oft begegnete er der Ziegenhirtin. Sie hieß Lena und ging mit ihrem Strickzeug und weidete ihre Tiere auf Abhängen und Wiesen. Sie lehrte ihn, Fallen und Schlingen zu legen. Zuletzt trafen sie sich jeden Morgen, um zu sehen, ob das Glück der Jagd ihnen günstig gewesen sei, und sie machte ihn zum guten Freund aller wilden Tiere.

»Sahst du den bunten Vogel?« fragte sie ihn – und zeigte auf den blauschwarzen Birkhahn, der den ganzen Wald mit seinem mächtigen Flügelschlag weckte. »Ihn nenne ich den reichen Junggesellen aus Varjö, weil er weder nach Angehörigen noch nach einem Heim fragt, sondern nur in seinem seinen Wetterhahnrock obdachlos auf den Wirtshäusern sitzt und schlemmt ...«

»Und jetzt kannst du den hören,« sagte sie ihm eines Nachts, als der Uhu in der Felsenschlucht schrie, »den ich den Steuerbeamten nenne, weil er Menschen wie Tiere erschreckt, wenn er den Kopf in seinem weißen Kragen dreht und seine Haarbüschel schüttelt und die roten Augen rollt oder mit dem Schnabel knackt. Gilt es aber die kleinen zarten Eier in seinem Nest, dann solltest du erst sehen! Dann sitzt ihm das Vaterherz am rechten Fleck! ...«

Von nichts aber wußte sie soviel zu erzählen wie von den Kranichen.

»Niemals noch,« sagte sie, »habe ich die langbeinigen und kahlköpfigen Kraniche zu sehen bekommen, wenn sie auf den fernen Sümpfen die Trompete blasen und Herbstgericht halten, bevor sie wegziehen. Rings um das Lager stellen sie Vorposten, die mit einem Stein in der einen aufgehobenen Kralle dasitzen, der herunterfallen und die anderen wecken soll, wenn sie einschlafen. Das aber ist das wunderbarste, daß ein Mensch, wenn er die aschgrauen Vögel auffliegen sieht, selbst mit den Armen zuschlagen beginnt und sich sehnt, so hoch mitzufliegen, daß die Seen drunten auf der Erde kleinen, glitzernden Wassertröpfchen gleichen.«

»Die Kraniche will ich sehen,« antwortete Johannes.

»Vielleicht kannst du sie im Herbst sehen, dann mußt du aber erst noch vieles lernen. Du mußt so unbeweglich stehen können, daß du wie ein dürrer Wacholderbusch ausschaust, dich kleiden, daß du einem Steine gleichst, und dich ausgestreckt auf die Erde legen können, so daß niemand dich von einem Haufen morscher Reiser unterscheidet.«

»Das alles will ich zu lernen versuchen, aber du darfst nie an Bord meiner Insel kommen. Da ist es nicht so, wie du glaubst. Ich habe einen hohen Ofen und gebohnte Dielen an den Wanden, und der Boden zwischen den Matten ist so blank und schlüpfrig, daß man nicht auf ihm gehen kann, sondern kriechen muß.«

Die schönen Sagen aus den Büchern des Pfarrers kamen ihm wieder ins Gedächtnis, und er wollte dem Mädchen zeigen, daß er nicht schlechter sei als sie, sondern sie auch verwundert und neugierig machen könne.

»Wenn du mich dieses Häuschen sehen läßt, gehe ich hinunter ins Tal und hole dir eine Donnerbüchse samt Kugeln und Pulverhorn.«

»Nach meiner Insel kommst du nie.«

»Wenn du mich dieses Häuschen sehen läßt, will ich dich lehren, fünf Tage und Nächte von Engelsüß und Wurzeln oder von nichts zu leben.«

»Darum bin ich hierher gekommen. Halte dieses Versprechen, und du sollst meine Insel zu sehen bekommen, wenn du sie finden kannst.«

Damit schnallte er die Schneeschlittschuhe an seine Füße und verschwand im Nebel auf dem Sumpf.

»Der Feind steht am Ufer,« sagte er zu seinen gedachten Soldaten auf der Insel, »hat aber weder Axt noch Messer, um ein Paar Schneeschlittschuhe zu verfertigen, wir können ruhig sein, wenn wir nur immer rechtschaffen und gut bleiben.«

Allein gegen Abend, als er im Begriff war, neue Wacholderreiser auf den Herd zu legen, sah er die Ziegenhirtin über den Sumpf kommen mit Hilfe von Reisern und dürren Zweigen.

»Der Feind denkt zu stürmen,« fuhr er fort, »es gibt aber ein Geheimnis, das ich schon lange geahnt habe. Ich werde ganz Villerö auf dem See segeln lassen wie ein Schiff.«

Er stemmte eine Stange gegen die äußersten kleinen Erdhügel des Sumpfes, und schaukelnd trieb das schwimmende Eiland weiter und weiter ins Wasser hinaus.

Dann legte er sich bei dem knisternden Glimmen des Feuers ruhig schlafen, aber als er nach einer Weile seine Augen plötzlich aufschlug, stand die Ziegenhirtin vor ihm und guckte unter dem niedrigen Dach herein, auf dem Fuchshäute zum Trocknen auf der Rückseite lagen. Sie fragte ihn nichts über den hohen Herd oder die gebohnten Dielen oder über den schlüpfrigen Boden, sondern sagte bloß:

»Es ist eine tüchtige Brise gekommen, welche die Insel ans andere Ufer getrieben hat. Aber warum lassest du die trockenen Fuchshäute auf dem Dache liegen, statt sie hier auf dem Boden auszubreiten? Und dann werden wir Wacholderbäume rings um die Insel herumstecken, so daß man weder uns noch die Insel sehen kann.«

Es dünkte ihn, daß sie vernünftig sprach, und so ging er sogleich ans Hand und suchte Wacholdersträuche zusammen. Noch lange nach Mitternacht arbeiteten sie an der Befestigung und Verschönerung seiner Insel. Sie verfertigten sogar aus Birkenrinde und Pflöcken eine Tür, die sie vor den Eingang stellen konnten, und als sie endlich wieder vom Hand stießen, ankerten sie draußen auf dem Wasser vermittelst zweier Pfähle.

»Die Windbrücke ist aufgezogen,« sagte Johannes, »und wir müssen uns umsehen, den neuen Gästen ehrliche Verpflegung angedeihen zu lassen, wie es sich ziemt.«

»Die Köchinnen und Küchenmägde sind immer so langsam,« sagte sie und drehte die beiden Fische auf dem Herde um.

Die Heide rauschte, und der See plätscherte, so daß die Insel und die Binsen und alle die geschlossenen Wasserrosen schaukelten. Sobald das Essen verzehrt war, legte sich Johannes der Länge nach an den Herd, Lena aber, die noch kein Anrecht auf »Villerö« fühlte, kroch draußen beim Eingang zusammen mit der einen Hand als Kopfkissen. Sie hörte noch die Wacholderreiser nach Herzenslust knistern, und während sie einschlief, zählte sie die kleinen Funken, welche aus der Ritze am Dach als Sterne durch die Nachtluft segelten. Das war der fünfte... Das war der sechste... Das war der siebente ... Sie erinnerte sich an eines ihrer Lieder:

In siebter Woch' zur Morgenstund'
Zur Andacht rief der Glocken Schlag,
Da weinte sie aus Herzensgrund,
Obgleich noch grün der Brautkranz lag...

Am nächsten Tage dachte sie nicht mehr daran, die Insel zu verlassen, und am dritten begann sie unvermerkt »unsere Insel« zu sagen. Jeden Morgen landeten sie an der Felsplatte, und dann ging sie nach dem Abhang zu ihren Ziegen oder begleitete ihn zum Legen der Fallen und Schlingen. Endlich fing sie auch an, ihn ihre Kunst zu lehren, mehrere Tage von Beeren und Engelsüß oder von nichts leben zu können, und sie merkte, daß er darin bald eine noch größere Fertigkeit gewann als sie selbst. Er wurde mager und dürr wie ein abgewehter Zweig, und doch spannten sich seine Muskeln immer fester. Er blieb aber doch still und wortkarg, und wenn sie ihn fragte, was seinen Sinn bedrücke, ging er auf eigene Faust weg und blieb lange draußen. Sie wußten nicht mehr die Wochentage, aber der Wind führte Sonntags das ferne Glockengeläute weit hinein in die Wildnis, und dann zog Johannes seinen zierlichen Lederrock an und führte sie den eibenbewachsenen Grabhügel hinauf, von wo man den See und den Sumpf überblicken konnte. Mit ihrer Hand in der seinen sprach er dann von Gottes Liebe, die jede Tiefe mit ihren schönsten Gaben überdeckt, und oft knieten sie lange Zeit im Gras und beteten, daß er einige Körnchen seines Samens auch in ihre Sinne säen möge!

Nach solchen Gesprächen wurde es Johannes jedoch immer doppelt schwer zu Mute, und er suchte die Einsamkeit auf.

Die Nachte wurden dunkler und dunkler, und oft, wenn sie von ihrer Herde heimkehrte, mußte sie zwischen Bergwände und aufgerissene Baumwurzeln mit einer Fackel leuchten. Die himmelhohen Eibenbäume glichen Zelten, an denen zwischen zerrissenen Bahnen schwarze Hände herauskrochen, um ihr in die Zöpfe zu greifen, aber sie hatte keine Furcht, sondern dachte nur an Eines, wo sie ging und stand, und womit sie sich beschäftigte, sie dachte unaufhörlich daran, daß der Sommer seinem Ende nahe, und daß niemand wußte, wie es dann Johannes und ihr gehen würde.

Da ward sie eines Oktobermorgens von Johannes geweckt.

»Erinnerst du dich der Kraniche, von denen du sprachst?« fragte er. »Jetzt kann ich unbeweglich stehen wie ein trockener Wacholderstrauch und mich hocken, daß ich einem Steine gleiche und mich ausgestreckt auf die Erde legen, so daß mich niemand von einem Haufen morscher Reiser unterscheidet. Ich habe mehr als das gelernt. Ich kann von Beeren und Wurzeln leben, und wenn das mangelt, kann ich mich mit nichts durchhungern...«

Sie richte« sich auf und lauschte dem fernen Geräusch.

»Das sind keine Kraniche.«

»So will ich auskundschaften, was es ist.«

Er wusch sich im See und zog seinen Lederrock an wie Sonntags und schob sie leise zurück, als sie ihn halten wollte.

»Geh' nicht, Johannes,« bat sie. »Ich gebe dich nicht von mir, ich folge dir.«

Leise landeten sie mit der Insel an den Felsen und gingen durch den Wald der Gegend zu, wo man von dem abgeholzten Hange freie Aussicht hatte über Heide und Wiesen bis zur Mühle der Kerstin Bure und zur Kirche.

»Johannes!« stieß sie fast mit einem Schrei hervor und hielt ihn krampfhaft an den Rockschößen, »komm mit mir zu uns zurück!«

Er antwortete ihr ruhig:

»Lange genug hat mein Gewissen mich gepeinigt. Siehst du da unten auf der Heide die grauen Geschöpfe mit den dünnen Beinen? Und die Vorposten, von welchen du erzähltest, stehen auch da... Es ist Maans Bock, der wieder zum Werben da ist. Ich habe Lust, in diesem Kranichtanz mitzuspielen!«

Er verließ sie heftig, so daß die Rockschöße an der Naht abrissen, und zwischen Farrenkräutern und verkohlten Stoppelfeldern begann er hinunter nach der Ebene zu laufen.

Unschlüssig folgte sie ihm, aber als sie sah, wie er den Vorposten anredete und mitten in die Schar bewaffneter Bauern hineintrat, da lief sie sich warm, um ihn einzuholen.

Als sie in den Ring hereinkam, stand er schon vor Maans Bock und empfing sein Werbegeld.

»Wo hast du dein Proviantbündel, Smaaländer?« fragte der General.

»Ich habe kein Bündel, aber fünf Tage und fünf Nächte kann ich von nichts leben.«

Lena drängte sich zwischen ihn und das dunkelbraune Pferd des Generals.

»Er, Johannes da, ist gar kein Knecht, sondern wir haben das Unsre da oben im Wald.«

»Was diese Ehe anbelangt, so möchte ich das am liebsten schwarz auf weiß sehen,« antwortete Maans Bock, und die erhitzte Farbe auf der Stirn stieg und sank, während er sprach.

Da streckte Lena aus ihren beiden Händen die abgerissenen Rockschöße hervor und ließ ihn sehen, daß sie zu dem Hederrock paßten.

»Das nenne ich einen Kirchenschein aus echtem Pergament,« brach er aus. »Das Werbegeld möge darum dein sein, mein liebe, junge Frau, aber der Bursche, der hat sich verschworen. Und nun, ihr guten Smaalander Bauern, vorwärts in Jesu Namen. Trommeln haben wir zwar keine, aber noch können in unsrer Armut die Holzschuhe den alten, schwedischen Marsch stampfen, der mir warm ums Herz macht, wenn ich ihn höre.«

Stöcke und Holzschuhe hallten und klapperten auf Felsen und Steinen. Sogar die Reiter hatten angebundene Holzschuhe an ihren Füßen, so daß sie sich vergebens mühten, den Steigbügel zu benützen.

Als die letzten Bauern auf der Heide verschwunden waren, ging Lena nach der Mühle hin. Sie wagte nicht zu erzählen, daß Johannes mit in den Krieg gezogen sei, sondern erzählte nur, wie sie ihn im Wald getroffen habe, und zeigte die Rockschöße, die genau gemustert und betrachtet wurden.

»Die Rockschöße sind die rechten,« sagte Kerstin Bure, »und obwohl ich ungern Frauen in meinem Dienst habe, kannst du wohl bei mir bleiben, bis Johannes wiederkommt. Ich brauche wirklich ein paar kräftigere Arme, denn ich bin zu Jahren gekommen, und alle meine Knechte hat der Wahnsinn befallen, und sie sind mit dem Stenbock weggezogen. Es gibt bald keinen arbeitsfähigen Mann mehr hier, den Küster, den tollen, ausgenommen.«

Als sie das gesagt hatte, sprach sie nie mehr mit Lena über die Ereignisse im Wald und fragte nichts über Johannes, sondern setzte schweigend ihre Tätigkeit fort, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war. Unbeweglich standen die Flügel der Mühle, denn es gab kein Korn mehr zu mahlen, und man hörte während der langen, schneeigen Wintermonate weder Schritte noch Stimmen. Die Bettler, die am Wege vorbeigingen, glaubten, daß es dort unbewohnt und öde sei.

Als der Frühling herannahte und weiße, langgezogene Wölkchen über den Himmel eilten, kam eines Tages, heiß und keuchend, ein Knabe des Weges gelaufen, und jedem, dem er begegnete, rief er ein Wort zu und verschwand dann in den Wald jenseits der Heide. Einige Stunden darauf kam ein Krieger im Viergespann und rief auf gleiche Weise etwas nach allen Seiten hin, bis er weg war und die Frauen sich scharweise auf dem Kirchwall versammelten. – Schweden, Schweden war gerettet, und Maans Bock und seine jungen Böcke hatten beim Sund das ganze Feindesheer geschlagen!

Nur Kerstin Bure fragte niemanden, was geschehen war, sondern saß jeden Mittag auf der Mühltreppe im herrlichen Sonnenschein und kämmte Wolle mit Lena. Wie sie da einmal saßen, fleißig und stumm, während das frühjahrliche Hochwasser durch Gräben und Bäche rieselte, hörten sie die Glocken südlich im benachbarten Kirchensprengel läuten, und es war doch Mittwoch. Erwartungsvoll stellten sich die Leute an den Seiten des Weges auf, und in die offene Kirchentüre trat der wankende Hirt des Sprengels mit seinen Kaplanen und im vollen Ornat.

Wieder klappte auf Fels und Steinen der wohlbekannte Marsch der Holzschuhe, jetzt aber mit Dudelsäcken und Schalmeien. Es war das zurückkehrende Bauernheer. Es waren lange Reihen mit buschigen Barren und zerrissenen Schafpelzen und ehrlichen, blauen Augen. Mit dem Stock in der Hand, der Muskete am Riemen und breiten Hüten auf dem hängenden Haar zog die heimentlassene Schar aus ihrem Sieg. Weit voran ging der Bote von Kirche zu Kirche bis an die nördlichste kleine Holzkapelle, wo die Lappländer ihre Renntiere an die Glockentürme banden, und der ganze sonnige Frühling Schwedens war erfüllt vom Lobgesang der Glocken.

Den Schlitten der Verwundeten zunächst ritt Maans Bock in seinem grauen Mantel und mit einer Reitpeitsche statt des Degens. Segen herabrufend auf ihren Retter, begrüßte ihn die Menge mit wehenden Schürzen und Mützen, er aber wandte sich an seinen Fähnrich und rief ihnen zu, sie sollten singen.

Als die Stimmen verstummten, fuhr Maans Bock allein fort und sang Vers auf Vers, die er selbst zusammenreimte.

Kerstin Bure hatte sich an der Treppe aufgestellt und schaute und schaute unter der erhobenen Hand, aber Lena, welche so unerschrocken in den Dickichten der Wildnis umhergezogen war, wagte in diesem Augenblick nicht länger zu warten und zu spähen, sondern schlich hinein und warf sich schluchzend über die leeren Mehlsäcke. Schritt für Schritt stieg Kerstin Bure rückwärts die Treppe hinauf, bis sie zu oberst mit dem Rücken an der Mühlwand stand. Dann legte sie die Hand über die Augen. In dem letzten Korbschlitten saß Johannes auf dem Heu unter den verwundeten, ebenso mild und still wie immer, nur bleicher und mit einem Verband um Arm und Schulter.

Immer fester drückte sie die Hand an die Augen.

»So war er doch der, für den ich ihn hielt, obwohl ich, um sein Gemüt recht zu prüfen, anders befahl. So soll er denn auch, wenn gleich er Kerstin Bures Pflegesohn ist, die für sein Leben behalten, die er selbst gewählt, ist sie auch die ärmste Ziegenhirtin!«

Aber in demselben Augenblick hörte sie, wie der Küster mit seinen Glöcknern auf dem Kirchturm an den Läden rüttelte, und schon ließ die große Glocke ihre ersten Schläge ertönen.

Sie runzelte die Stirn und ging in die Mühle hinein, indem sie sagte:

»Zwar habe ich kein Korn zu mahlen; läßt er aber seine Glocken läuten, obgleich er keinen Sohn im Kriege gehabt hat, so soll auch meine Mühle treiben.«

Knarrend begann die weißbestäubte Achse sich zu bewegen und zu krachen, und während das Bauernheer vorbeizog, drehte die leere Mühle ihre Flügel schneller und schneller.


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