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Das befestigte Haus

Von der Winterkälte überrumpelt, hatten die Schweden in Gedränge und Wirrwar hinter den Mauern von Hadjatsch Quartier genommen. Da fand sich bald kein Haus mehr, das nicht von Frostkranken und Sterbenden gefüllt war. Das Jammergeschrei hörte man auf der Straße, und hie und da lagen neben auf den Treppenstufen abgeschnittene Finger, Füße und Beine. Die Fuhrwerke waren ineinander festgefahren und standen vom Stadttor bis zum Markt so dicht aufeinander gepackt, daß die bleichgefrorenen Soldaten, die von allen Seiten herbeiströmten, zwischen den Rädern und Kufen durchkriechen mußten. In ihr Sattelzeug verstrickt, vom Winde abgewandt und mit weißgefrorenen Lenden, standen die Pferde seit mehreren Tagen ohne Futter. Niemand kümmerte sich um sie, und einige von den Troßkutschern saßen totgefroren, die Hände in die Ärmel gesteckt. Einige Wagen glichen langen Kasten oder Särgen, und aus der Luke des flachen Deckels stierten düstere Gesichter hervor, die im Gebetbuch lasen oder fieberkrank und sehnsuchtsvoll nach den schützenden Häusern schauten. Tausend Unglückliche riefen halblaut oder im Stillen Gott um Barmherzigkeit an. An der Innenseite längs der Stadtmauer standen die Soldaten reihenweise tot, viele mit roten Kosakenröcken über den zerrissenen, schwedischen Uniformen und mit Schaffellen um die nackten Füße. Waldtauben und Spatzen, die so steifgefroren waren, daß man sie mit den Händen fangen konnte, hatten sich auf die Hüte und Schultern der aufrechtstehenden Leichen gesetzt und schlugen mit den Flügeln, wenn die Feldprediger vorbeigingen, um einem Sterbenden das Abendmahl in Branntwein zu geben. Oben am Markt lag zwischen abgebrannten Grundstücken ein größeres Haus, aus dem man laute Stimmen hörte. Ein Soldat gab einem Fähnrich ein Reisigbündel, das in der Tür stand, und als der Soldat die Straße hinunter zurückging, zuckte er mit den Achseln und sagte dem, der ihn hören wollte:

»Es sind nur die Herren von der Kanzlei, die sich zanken!«

Der Fähnrich an der Tür war soeben mit den Truppen Lewenhaupts angekommen. Er trug das Reisigbündel ins Zimmer hinein und warf es auf den Herd. Die Stimmen drinnen verstummten sogleich, aber sobald er die Tür hinter sich zugemacht hatte, begannen sie mit erneutem Eifer. Es war Exzellenz Piper selbst, die mitten im Zimmer stand, mit runzeligem und gefurchtem Gesicht, mit erhitzten Wangen und zitternden Nasenflügeln.

»Ich sage, daß das Ganze Wahnsinn ist,« brach er los, »Wahnsinn, Wahnsinn!«

Hermelin mit seiner spitzigen Nase bewegte beständig die Augen und Hände und lief im Zimmer hin und her, wie eine kleine zahme Ratte, aber der Feldmarschall Rhensköld, der schön und stattlich am Herd stand, pfiff und summte vor sich hin. Wenn er nicht gepfiffen und gesummt hätte, würde das Zanken jetzt zu Ende gewesen sein, denn alle waren sie für diesmal vollständig einig, aber dieses, daß er pfiff und summte, statt zu schweigen oder wenigstens zu sprechen, das war mit der Zeit unerträglich. Lewenhaupt am Fenster schnupfte und trommelte mit der Schnupftabaksbüchse. Seine pfefferbraunen Augen schossen aus dem Kopf, und es sah aus, als wäre seine lächerliche Perücke größer und immer größer geworden. Wenn Rhensköld nicht fortgefahren hätte, zu pfeifen und zu summen, würde er sich beherrscht haben, heute wie gestern und alle anderen Male, aber jetzt stieg ihm der Zorn zu Kopfe, er schlug die Tabakbüchse zum letzen Male zu und murmelte zwischen den Zähnen:

»Ich verlange nicht, daß Seine Majestät was von Staatskunst begreifen soll. Aber kann er Truppen führen? Zeigt er wirkliches Verständnis bei einer einzigen rencontre oder attaque? Geübte und alte Krieger, die nie ersetzt werden können, opfert er täglich für eine eitle bravour. Sollen unsere Leute eine Mauer erstürmen, wird es für überflüssig gehalten, daß sie sich schützende Reisigbündel oder Schirme binden, und deshalb werden sie auch armselig massakriert. Offen gesagt, meine verehrten Herren, einem studiosus upsaliensis kann ich manchen Bubenstreich verzeihen, aber von einem Feldherrn in castris fordere ich was anderes. Es wird wahrlich niemand zum Vorteil gereichen, eine affaire unter dem Kommando eines solchen Herrn zu führen.«

»Auch inkommodiert Seine Majestät,« antwortete Piper, »gegenwärtig den Herrn General nicht mit irgend welchen schwierigen Befehlen. Im Anfang, ehe der eine sich mehr als der andere ausgezeichnet hatte, ging alles besser, aber jetzt muß Seine Majestät herumgehen und vermitteln und versöhnen, mit einem blödsinnigen Lächeln, das einen zur Raserei bringen kann.«

Er hob die Arme in die Höhe, mit einem Zorn, dem jede Besinnung und jedes Maß fehlte, ungeachtet dessen, daß er mit Lewenhaupt ganz einig war. Während er noch redete, wendete er sich um und ging heftig seines Weges nach den inneren Zimmern. Die Tür schlug mit einem solchen Knall zu, daß Rhensköld sich noch mehr veranlaßt fühlte, zu pfeifen und zu summen. Wenn er doch nur etwas hätte sagen wollen! Aber nein, das tat er nicht. Gyllenkrok, der am Tisch saß und die Marschroute prüfte, war glühheiß im Gesicht, und ein kleiner, trockener Herr an seiner Seite flüsterte ihm gereizt ins Ohr:

»Ein paar Diamantohrringe an die Gräfin von Piper würden vielleicht Lewenhaupt noch zu neuen Anstellungen verhelfen.«

Falls Rhensköld jetzt aufgehört hätte, zu pfeifen und zu summen, hätte Lewenhaupt sich noch bemeistern und die Papierrolle, die er unter dem Rock trug, aufheben und sich ans Tischende setzen können, aber statt dessen wurde der ehrwürdige und sonst wortkarge Mann böser und böser. Er wandte sich unschlüssig um und ging nach dem Ausgang, dort blieb er aber mit einemmal stehen, richtete sich auf und schlug die Hacken zusammen, als wäre er ein geringer Gemeiner. Jetzt wurde Rhensköld still. Die Tür ging auf. Ein eisiger Windzug drang in die Kammer, und der Fähnrich meldete mit so hoher und gedehnter Stimme wie eine Schildwache, die ihre Kameraden ins Gewehr ruft:

»Sei-i-ne Majestät!«

Der König war nicht mehr das geblendete und verwunderte, halberwachsene Kind von ehedem. Nur die knabenähnliche Gestalt mit den schmalen Schultern war dieselbe. Der Rock war rußig und schmutzig. Die Falte um die aufgeworfene Oberlippe war tiefer und ein wenig grinsend geworden. Auf der Nase und der einen Wange hatte er Frostwunden, und die Augenlider waren gerändert und von langwieriger Erkältung geschwollen, aber um das zu früh kahl gewordene Haupt stand das aufgekämmte Haar wie eine zackige Krone.

Er hielt die Pelzmütze in beiden Händen und suchte seine Verlegenheit und Scheu hinter einer steifen und kühlen Geziertheit zu verbergen und verbeugte sich lächelnd vor jedem der Anwesenden.

Sie verbeugten sich jedesmal noch tiefer, und als er bis mitten ins Zimmer gekommen war, blieb er stehen und verbeugte sich noch ein paarmal nach den Seiten, obwohl ein wenig schneller und scheinbar ganz und gar mit dem beschäftigt, was er sozusagen dachte. Danach blieb er eine Weile stumm stehen.

Sodann ging er zu Rhensköld vor und nahm ihn mit einer kurzen Verbeugung an einem der Rockknöpfe:

»Ich möchte bitten,« sagte er, »daß Exzellenz mir zwei bis drei Mann von den Gemeinen verschafft zur Deckung bei einer kleinen Exkursion. Ich habe schon zwei Trabanten mit.«

»Aber Majestät! Die Gegend ist von Kosaken überschwemmt. Es war schon ein Wagstück, vom Quartier Eurer Majestät hierher in die Stadt zu reiten mit so kleiner Bedeckung.«

»Oh, Lappalien! Lappalien! Exzellenz soll tun was ich gesagt habe. Jemand von den anwesenden Generalen, der frei ist, kann auch aufsitzen und einen Mann von den Seinen mitnehmen.«

Lewenhaupt verbeugte sich.

Der König betrachtete ihn ein wenig zaghaft, ohne zu antworten, und blieb stehen, nachdem Rhensköld hinausgeeilt war. Niemand von den anderen im Ring hielt es für gebührlich, das Schweigen zu brechen oder sich zu bewegen.

Erst nach einer ganz langen Weile verbeugte sich der König wieder vor jedem einzelnen und ging hinaus ins Freie.

»Na,« fragte Lewenhaupt und klopfte dem Fähnrich mit wiedergewonnener Natürlichkeit auf die Schulter. »Herr Fähnrich soll mitkommen! Das ist das erstemal, daß der Fähnrich Aug in Aug mit Seiner Majestät gestanden hat.«

»Ich hatte ihn mir anders vorgestellt.«

»Er ist immer so. Er ist zu königlich, um zu befehlen.«

Sie folgten dem König, der über Wagen und gestürzte Tiere kletterte. Seine Bewegungen waren gewandt, aber niemals hastig, sondern maßvoll und ziemlich langsam, so daß er keinen Augenblick seine Würde verlor. Als er sich schließlich durch das Gedränge im Stadttor den Weg gebahnt hatte, stieg er mit seinem Gefolge, das sich jetzt auf sieben Mann belief, in den Sattel.

Die Pferde glitten auf der Eisstraße aus, und einige stürzten, aber Lewenhaupts Einwendungen lockten den König nur, die Sporen noch herzloser zu benutzen. Der Lakai Hultman hatte ihm die ganze Nacht laut vorgelesen oder Märchen erzählt und ihn schließlich mit der Wahrsagung zum Lachen gebracht, daß er, wäre er nicht von Gott zum König erkoren, sein ganzes Leben lang ein menschenscheuer Stubenhocker geworden wäre, der viel wunderlichere Verse als der selige Messenius in Disa auf »Bollhuset« ausgedacht hätte, vor allem aber die gewaltigsten Kampfgesänge. Er versuchte an Rolf Götriksson zu denken, der immer selbst zuvorderst vor seinen Leuten ritt, aber es wollte ihm heute nicht glücken, seine Gedanken in die Spielstube der Sage einzuschließen. Die Unruhe, die in der letzten Zeit ihre Krallen in sein Gemüt geschlagen hatte, wollte die königliche Beute nicht loslassen. Er hatte jetzt eben auf der Kanzlei die erhitzten Gesichter gesehen. Von den Aufzügen der Kinderjahre her noch immer in seiner eignen früheren Einbildungswelt gefangen, war er für die schrillen Notschreie am Wege taub und wurde mißtrauisch gegen jeden, der ein empfindliches Gehör zeigte. Heute wie auch sonst merkte er kaum, daß man ihm das ausgeruhteste Pferd und das frischste Brot angeboten hatte, daß man am Morgen einen Beutel mit fünfhundert Dukaten in seine Tasche gesteckt hatte, und daß die Reiter beim ersten Tumult einen Ring um ihn schlagen und sich dem Tod weihen würden, den er herausforderte. Dagegen merkte er, daß die Soldaten ihn mit einem unheimlichen Schweigen grüßten, und die Mißgeschicke hatten ihn sogar gegen seine Nächsten mißtrauisch gemacht. Der vorsichtigste Widerspruch, die verdeckteste Mißbilligung bemerkte er, ohne sich zu verraten, und jedes Wort lag da und nagte an seiner Seele. Es däuchte ihn, als ob er mit jeder Stunde einen Offizier verliere, auf den er früher vertraut hatte, und sein Herz wurde immer kälter. Sein gekränkter Ehrgeiz krümmte sich und blutete unter der Last des Mißlingens, und er atmete leichter, je weiter er das Hauptquartier hinter sich ließ.

Plötzlich blieb Lewenhaupt stehen und drehte um, in der Hoffnung, auf den König einwirken zu können. »Mein guter Ajax!« sagte er und streichelte das dampfende Pferd. »Wohl bist du ein alter Krippenbeißer, aber ich kann dich für nichts und wieder nichts nicht voranjagen, und selbst fange ich an zu altern wie du. Aber in Jesu Namen, ihr Kerle! Es folge dem König, wer kann!«

Als er den ängstlichen Seitenblick des Fähnrichs nach dem König hin sah, äußerte er mit gedämpfter Stimme:

»Sei ruhig, mein Junge! Seine Majestät braust nie auf, wie wir anderen. Er ist zu königlich, um schimpfen oder zanken zu können.«

Der König tat, als ob er nichts merke. Wilder und wilder setzte er über Eis und Schnee den stummen Wettritt ohne Ziel und Sinn fort. Er hatte jetzt nur vier Begleiter.

Eine Weile später stürzte das eine Pferd mit gebrochenem Vorderbein, und der Reiter schoß ihm aus Barmherzigkeit eine Kugel durchs Ohr, um nachher selbst allein und zu Fuß in der Kälte ungewissen Schicksalen entgegenzugehen.

Schließlich war der Fähnrich der einzige, der dem König zu folgen vermochte, und sie waren jetzt zwischen Gebüsch und Jungwald gekommen, wo sie nur im Schritt vorwärts konnten. Auf dem Hügel über ihnen lag ein großes und rußiges Haus mit engen Gitterlöchern und einer Mauer um den Hof.

Im gleichen Augenblick fiel ein Schuß.

»Wie ging das?« fragte der König und sah sich um.

»Der kleine Satan pfiff nicht schlecht, als er mir am Ohr vorbeiflog, aber er biß nur in die Hutecke,« antwortete der Fähnrich, ohne die geringste Erfahrung, wie er sich dem König gegenüber verhalten sollte. Er hatte einen schwachen Smaaländischen Akzent und lachte vergnügt mit seinem ganzen hellen Gesicht. Vom Glück berauscht, so unter vier Augen mit dem, der ihm mehr als alle anderen Sterblichen schien, zusammensein zu dürfen, fuhr er fort:

»Wir werden wohl da hinaufgehen und sie am Bart nehmen?«

Die Antwort gefiel dem König aufs höchste, und mit einem Sprung stand er auf dem Boden.

»Wir binden die Gäule hier an die Sträucher,« sagte er ausgelassen und mit starker Farbe auf den Wangen. »Sodann gehen wir hinauf und stechen jeden nieder, daß es nur so pfeift.«

Sie verließen die keuchenden Pferde und kletterten vorgebeugt durch das Gebüsch hinauf. Oberhalb der Mauer blickten einige Kosakenköpfe mit hängendem Haar und gelb und grinsend wie geköpfte Missetäter herunter.

»Siehe,« flüsterte der König und klatschte in die Hände. »Dort versuchen sie das morsche Tor zuzuziehen, die Fuchsschwänze!«

Sein vorhin noch nichtssagender Blick wurde jetzt abwechselnd unstet, weit und glänzend. Er zog den Haudegen und hob ihn mit beiden Händen über seinen Kopf.

Gleich einem Gott der Jugend stürmte er durch das halboffene Tor. Der Fähnrich, der an seiner Seite hieb und stach, war oft nahe daran, hinter ihm von seiner Waffe getroffen zu werden, und ein Musketenschuß schwärzte die rechte Schläfe des Königs. Vier Mann wurden im Torweg niedergehauen, und der fünfte der Schar floh mit einer Feuerschaufel nach dem Hof hinein, vom König verfolgt.

Dort strich der König auf dem Schnee das Blut vom Degen, legte zwei Dukaten in die Feuerschaufel des Kosaken und brach in zunehmender Heiterkeit aus: »Es ist kein Pläsier, sich mit diesen Tröpfen zu schlagen, die nie zurückhauen, sondern nur laufen. Komm zurück, wenn du dir einen ordentlichen Degen erstanden hast!«

Der Kosak, der nichts verstand, stierte die Goldmünzen an, schlich sich der Mauer entlang nach dem Tor und entfloh. Immer weiter und weiter draußen auf dem Felde rief er seine umherstreifenden Kameraden mit einem unheimlichen und klagenden: Ohaho! Ohaho! zusammen.

Der König sang leise vor sich hin, wie um einen unsichtbaren Feind zu reizen: »Kosakenmännlein, Kosakenmännlein, sammle deine Schelme!«

Die Mauern rings um den Hof waren schimmelig und schwarz. Auf dem Boden hörte man einen endlos gesponnenen Mollton wie von einer Äolsharfe, und forschend stieß der König die Tür zum Wohnhaus auf. Das bestand aus einem einzigen, großen und halbdunklen Zimmer, und vor dem Feuer lag ein Haufen blutbefleckter Kleider, die die Leichenplünderer von gefallenen Schweden genommen hatten. Die Tür wurde vom Zug wieder zugeworfen, und der König ging nach dem Stallgebäude nebenan. Da gab es keine Tür, und den Laut hörte man immer deutlicher. Drinnen im Dunkeln lag ein zu Tode gehungertes Pferd, das an eine der eisernen Ösen in der Wand gebunden war.

Ein erhobener Haudegen würde den König nicht gehindert haben, aber die ungewisse Dämmerung erregte seine Einbildungskraft, daß sie ihn an der Schwelle zum stehen brachte. Doch ließ er sich nichts anmerken, sondern rief den Fähnrich. Sie stiegen eine steile Treppe zu einem Keller hinunter. Dort war ein Brunnen, und an dem Kran der singenden Winde, die das Wasser heraufholte, kutschierte ein tauber Kosake mit Peitsche und Zügel, ohne die geringste Ahnung einer Gefahr, eine menschliche Gestalt in schwedischer Offiziersuniform.

Als sie die Stricke lösten und an die Stelle des Gefangenen den Kosaken banden, erkannten sie den Holsteiner Feuerhausen, der als Major in einem geworbenen Regiment diente, aber von den Kosaken weggeschnappt und wie ein Vieh vor ihr Wasserwerk gespannt worden war.

Er kniete und stammelte in gebrochenem Schwedisch:

»Majestät. Ich traue nicht meinen Augen ... Meine reconnaissance ...«

Der König fiel ihm heiter ins Wort und wendete sich zum Fähnrich:

»Führe die beiden Pferde hinauf in den Stall! Drei Männer können nicht behaglich auf zwei Pferden reiten, und deshalb bleiben wir hier, bis einige Kosaken vorbeikommen, denen wir ein neues Pferd nehmen können. Der Herr selbst steht Wache am Tor.«

Danach ging der König nach dem Wohnhaus zurück und machte die Tür hinter sich zu. Die ausgehungerten Pferde, die gierig die Rinde von den Sträuchern nagten, wurden währenddessen in den Stall hinaufgeführt, und der Fähnrich begann Posten zu stehen.

Langsam vergingen die Stunden. Als es gegen Abend ging, vergrößerte sich die Gewalt des Sturmes, und der Schnee irrte im Sonnenuntergang über die trostlosen Schneesteppen. Leichengelbe Kosakengesichter spähten über das Gebüsch, und weit draußen im Sturme tönte das Ohaho! Ohaho! Ohaho! umherstreifender Plünderer.

Da trat Feuerhausen aus dem Stall, wo er zwischen den Pferden gesessen hatte, um nicht Frost in die Wunden zu bekommen, die von den Stricken herrührten, mit denen er gebunden gewesen war. Er ging an die verschlossene Tür des Wohnhauses.

»Majestät!« stammelte er. »Die Kosaken sammeln sich mehr und mehr, und die Dunkelheit bricht bald an. Ich und der Fähnrich sitzen auf einem Pferd. Zögern wir hier, so wird diese Nacht die letzte der Großmächtigsten Majestät sein, was Gott durch seinen geheimen Ratschluß verhüten möge.«

Der König antwortete von innen:

»Es muß bei dem bleiben, was wir gesagt haben. Drei Mann reiten nicht bequem auf zwei Pferden.«

Der Holsteiner schüttelte den Kopf und ging zum Fähnrich hinunter.

»So ist die Majestät, Ihr verdammte Svenske! Ich habe ihn vom Stall aus hin und her gehen hören. Krankheit und Gewissensbisse sind gekommen. Wie ein pater familias steht der moskowitische Zar unter seinen Untertanen. Einen Zuckerbäckergesellen erhebt er zu seinem Freund und ein geringes Dienstmädchen auf seinen glorwürdigen Thron. Détestable sind seine Gebärden, wenn er pokuliert, und er handhabt das Frauenzimmer à la françois; aber seine erste und letzte parole lautet immer: ›Auf Rußlands Wohl!‹ König Carolus verläßt seine Länder als rauchende Aschenhaufen und besitzt keinen Freund, nicht einmal unter seinen Nächsten. König Carolus ist einsamer als der ärmste Troßkutscher. Hat nicht einmal den Schoß eines Kameraden, wo er sich ausweinen kann. Unter Durchlauchten und Maitressen und Perücken kommt er wie ein Gespenst aus einem tausendjährigen Mausoleum, – und Gespenster gehen am liebsten ohne Kompagnie. Ist er ein homme d'état? Oh Gott! Keinen Sinn für das Allgemeine! Ist er Feldherr? Keinen Sinn für die Massen! Nur Brücken schlagen, Schanzkörbe stellen, in die Hände klatschen wegen einer eroberten Standarte und zweier Pauken. Keinen Sinn für Staat und Armee, nur für Menschen!«

»Dafür kann man auch Sinn haben!« antwortete der Fähnrich.

Er ging heftig auf und ab, und die Finger waren schon so steif vor Kälte, daß er kaum den gezogenen Haudegen halten konnte.

Der Holsteiner zog den zerrissenen Rockkragen um die Backen und fuhr mit gedämpfter Stimme und eifrigen Gebärden fort:

»König Carolus lacht entzückt, wenn die Brücke bricht und Menschen und Vieh elendiglich ertrinken. Kein Herz im Busen. Zum Henker mit ihm! König Carolus ist so ein kleines schwedisches demi-génie, das in die Welt hinauswandert, nur trommelt und paradiert und Fiasko macht; und das Parterre pfeift. Uhi!«

»Und gerade deshalb gehen die Schweden in den Tod für ihn,« antwortete der Fähnrich, »gerade deshalb.«

»Nicht so hitzig, Liebster! Ich lachte ja, daß ich alle Zähne zeigte, als wir uns zuerst sahen.«

»Ich höre Herrn Major gern sprechen, aber ich friere. Wollen Herr Major nicht hinaufgehen und an der Tür des Königs horchen?«

Der Holsteiner ging zur Tür hinauf und horchte. Als er zurückkam, sagte er:

»Er geht nur und geht und seufzt schwer wie ein Mensch in Seelenangst. So pflegt das jetzt beständig zu sein. Die Majestät schläft nie mehr des Nachts. Der Komödiant fühlt sich der Rolle nicht gewachsen, und von den Lebensqualen soll der blessierte Ehrgeiz die bitterste sein.«

»Dann soll es auch das Letzte sein, was wir belachen. Darf ich den Herrn Major bitten, meine rechte Hand mit Schnee einzureiben, denn jetzt schläft sie ein.«

Der Holsteiner tat, was er verlangte, und kehrte zu der Tür des Königs zurück. Er schlug sich mit beiden Händen vor die Stirn. Der graue und borstige Schnurrbart stand gerade aus, und er murmelte:

»Gott! Gott! Bald wird es zur Retraite zu dunkel sein.«

Der Fähnrich rief:

»Lieber Herr, darf ich Sie bitten, mein Gesicht mit Schnee einzureiben. Die Backen erfrieren, von den Schmerzen in meinem Fuß will ich nicht reden. Oh, ich halte es nicht mehr aus.«

Der Holsteiner füllte die Hände mit Schnee.

»Lassen Sie mich Schildwache stehen,« sagte er, »nur eine Stunde.«

»Nein, nein, der König hat befohlen, daß ich hier am Eingang stehen soll.«

»Ach, dieser König! Ich kenne ihn. Ich will ihn froh machen, Philosophie reden, histoires galantes erzählen. Es amüsiert ihn, immer von Liebhabern zu hören, die abenteuerlich durchs Fenster steigen! Er sieht oft das Frauenzimmer von der Seite an, wenn es schön ist. Es ist für seine Imagination da, nur nicht für sein Fleisch, denn er ist ohne Gefühl. Und er ist schüchtern. Will die Schöne ihn einmal unter ihren Seidenschuh bekommen, muß sie selbst ihn attakieren, aber tun, als ob sie flöhe, und alle die anderen müssen der liaison widerstreben. Seine allergroßmächtigste Frau Großmutter hat alles dadurch ruiniert, daß sie schrie: › Mariage, mariage!‹ König Carolus ist vom Scheitel bis zur Sohle der schwedischen Königin Kristina ähnlich, obwohl er männlichen Geschlechts ist. Die beiden hätten miteinander verheiratet und auf denselben Thron gesetzt werden müssen. Das wäre ein nettes Pärchen gewesen. Oh, pfui, pfui! Ihr Schweden! Reitet ein Mann seine Pferde tot und läßt zu, daß Volk und Reich massakriert werden, er ist aber doch von reinem Herzen und supremus unter allen, sein Blut ist nur zu träge für Amouren. Oh, laßt mich in Frieden! Ich kenne reinherzige Heroen, die getreulichst in zwei, drei verschiedene Jungfrauen oder Frauen in derselben Woche verliebt waren.«

»Ja, wir sind so, wir sind so. Aber um Christi Barmherzigkeit willen, reibt mir noch einmal meine Hand! Und verzeiht mir mein Jammern und mein Stöhnen.«

Dicht innerhalb des Tores, das man nicht verschließen konnte, lagen die niedergehauenen Kosaken, vom Reif weiß wie Marmor. Der gelbe Himmel wurde grau, und immer mehrstimmiger und näher tönten die klagenden Rufe: »Ohaho! Ohaho! Ohaho!« Jetzt öffnete der König seine Tür und kam über den Hof herunter. Die Schmerzen im Kopf, an denen er zu leiden begann, waren durch den Ritt schlimmer geworden und machten seinen Blick schwer. Das Gesicht trug Spuren von Seelenkämpfen der Einsamkeit, aber da er sich näherte, nahm der Mund wieder sein gewöhnliches, verlegenes Lächeln an. An der Schläfe war er noch rußig von dem Musketenschuß.

»Es wird kühler,« sagte er und zog einen Brotkuchen aus der Tasche hervor und brach ihn in drei Teile, so daß jeder ein gleich großes Stück bekam, wie er selbst. Dann zog er seinen Reitermantel aus und legte ihn selbst um die Schultern des wachthabenden Fähnrichs.

Über seine eigene Handlung verlegen, faßte er dann den Holsteiner heftig am Arm und führte ihn über den Hof hinauf, während sie an dem harten Brot kauten.

Jetzt, wenn je, dachte der Holsteiner, gilt es, mit einem schlauen Wortspiel die Aufmerksamkeit des Königs zu gewinnen und nachher vernünftig mit ihm zu reden.

»Bessere Herberge kann man finden,« begann er immerwährend kauend und beißend. »Du liebe Zeit! Das erinnert mich an eine galante aventure in der Nähe von Dresden.«

Der König hielt ihn immer noch am Arm, und der Holsteiner senkte die Stimme. Die Erzählung war witzig und schlüpfrig, und der König wurde neugierig. Die gröbsten Zweideutigkeiten lockten aber immer nur sein steifes Lächeln hervor. Er horchte gleich einem verzweifelten, halb abwesenden Menschen, mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung für den Augenblick.

Erst als der Holsteiner mit listiger Geschicklichkeit das Gespräch mit einigen Worten auf die augenblickliche Gefahr überzuleiten begann, wurde der König wiederum ernst.

»Bagatelle, Bagatelle!« antwortete er. »Es ist gar nicht der Rede wert, wenn wir uns nur gut halten und unsere Reputation bis zum letzten Mann soutenieren. Kommen die Schelme, so stellen wir uns alle drei ins Tor und stechen mit den Degen.«

Der Holsteiner strich sich über die Stirn und brach ab. Er begann von den funkelnden Sternen zu sprechen. Er stellte einen Satz auf über das Messen ihrer Entfernung von der Erde. Der König hörte ihm jetzt mit einer ganz anderen Art von Aufmerksamkeit zu. Er ging auf die Frage ein, antwortete scharfsinnig, erfinderisch und mit einer unermüdlichen Lust daran, neue überraschende Sätze nach seinem Sinn auszudenken. Die eine Behauptung reichte der anderen die Hand, und bald weilte das Gespräch beim Universum und der Unsterblichkeit der Seele, um nachher aufs neue zu den Sternen zurückzukehren. Sie funkelten heller und heller, und der König sagte, was er von der Sonnenuhr wußte. Er stieß seinen Haudegen mit dem Griff in den Schnee und stellte die Spitze auf den Polarstern ein, so daß sie am nächsten Morgen die Zeit ablesen könnten.

»Der Kern des Universums,« sagte er, »muß entweder die Erde oder der Stern sein, der über dem Lande der Schweden steht. Nichts darf mehr als das Schwedische gelten.«

Draußen vor der Mauer riefen die Kosaken, aber sobald der Holsteiner das Gespräch auf ihren drohenden Anschlag lenkte, wurde der König wortkarg.

»Bei Tagesgrauen ziehen wir uns nach Hadjatsch zurück,« sagte er. »wir wollen bis dahin nur ein drittes Pferd fangen, so daß jeder bequem im eigenen Sattel reiten kann.«

Nachdem er so geredet hatte, ging er in das Wohnhaus zurück. Der Holsteiner kam mit heftigen Schritten zum Fähnrich herunter, und gegen die Tür des Königs zeigend, rief er:

»Geben Sie pardon, Fähnrich! Wir Deutschen verschwenden keine Worte, wenn uns die Striemen von den Stricken schmerzen, aber ich strecke den Degen und gebe dem Herrn die Viktorie, denn auch ich kann mein Blut lassen für diesen Mann. Ob ich ihn liebe! Niemand versteht ihn, der ihn nicht gesehen hat. – Aber Fähnrich, Sie dürfen nicht länger draußen im Unwetter bleiben.«

Der Fähnrich antwortete:

»Kein Mantel hat mich je herrlicher gewärmt, als der, den ich jetzt trage, und ich werfe all meine Sorgen auf Gott. Aber um Christi willen, Major, gehen Sie zu der Tür zurück und horchen Sie. Der König könnte sich ein Leid antun.«

»Die Majestät fällt nicht von der eigenen Klinge, aber sie sehnt sich nach der eines anderen.«

»Jetzt höre ich seine Schritte bis hier herunter. Sie werden heftiger und unruhiger. Er ist so einsam. Als ich ihn in Hadjatsch unter den Generalen sich verbeugen und verbeugen sah, konnte ich nur denken: wie er doch einsam ist!«

»Kommt der kleine Holsteiner mit dem Leben davon, dann wird er sich allzeit der Schritte erinnern, die wir heute Nacht hörten, und wird diese Herberge allzeit die Gethsemane-Feste nennen.«

Der Fähnrich nickte Beifall und antwortete:

»Gehen Sie in den Stall hinauf, Herr Major, und suchen Sie eine Stunde Ruhe und Schutz zwischen den Pferden. Und dort können Sie durch die Wand den König besser hören und über ihn wachen.«

Danach begann der Fähnrich mit lauter Stimme zu singen:

»Befiehl du deine Wege ...«

Der Holsteiner ging über den Hof in den Stall zurück, und mit der Zunge vor Frost stotternd, stimmte er mit dem anderen ein:

... »Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt ...«

»Ohaho, Ohaho!« antworteten die Kosaken im Sturm, und es war schon späte Nacht.

Der Holsteiner duckte sich zwischen die beiden Pferde hinein und horchte so lange, bis die Müdigkeit und der Schlaf seinen Kopf beugten. Erst gegen Morgen wurde er von einem Lärm geweckt. Er sprang ins Freie hinaus; der König stand schon auf dem Hof und betrachtete das als Sonnenuhr ausgestellte Schwert.

Am Tor hatten sich die Kosaken versammelt, aber als sie die unbewegliche Schildwache sahen, schauderten sie abergläubisch zurück und dachten an die Gerüchte von den Zauberkünsten der schwedischen Soldaten gegen Hieb und Schuß.

Als der Holsteiner zum Fähnrich herangekommen war, faßte er ihn fest am Arm.

»Was nun?« fragte er. »Branntwein?«

Im gleichen Augenblick ließ er den Arm fallen.

Der Fähnrich stand zu Tode gefroren da, mit dem Rücken gegen die Mauer und mit den Händen auf dem Degengriff, in den Mantel des Königs gehüllt.

»Da wir jetzt nur zwei sind,« sagte der König und zog seine Waffe aus dem Schnee, »können wir uns auf den Weg machen, jeder auf seinem eignen Pferd, wie ich es gesagt habe.«

Der Holsteiner stierte ihm mit wiedererwachendem Haß in die Augen und blieb stehen, als habe er nichts gehört. Schließlich führte er doch die Pferde hinaus, aber seine Hände zitterten und ballten sich, so daß er kaum den Sattelgurt festschnallen konnte.

Die Kosaken schwenkten ihre Säbel und Piken, aber die Schildwache stand auf ihrem Posten.

Da sprang der König ungestüm in den Sattel und setzte das Pferd in Galopp. Seine Stirn war klar, seine Wangen färbten sich rötlich, und der Haudegen glänzte wie ein Sonnenstrahl.

Der Holsteiner blickte ihm nach. Sein bitterer Ausdruck wurde milder, und er murmelte zwischen den Zähnen, während er selbst in den Sattel stieg und mit der Hand am Hut an der Schildwache vorbeijagte:

»Das ist nur die Freude eines Helden daran, den schönen Tod eines Helden zu sehen. Merci, Kamerad!«


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