Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die dunkle Christmette

Es war Weihnachtsabend. In dem Pfarrhaus zu Undenäs saß die Witwe des Kaplans, mit den Papieren des Verstorbenen auf dem Schoß. Ihr Mieder war aus seinem verbrauchten und oftmals gewendeten Predigermantel genäht, sein gestärktes Taschentuch hatte sie sich um den Kopf gebunden, mit dem Knoten im Nacken, und ihre blaugefrorenen, schmalen Finger lagen über den Papieren ausgestreckt. Ihr Wuchs war höher und magerer als der anderer Frauen, und alle haßten und verleumdeten sie ob ihres Geizes und ihrer Schlechtigkeit, bereits in guten Zeiten war nie ein Talglicht im Pfarrhaus angezündet worden. Die Dienstboten trieb sie um drei Uhr in den Winternächten aus dem Bett, obgleich sie bei dem spärlichen Schein der Feuerspane oder des Herdes nichts sahen, sondern sich gähnend und plaudernd auf den Dachboden setzten. Mitten im Weg zwischen Kuh- und Pferdestall konnte sie zum Knechte sagen, daß er die Holzschuhe über den Rücken hängen und für den Sabbat sparen solle, und wenn jemand zur Kirchenbuße verurteilt wurde, ward immer sie für die heimliche Angeberin gehalten.

Es dämmerte schon, und sie starrte fortwährend durch die halbeingeschneiten Scheiben nach der schindelgedeckten Holzkirche und dem Glockenturm. Neben ihr stand ein Mann mit buschiger Lockenperücke und einem rotgesprenkelten, aber immer lächelnden Gesicht. Es war der Verwalter Trulsson unten von den Hüttenwerken.

»Glaubt Ihr, daß er kommt?« fragte sie angsterfüllt. »Er war mein einziger Knecht, und seitdem er in die Stadt gegangen ist, blieb er weg. Es sind nun drei Tage. Gezüchtigt sollte er werden! Sicherlich wurde er am Montag im Wirtshaus gefunden und ist deshalb dem neuen Plakat gemäß zum Soldaten genommen worden.«

»Ich fürchtete, daß etwas hier im Trauerhaus schlecht stünde,« antwortete Trulsson freundlich, »deshalb ritt ich hier herauf. Klagt nicht, Mutter Ingebritt, denn im Grunde ist kein so großer Unterschied zwischen dem Glück und dem Unglück, als wir denken. Alle beide werden zu dem, was wir aus ihnen machen. Ihr solltet bloß den schönen, alten Soopen sehen, meinen gnädigen Herrn, wenn er gerade und schweigsam am Speisetisch im Saale steht und die großen Haufen Geldstücke zu seiner Jahressteuer zusammenrechnet. Sechshundert Taler Silbermünze als Überschußgebühr für des Frauenzimmers ausländischen Seidenstoff, sechzig Taler für die Spitzen, vierzig für den Zobelpelz, zwanzig für feinere Hüte und Tücher, vier für Tee und Kaffee, vierzig für die goldenen Beschläge an den Karossen, vierzig für alle Tabakrechnungen und dann die Sechstepfenniggebühr, die Durchzugssteuer und Kontributionssteuer für das Gut und die Untergebenen. Bedenkt dazu, daß das Eisen dem Staat angeboten werden muß, der nichts mitzuzahlen hat, und daß es auf dem ganzen Hüttenwerk kaum drei arbeitsfähige Kerle gibt, um sie in die Schmieden hinunterzuschicken. Und dennoch steht der alte Soopen so stattlich und schön da und schüttelt Görtzens Kupfergötter aus den Säcken. Ihr geizt zu sehr nach den Gütern der Welt, Mutter Ingebritt. Das meinen alle.«

»Die Armut nährt Vorsicht,« murmelte sie rauh. »Noch nie ist eine solche Not über das Volk gekommen. Seit November essen wir Borkenbrot, und um den Dragoner halten zu können, ging Vibelius selig selbst auf den Acker wie ein Knecht, bis daß er umsank und den Geist aufgab. Für fünf Taler kann ich kaum ein Pfund Zucker bekommen, eine Tonne Strömlinge kaum für fünfzig, und das Salz kostet über hundert. Morgen haben wir Christmette, und ich habe nicht Talg zu einem einzigen Licht. Wir haben keinen Pfarrer, der des Herrn Wort vorlesen kann, und keinen Küster. Die Pferde sind für den Troß genommen, und wenn der Knecht nicht zurückkommt, bin ich verloren, denn dann steht der Hof ohne Mann. Beim barmherzigen Gott, sagt mir, daß er kommt!«

Sie drückte die Stirn gegen die Scheiben, stotternd und ratlos.

»Er kommt!« antwortete Trulsson. »Ich höre Schritte draußen im Schnee.«

In demselben Augenblick wurde die Tür mit Geklirr und Getöse aufgestoßen. Einige lärmende Knechte in zerschlissenen Uniformen stolperten über die Schwelle, und hinter ihnen folgte ein Schwarm ausgemergelter Landstreicher, meist Jünglinge und Buben. Sie waren unheimlich schwarz und eingetrocknet im Gesicht von der Borkenbrotnahrung und hatten Lappen von Schafspelz um Beine und Füße gebunden. In dem hintersten Jüngling erkannte sie den Knecht, und sie verstand, daß er zu den Soldaten genommen war und mit den anderen weggeführt wurde.

»Tischt jetzt auf, was das Haus zu bieten hat,« befahl der eine Knecht und blies in die erstarrten Hände.

»Es gibt hier nichts, gar nichts!« antwortete sie ruhig.

»Was nicht geboten wird, muß genommen werden! Seit sieben Stunden irren wir auf Tiveden umher, von einem verödeten Gehöft zum anderen.«

Die Haudegen und Sporen klirrten, die Stimmen murrten, und Mutter Ingebritt wiegte vor und zurück und zupfte an ihrer Schürze. Sie warf einen fragenden Blick auf den Knecht. Dieser hörte eine lange Weile dem Zank zu und strich sich täppisch über den Nacken. Schließlich guckte er zu Boden und äußerte ganz sacht:

»Ihr wart immer hart und geizig, Mutter. Deshalb stahl ich vergangenen Sommer vier Laib Schwarzbrot und versteckte sie in der Kommode beim Bodengang. Die will ich jetzt mitten vor euren Augen mit den anderen teilen, denn wenn die Not so groß ist, gibt es keine Feinde.«

Die Knechte rissen lärmend die Schlüsselbunde vom Gürtel Mutter Ingebritts. Schränke und Kisten wurden geöffnet. Die irdenen Schüsseln wurden mit versteckten Leckerbissen gefüllt, und fluchend tauten die Knechte vor dem Feuer ein Stück Schinken auf, an dem die Würmer totgefroren längs dem Knochen saßen.

»Seid nur still, meine guten Leute!« vermahnte Trulsson väterlich und freundlich. »Gleichwie der Winterfrost die Würmer im Fleisch vernichtet, so wird dieses Elend, das nun über uns und unser Land weht, manchen bösen Wurm töten, der an unserem Herzen nagte.«

Während er sprach, sah er auf Mutter Ingebritt, wie wenn er die Worte an sie gerichtet hätte, aber sie versuchte ihn zum Stillschweigen zu bringen und sah weg. Er sprach nahezu priesterlich und predigend, und mit dem Rücken gegen das Feuer, blieb er mitten auf dem Boden vor ihr stehen, und die Hände faltend, fuhr er fort:

»Seid nur still, meine guten Leute! Und laßt uns nicht essen, ohne vorher zu beten! Eine solche Unglücksnacht wie diese gibt Gott der Allmächtige den Menschen, um sie gut und groß zu machen, und damit ein kleines Volk dahin komme, schöner und herrlicher in seiner Armut zu erscheinen als alle die anderen in ihrem goldenen Staat.«

Sie ging an den geöffneten Schrank und rückte die Schüsseln klirrend hin und her, um ihn nicht zu hören, aber dann drehte sie sich wieder um.

»Trulsson, ich meinte, Ihr hättet eine wohlmeinende Gesinnung ...«

»Ihr führt ein hartes Regiment im Hause, Mutter, aber unser Tischgebet kann uns niemand verargen.«

Die wilden Gesellen drückten sich längs den Wänden zusammen und falteten die Hände. Immerfort Mutter Ingebritt mit seinen ruhigen Augen anschauend und auf jedem Wort verharrend, begann er mit starker Stimme das Vaterunser.

Sie zupfte ängstlich an ihrer Schürze und zitterte und wollte wegschauen, aber immer und immer wieder zwang er sie mit seiner Milde, seinem Blick zu begegnen, und jedesmal atmete sie noch heftiger. Als er schließlich zu den Worten kam: »Unser täglich Brot gib uns heute«, fiel sie ihm besinnungslos in die Rede.

»Nicht mehr!« murmelte sie.

»Wie, soll ich des Herrn Gebet nicht lesen?«

»Nicht heute nacht! Morgen werden wir es lesen.«

Sie packte ihn am Arm und zog ihn mit sich auf den Hausflur hinaus.

»Ihr nanntet mich hart und geizig,« fragte sie mit einer so wunderlichen Stimme, als hätte nicht ihre Zunge, sondern ihr Herz selbst geredet.

»Das tat ich.«

»Und Ihr sagtet, daß eine Not wie diese über uns komme, um uns gut und groß zu machen.«

Er nickte.

»Dann folgt mir!« flüsterte sie, und sie schritten in die Winternacht hinaus.

Die Schneekruste war so hart, daß sie sie trug, und die Sterne flackerten über den dunklen Flächen, wo kein Vieh blökte und keine Garbe für die Spatzen ausgestellt war. Ein anhaltender Nordwind umwirbelte die Ecken des Hauses. Sie drückten sich dicht an den Scheunenwänden entlang, des Windes wegen, und im Wald angekommen, hielten sie sich an den Tannenzweigen fest.

Er dachte, der Schreck hätte sie ihrer Sinne beraubt, und mit den Händen am Munde rief er nach ihr, aber sie konnte seine Worte bei dem Sturm nicht erfassen. Sie deutete nur vorwärts und ging und ging. Er traute ihr keine gute Absicht zu und fing an sich zu fürchten, aber er schämte sich, die Frau in der Nacht allein zu lassen, und er wußte, daß die Wölfe immer zahlreicher wurden, seitdem die Menschen an Zahl mehr und mehr abnahmen.

Durcheist von Kälte und Angst, beschleunigte er seine Schritte, sie um den Leib zu fassen und zurückzuhalten. Da sah er, daß sie an einem verfallenen und verödeten Gehöft angelangt waren, in dem die Insassen an der Pest und ihr Sohn im Feld gestorben waren. Die Scheune stand zusammengestürzt in den Schneewehen, und auf dem Bodengang der Hütte stöberte der Schnee zwischen den Latten herein. Durch die weitgeöffnete Türe leuchtete das entgegengesetzte Wandfenster quer durch die leere Kammer. Von Grausen erfaßt, blieb er stehen.

Gegen die Hüttenwand gelehnt, stand eine schreckenerregende Erscheinung, eine hohe Gestalt, gleich einem in grauen Pelz gehüllten Mann mit einer großen, zackigen, verschneiten Krone. War es der an der Pest verstorbene Bauer, der sich aus seiner hastig selbst geschaufelten Gruft erhob, um Weihnachten in dem Hof zu feiern, wo er so oft in des seligen Karl des Zwölften Tagen die Willkommgrüße füllen und die Schlüsselharfen säuseln ließ?

Mutter Ingebritt zitterte vor Angst; und die Hände vor die Augen gedrückt, um nichts zu sehen, sprang sie in die Hütte.

Sein Herz stand still, und er beugte sich langsam gegen die Erscheinung vor. Er sah, daß es ein zu Tode gefrorner Elch war, der, von der Erinnerung an frühere Winternächte geleitet, als er an der selben Mauer Schutz und ausströmende Wärme gefunden hatte, sich gegen die verlassene Wohnung lehnte, woselbst kein Schläfer mehr in dem tiefen Lukenbett atmete und keine Glut mehr durch die Scheiben leuchtete.

»Gott, erbarme dich!« stammelte Trulsson und stieg in die Kammer. »Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere in den Wäldern kommen um.«

Aber Mutter Ingebritt hörte ihn nicht. Sie hatte schon einige Planken aus dem Boden gehoben und in dem bleichen Schneelicht eine Kiste bloßgelegt, die ungefähr eine halbe Armlänge in der Quere und zwei Armlängen zwischen den Stirnseiten maß. Die Kiste war blau bemalt, mit weißen Ranken und Blättern, und mit eisernen Handgriffen versehen.

Mutter Ingebritt wagte nicht, den Rücken gegen die Stubenecke und das leere Lukenbett zu wenden, sondern stellte sich immer so, daß sie Trulsson dicht hinter sich hatte. Er verstand noch nichts, aber als sie den einen Handgriff faßte, ergriff er den anderen, und immerwährend nach allen Winkeln und Ecken umschauend, trugen sie die Kiste aus der Hütte und heimwärts der Kirche zu.

Sie setzten sie auf den Gang in der Kirche, einige Schritte vor der Waffenhalle, nieder.

»Geh nach dem Wohnhaus,« sagte Mutter Ingebritt, »und setz dich an den Tisch als Wirt für meine ungeladenen Gäste! Ich selbst muß bei der Kiste bleiben und manches und vieles überlegen, denn wenn wir uns morgen in der Frühe hier versammeln, bin ich es, den Gott erwählen wird, die Frühmette zu halten.«

Er gehorchte ihr und ging über den Friedhof nach dem Pfarrhaus hinauf, aber er dachte, daß das Unglück sie um den Verstand gebracht habe, und daß er am nächsten Morgen genötigt sein würde, sie nach dem Krankenhaus zu führen.

Als es Morgen wurde und der Sturm sich legte, klingelten keine Schellen wie sonst, und keine wohlverwahrten Pfarrgenossen näherten sich auf Saumtiersätteln über ungeschaufelte Steige. Die meilenweiten Strecken der unheimlich verfallenen, verödeten Gehöfte entlang tönte kein Peitschenknallen und kein Rufen. Ein paar einsame Feuerspäne leuchteten zwischen den Bäumen, einige Frauen und ein paar abgelebte Greise mit Krücken und Stöcken versammelten sich in der Waffenhalle. Männer waren keine da, und die Kirchenbesucher, zusammengerechnet, zählten nur zwölf Seelen. Der Gräber waren mehr als der Leidtragenden; noch hatte kein Weihnachtsmorgen unter solch tiefem Schweigen gedämmert.

Sie traten die Feuerspäne mit ihren verschneiten Holzschuhen aus, und als sie Mutter Ingebritt auf der Kiste sitzen, aber kein einziges Licht angezündet sahen, grüßten sie zögernd und verwundert. Da sie sitzen blieb, mit dem Kinn in den Händen, ohne zu nicken oder ein Wort zu sagen, fühlten sie, daß sie sie bitterer als je haßten.

Nach und nach kamen dann auch die schlaftrunkenen Gäste vom Pfarrhaus, aber man hörte kein Läuten über den Heiden, denn die Kirchturmglocken waren längst in Feldkanonen umgegossen, die vernagelt und verstummt auf dem Grunde des Sumpfes in Ditmaren lagen. Kein Pfarrer bestieg die Kanzel, kein Küster klopfte mit der Stimmgabel, aber die Dienstmagd, die schon seit langem ihren Dienst verrichtete, wartete in der Tür.

Da erhob sich Mutter Ingebritt und strich die Haarsträhnen aus der Stirn; aber es war so dunkel in der Kirche, daß sie mit der Hand suchte, um eine Stütze an der Kirchenbank zu finden. Weder Deckenkrone noch Taufstein, weder Malereien noch Holzbalken konnte man unterscheiden. Nur der Kupferleuchter auf dem fernen Altar blinkte im Schneelicht.

»Gestern,« sagte sie, »schlossen wir das Gebet mit den Worten: ›Unser täglich Brot gib uns heute.‹«

Dann fügte sie still und leise, beinahe flüsternd, hinzu: »vergib uns unsere Schuld!«

In demselben Augenblick kam spukartig ein gelblich blaß aussehendes kleines Kind auf die Kirchenschwelle, mit einem brennenden Feuerspan. Bei dessen Schein öffnete Mutter Ingebritt die Kiste und kniete auf einer Grabplatte davor nieder.

»Das Unglück tut Wunder,« sagte sie, und es war allen in der dunklen Christmette, als ob ein Schein sich über dem Kirchgang entzünde, heller als von hundert der schönsten Wachslichter.

Sechs Silberbecher und sechs Silberlöffel hob sie heraus und verteilte sie gleichmäßig unter die Knechte und deren entblößte Begleiter. Vier schwere Beutel mit Notmünzen leerte sie und zählte gleich viel Geldstücke in jede vorgestreckte Hand, so daß keinem von den Anwesenden unrecht geschah, und in jede Schürze legte sie Brot und Salz und viele Fingerringe und andere Dinge, bis daß die Kiste leer stand und der Feuerspan erlosch.


 << zurück weiter >>