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Poltawa

Am ersten Mai hielt Feldmarschall Rhensköld Abendtafel, und Oberst Appelgren wurde heiß um die Stirn und fragelustig und knetete Brotkügelchen mit den Fingern und schielte mit den Augen.

»Kann mir Exzellenz sagen, warum Poltawa durchaus belagert werden soll?«

»Seine Majestät will ein Amusement haben, bis die Polacken und Tataren zum Entsatz kommen.«

»Und doch wissen wir, daß keiner von ihnen kommt. Europa beginnt unseren Hof à la Diogène zu vergessen, mit seinen reitenden Staatsministern, fechtenden Kanzleibeamten, fallenden Kammerherren, Ehrenplätzen auf Baumstümpfen ... und mit seinen Palästen aus Zelttuch mit den kleinen Eierkuchen und dem Dünnbier auf der königlichen Tafel ...«

»Seine Majestät will jetzt die Genietruppen exerzieren und wird sein Lustlager halten, so lange er lebt. Somit haben wir Zeit vor uns. Poltawa ist eine kleine Flohfestung, die kapitulieren wird, wenn der erste Schuß knallt.«

Der Feldmarschall schwieg plötzlich und ließ die Gabel fallen.

»Ich glaube, die in der Stadt sind toll und wollen sich defendieren!«

Er sprang hinaus und warf sich in den Sattel, und alle erhoben sich und hörten ein anhaltendes Schießen.

Die russischen Vorposten rings um den Wall hatten die Gewohnheit, in der Dämmerung sehr lange: »Gute Nacht, gutes Dünnbier!« zu rufen.– Während dieses Geschreis hatte jetzt Oberst Gyllenkrok ohne daß jemand seinen Anmarsch hören konnte, angefangen, die Laufgräben zu öffnen und eine Bedeckung aufzustellen, aber im gleichen Augenblick lief der König über das Feld und rief recht laut nach seinem Generaladjutanten. Weil er den Haudegen gezogen hielt, machte ihn das Laufen nicht lächerlich. Gyllenkrok bat ihn, nicht so laut zu schreien, um den Feind nicht zu alarmieren, aber schon während er sprach, verstummten die Vorposten und fingen statt dessen an, Feuer zu zünden und zu schießen. Die Leuchtkugeln, die in die Höhe stiegen, warfen ihren Schein über die Hügel und Wiesen und spiegelten sich in dem dahineilenden Wasser der Worskla. Da sprangen die arbeitenden Saporoger Gyllenkroks von ihren Spaten und Schanzenkörben weg, und die schwedischen Soldaten, die mit flachen Degen auf ihre Lederröcke losschlugen, fingen schließlich selber zu flüchten an, oder sich auf den Boden niederzuwerfen.

So hatte das Schießen angefangen.

»Siehe da,« sagte Gyllenkrok, der mir dem König und einem kleinen Prinzen hinter einem Baum stand. »So große confusion kann ein kleiner accident verursachen, und noch einmal erdreiste ich mich, zu proponieren, daß die Belagerung aufgegeben werde. Mit meiner Bitte vereinen sich die ermüdeten Truppen und alle die unglücklichen Untertanen zu Hause. Weshalb wurden wir nicht im Winter hierher befohlen, als die Stadt mit Leichtigkeit zu nehmen war? Jetzt wird die Besatzung jeden Tag verstärkt, und die ganze Armee des Feindes ist im Anrücken. Wir haben nur noch dreißig Feldstücke, und das Pulver, das verschiedenemal naß geworden ist und dann wieder getrocknet wurde, wirft die Kugel nur ein kleines Stückchen von der Mündung weg.«

»Lappalien, Lappalien! wir haben doch manchen Stock durchgeschossen, der dicker war als ein Sturmpfahl.«

»Aber hier müssen wir viele Hunderte wegschießen.«

»Kann man einen wegschießen, so kann man auch Hunderte wegschießen. Wir müssen gerade das tun, was außerordentlich ist, damit wir Ruhm und Ehre davontragen. Jetzt wollen wir den Saporogern zeigen, daß man hier ohne die geringste Gefahr arbeiten kann.«

Der König steckte den Haudegen unter den Arm und ging in dem Kugelregen auf das Feld hinaus. Hinter ihm ging der Kleine Prinz, blaß, aufrecht, feierlich, wie in der Vorzeit ein Jüngling im Festzug zum Tempelopfer schritt.

Zwei dicke Pfähle waren wie Zaunpfosten neben dem offenen Laufgraben in den Boden getrieben, und hier blieb der König hinter einem niedergefallenen Feuerball stehen, dessen flammendes Licht ihn dem Feind bloßstellte. Der Kleine Prinz warf ihm einen zaghaften Seitenblick zu und fuhr mit der Hand, die ein wenig zitterte, auf dem Degengriff hin und her. Dann kletterte er an dem einen Pfahl hinauf und stellte sich kerzengerade hin. Da stieg ein Unteroffizier, der Martin Prediger genannt wurde, auf den anderen Pfahl. Er hatte ein lederbraunes Gesicht, schwarzes Haar und Messingringe in den Ohren. Unbeweglich wie zwei bemalte Holzbilder an einer katholischen Landstraße standen so die beiden Wachen hinter ihrem König, und die wütenden Russen richteten ihre Feldschlangen und Kanonen und Musketen auf die wunderliche Erscheinung. Keiner wollte sich demütigen und zuerst heruntersteigen, und deshalb mußten sie stehen bleiben. Es heulte und sauste wie von Peitschen und Ruten, es pfiff wie Sturmwind, und aufprallende Kanonenkugeln warfen Sand und Torf in die Luft. Es blitzte und donnerte, und der Boden zitterte wie ein erschrockenes Pferd, Holzsplitter und Steinscherben flogen umher.

»Der König ist da! Sie werden ihn erschießen!« riefen die Soldaten und stürzten hervor und rissen die Saporoger mit sich. Wieder wurden die Spaten genommen, und wieder rissen die Saporoger den Rasen auf und gruben Löcher, um sich niederlegen und schützen zu können.

Da stand nun in dem flatternden Feuerschein der Mann, der Majestät für Exzellenzen und Generale war, Kamerad für die Soldaten, zugleich Landstreicher, König und Philosoph. Den ganzen Tag hatten ihn die dunkeln Erinnerungen heimgesucht. Er dachte an Axel Haard, den er selbst aus Versehen getötet hatte, und den erschossenen Jugendfreund Klinckowström. Er vermißte keinen von ihnen, aber er konnte ihre blutigen Kleider nicht vergessen. All der himmelstürmende Leichtsinn der Knabenjahre erwachte in ihm und brachte die schweren Gedanken zum Schweigen, als er die Kugeln hörte. Er hatte den Becher der Kriegsabenteuer bis zur Neige gekostet, und der Trank mußte täglich stärker und stärker gewürzt werden, um noch zu schmecken. Die großen, lärmenden Siege begann er in kühlerem Lichte zu sehen, nachdem sie seltener wurden. Wohl konnte er noch mitunter davon reden, er wollte große Staaten regieren, aber es war hauptsächlich, damit sie ihm täglich Hunderten von neuen, tapferen Trabanten lieferten. Er vergaß nicht, daß dieser Augenblick sein letzter sein konnte, aber die Jahre des Unglücks waren gekommen, – und wie schön wäre die Ruhe nach einem ehrenvollen Tod! Zu wollen und das Können in sich zu fühlen und doch zu scheitern und zum Spottlied zu werden, weil die anderen nicht mehr zu folgen vermögen, – das war der frostige Windstoß des Lebensherbstes! Er wollte versuchen, er wollte zeigen, daß er noch der Ausnahmemensch in Gottes Schutz sei. Und war er das nicht, dann wollte er fallen wie der einfachste Soldat.

Martin Prediger wurde derweile so eifrig, daß er sich nicht unbeweglich oben auf dem Pfahl halten konnte, sondern die Muskete vom Rücken riß. Wer kannte nicht Martin Prediger, den Erzschützen, der selbst den König zum Händeklatschen veranlassen konnte? Sowohl einen Infanteristen wie einen Reiter konnte er in voller Flucht treffen. Er schwätzte und lachte und legte die Waffe ans Auge und schoß auf einen Schatten, der auf den hintersten Kirschbaum geklettert war, und der, von der Kugel getroffen, wie ein Vogel zwischen den blühenden Zweigen heruntertaumelte. Da kam das Jägerfieber über Martin Prediger, und er sprang hinunter und lief zu der Stelle.

Dort lag ein erschossener Greis, und daneben stand ein neunjähriges, kleines Mädchen.

»Das ist Vater,« sagte sie, ohne zu weinen, und sah Martin Prediger an. »Wir suchten Nesseln, und auf dem Heimweg ...«

»Na, ja, auf dem Heimweg ...«

»Hörten wir das Schießen, und da kletterte Vater hinauf, um sich umzusehen. Es ist Vaters Kirschbaum.«

Martin Prediger schüttelte den Kopf und nahm seinen Hut ab, kratzte sich im Haar und setzte sich nieder.

»Gott verzeihe mir ... der Alte hat mir ja nie was getan ... liebes Kind... du kannst dies nicht verstehen, aber einen Dukaten habe ich in der Tasche. Da nimm ihn! Siehst du, mein Mädchen, ich bin Jäger, verstehst du, ein richtiger, alter Erzjäger. Früher hatte ich mein Häuschen und meine Alte, die schimpfte und nach mir schlug, weil ich nie den Spaten anrührte ... weißt du, was ein Spaten ist? ... sondern nur im Walde saß und auf das Birkhahnspiel lauerte. Hör jetzt zu! Da nahm ich eines Morgens meine Donnermuskete und meinen Hund und ging meines Weges hinaus in die Welt.«

Da« Mädchen drehte den Dukaten im Feuerscheine, aber er zog es zu sich auf den Schoß und streichelte ihm leise die Wangen.

»Als ich so den ersten Tag gegangen war, erschoß ich den Hund. Als ich den zweiten Tag gegangen war, gab ich die Muskete einem Waldmann, der mir den Weg gezeigt hat«. Dann hatte ich nichts mehr.«

»Kann man was kaufen für die Münze?«

»Gewiß, gewiß! Als ich dann ins Feld zog und eine Kriegsmuskete erhielt, da kannst du glauben! Da wurde ich wieder Jäger. Aber der Himmel erbarme sich ... du sollst jeden Abend in der Dämmerung hierher kommen, und du sollst die Hälfte meiner Tagesration haben und alles, was ich zusammensuchen kann.«

Er stierte auf die Muskete im Gras. Sodann erhob er sich und ging und ließ sie liegen.

»Das Mädchen kann nicht wissen, daß ich es war, der schoß, und sie soll das nie erfahren. Ich bin ein Judas, der einen Schuldlosen ums Leben gebracht hat. Nicht morden! Nicht morden!«

Er hielt sich die Stirn und wankte über das Feld dahin. Da kam er zu den Dragonern d'Albedyhlls, die rings um ein Lagerfeuer lagen und in ihren Gebetbüchern lasen, und dort setzte er sich auch zum Lesen hin, und schließlich begann er laut zu beten und zu predigen.

»Was Neues?« fragten die Soldaten am nächsten Morgen den rothaarigen Marketender Brakels, einen kleinen allwissenden Westgoten, der in seinem grauen Wams zwischen Töpfen und aufgehängten Kleidern stand.

»Neues? Martin Prediger hat, wie es scheint, mitten in der Nacht einen Sonnenstich bekommen und ist für den Narrensarg reif geworden. Er geht barhäuptig unten am Fluß herum und ruft. Wenn die Predigerkrankheit über ihn kommt, hat er immer jemand erschossen.«

Düster und schweigend empfingen die Soldaten die kaum halbgefüllten Blechschalen.

»Brot oder Tod! Warum dürfen wir nicht stürmen, ehe es zu spät wird?«

»Der König exerziert bei den Laufgräben, und Gyllenkrok muß Tag und Nacht bei der Arbeit stehen. Hört jetzt auf Martin Prediger unten am Wasser! Das ist hier ein Beten und Psalmodieren in der letzten Zeit geworden, daß es einem warm ums Herz macht, die Verrücktheiten des Feldmarschalls zu hören.«

In der Dämmerung schlich sich Martin Prediger zu dem Kirschbaum, wo die kleine Neunjährige schon stand und mit ihrem glatten, flachsgelben, fast weißen Haar und ihrem ernsten Gesicht wartete.

Er hatte seine Tagesration mitgebracht, und er gab ihr seinen letzten Kopeken gegen das versprechen, daß er sie auf beide Wangen küssen dürfe.

»Lebt deine Mutter?«

Sie schüttelte ihren Kopf.

»Wie heißt du?«

»Dunja.«

Er wollte sie wieder auf die Wange küssen, aber sie zuckte zur Seite.

»Gib mir zuerst einen Kopeken!«

Er ging nach dem Lager zurück, – und bettelte um Kopekenstücke bei allen, denen er begegnete.

»Ich werde über sie wachen, wenn es zum Sturm kommt. Sie ist wie eine kleine, kleine Prinzessin. Ich werde von meinem Solde zurücklegen, so daß sie einmal etwas bekommt, womit sie heiraten kann... weshalb sollte sie nicht heiraten können?... Gewiß, gewiß! Ich habe ja meine Alte daheim, und habe auch eine Alte beim Troß. Und ich bin ja ein Mörder. Freilich soll eine kleine Prinzessin heiraten!« ...

Er hatte eine Abschrift von dem Evangelium Johannis bekommen, und er setzte sich hin und las daraus den Dragonern d'Albehylls laut vor.

Alle Kräuter des Frühlings stammten auf den hügeligen Wiesenfeldern bis zu dem gelblichen Flußbett der Worskla hinunter, aber die Soldaten schauten nur nach Poltawa hin, das zwischen den Waldungen auf der Höhe mit seinen weißen Klosterwänden vorlugte, seinen Holztürmen, Schanzpfählen und Wällen, auf denen Männer und Greise, Frauen und Rinder eine Brustwehr aus Erdsäcken, Wagen, Reisigbündeln und Tonnen auftürmten.

»Was Neues? Führt man uns nie gegen den Feind?« fragten die Soldaten den Marketender.

»Der Feind ist höflich genug, statt dessen zu uns zu kommen,« antwortete er und trocknete seine Stirn mit dem Wams. »Heute Nacht hörte ich, wie seine Feldstücke rollten. Das viele Schießen kommt nicht von den Schweden, denn wir haben nur die Kugeln, die die Saporoger aus dem Boden hervorsuchen. Es ist die ganze Armee des Zaren, die schon auf der anderen Seite des Flusses steht.«

Da kam Generalmajor Lagercrona, die Sporen in die Flanken seines Pferdes gebohrt, und rief, der König sei am Fuß verwundet; und an der königlichen Tragbahre zeigte der Feldmarschall in seinem Notizbuch die Lage der sechzehn Redouten, die der Feind schon beim Dorf Pietruska aufzuwerfen begonnen hatte.

»Was Neues?« murmelten die Soldaten täglich beim Marketender.

»Haben sie nichts anderes zu bieten, dann bin ich reicher,« antwortete er und zeigte mit dem Löffel rings auf die grünende Landschaft. »Der König hat den kalten Brand in die Wunde bekommen. Der Branntwein ist zu Ende. Das Brot ist zu Ende, etwas Grütze habe ich heute noch für euch, – aber dann ist auch die zu Ende. Der Feind hat uns eingeschlossen und macht uns den Rückzug streitig. Zum Teufel! Zum Teufel! Das müssen die Schweden sein, die solch bittere Tage aushalten.«

Er stampfte auf den Boden und legte den Löffel ans Auge und zielte wie ein Meuchelmörder gegen die zerschossene Hütte des Königs, aber die verfrorenen und ehrbaren Häupter rings um ihn senkten ihre Blicke.

»Nicht morden!« flüsterte Martin Prediger mit erhobenen Armen.

So verstrich nun der Monat Mai, und die Junihitze schien durch die Zelttücher herein. Die Soldaten saßen in einer Reihe und umwanden den Maibaum, aber sie redeten nichts. Sie dachten an die Wiesen daheim, an die Häuschen, an die weiten, weiten Heiden.

Am Sonntag, etwas vor dem Abendgottesdienst, schlich Martin Prediger nach dem Waldstück, wo die kleine Dunja ihm für einige Kopeken einen Korb mit den ersten halbreifen Kirschen reichte. Er verzehrte sie mit ihr zusammen und streichelte ihre kleinen Hände und spielte mit ihr und trug sie wie ein Kind, aber er konnte sie nie dazu bringen, zu lächeln. Für seine letzten drei Kopeken durfte er sie dann dreimal auf die Wangen küssen.

Als er zurückkam, herrschte Unruhe und Lärm. Die Offiziere musterten die Montierung der Soldaten und fingerten an den Degen, die vielfach so dünngeschliffen waren, daß sie verbrauchten Sensen glichen, und der Marketender Brakels raffte seine leeren Töpfe zusammen. Der König hatte beschlossen, eine Bataille zu liefern.

Auf der Grasbank draußen vor dem Fenster des Königs saßen schon die Generale und Obersten, um ihre Abteilungen und ihre Papiere in Empfang zu nehmen. Da saß der schwermütige Lewenhaupt mit seinen großen, klaren Augen, ein kleines lateinisches Handlexikon zwischen die Rockknöpfe gesteckt. Dort saß der schöne Creutz, die Hände über dem Degenknopf gekreuzt, und Sparre und Lagercrona führten ein lautes und lärmendes Gespräch. Oberst Gyllenkrok stand, über seine Fortifikationszeichnungen gebückt, an einem Tisch, vor dem er so verhext stand, daß er die anderen nicht im geringsten beachtete, sondern sich statt dessen damit beschäftigte, vorsichtig und langsam die Sandkörner von den geliebten Zeichnungen wegzuschnippen. Hin wenig zurückgelehnt und in seiner schlechtesten Laune, stand an der Tür der Feldmarschall selbst, mit seiner spitzigen, etwas aufgestülpten Nase und seinem gespitzten, purpurroten Mädchenmund.

 

In der Dämmerung wurde der Marsch angetreten, mit zusammengerollten Fahnen und ohne Musik, und in einer Waldung wurde die Bahre des Königs eine kleine Strecke vor der Leibgarde niedergesetzt. vom Feld her hörte man, wie der Feind an seinen Palisaden wie an Schafotten für seine Opfer polterte und hämmerte. Die einstmals so stolze Schar der Karoliner hatte jetzt so wenig Pulver und Kugeln, daß sie nicht mehr als vier armselige Feldstücke ins Treffen führen konnte; und jetzt, da sie die Hammerschläge so nahe hörten, wurden mehrere von den narbigen Kriegern von körperlicher Angst befallen und boten vergebens einen Dukaten für einen Schluck Branntwein. Der Mond war im Abnehmen. Die Pferde waren gesattelt, und die Kerle hatten die Muskete oder den Karabiner an der Seite, von einem der Fußregimenter her hörte man Murmeln und Flüstern, – der Feldprediger verteilte das Abendmahl, und er mußte mit der linken Hand tasten, um im Dunkeln mit dem Kelch den Mund der Knieenden zu finden. Rings um die Bahre, neben der der König seinen Haudegen in den Boden gesteckt hatte, legten sich einen Augenblick die Generale in ihren Mänteln nieder, und Piper saß auf einer Trommel, mit dem Rücken gegen einen Baum. Um die Macht der dunkeln Gedanken zu brechen und sie zu verscheuchen, begannen sie ein philosophisches Gespräch mit dem König. Er saß mitten in einem Kreis von Grüblern und Gelehrten, wie ein Meister in seiner Schule, und Lewenhaupt, der gute, alte Lateiner, las römische Verse vor.

Als er schwieg, nahm er eine brennende Fackel aus der Hand des Lakaien und beleuchtete den König, dessen Kopf zur Seite geglitten war. Piper und alle Generale erhoben sich und vergaßen ihren Groll, so schön schien ihnen der Anblick des Schlafenden. Der Hut lag auf den Knieen, und die Decke war um den kranken und gewickelten Fuß gehüllt. Das abgemagerte und fieberverzehrte Gesicht mit seinen Frostschäden an Nase und Wangen war noch kleiner und härter und steifer geworden als früher. Gelblich und hager, wurde es von einem allzufrühen Alter überschattet, aber es zog und zuckte in den Lippen. Man sah, daß er träumte.

Der König der Karoliner träumte, er sehe eine unendliche Reihe kichernder und spottender Menschen, die eilig vorbeigingen und die Hände vorhielten, um zu verbergen, wie sie ihn auslachten. Manchmal waren sie schön grün, mitunter rot oder blau, und sie leuchteten wie angezündete Laternen. Schließlich kam auf einem Schweißfuchs ein großer Mann, der vom Kopf bis zum Fuß in staubigen, schwarzen Seidentaft gekleidet war. »Hinaus, du kahlköpfiger und hinkender Schwede!« rief er laut auflachend vom Pferd herunter. – »Auf dieser gleichen Stelle schlugen schon vor dreihundert Jahren die Horden Tamerlans die gesammelten Heerscharen des Westens. Was willst du mir und meinem Menschenmeer anhaben mit deinen letzten sich lichtenden Regimentern und deinen vier Feldstücken? Meine Männer sind Diebe und versoffene Halunken, und sie sind mir weniger wert als die Nägel in einem Brett, aber ich habe viele solche Nägel. Ich baue an einem großen Schiff für Jahrtausende, und ich selbst bin noch heute so, wie einst, damals, als ich auf dem Werft in Saardam stand, – nur der Zimmermann. Millionen und aber Millionen werden mein Werk segnen.«

Der König wollte antworten, aber seine Zunge war gelähmt, und Lewenhaupt kniete mit entblößtem Haupte und berührte leise seine Schulter.

»Allergnädigster Herr, der Tag beginnt, und ich rufe Gottes Schutz herab über Eurer Majestät hohe Person und Ihr Werk.«

Die Morgenglut brannte schon zwischen den Stämmen, und der König schlug die Augen auf. Er ergriff sogleich den Haudegen. Sobald er der Menge gewahr wurde, die ihn umstand, und des bärtigen Trabantenpredigers Nordberg und aller Lakaien, verwandelten sich seine Züge, und er nickte mit seiner gewöhnlichen, kühlen Liebenswürdigkeit, – aber der Traum stand noch deutlich vor seinen Gedanken. Es schien ihm, als müßten die anderen ihn auch gesehen haben.

»Mein Volk,« sagte er, »ist zu klein, um ein großes Werk zu bauen, aber groß genug, um große Menschen zu bauen, was ist ein Reich? Ein Zufall, ein weit ausgedehnter Grundbesitz mit Festungen an den Grenzen. Streit und Schlägerei verschieden die Grenze. Was dann, Zar, wenn du Macht über Millionen hast, aber nicht über dich selbst, – was dann? Der Herrgott kann es so bestellen, daß man einstmals wenig nach den Staaten fragt, aber um so mehr nach den einzelnen Menschen. Wenn ich dich besiege, fängt dein ganzes Schiff Feuer und wird zu bloßer Asche, aber wenn du mich und meine Mannen niederschlägst, vollendest du nur den Sieg meines Werkes.«

Lewenhaupt packte Creutz am Arm und flüsterte schwermütig:

»Lieber Freund, die düsteren Ahnungen verlassen meinen Sinn nicht. Ob wir alle je wieder zusammen unter Gottes freiem Himmel stehen werden? Hörst du, wie der Feldmarschall flucht und schimpft hinter den Upplandsleuten! Gyllenkrok will nicht einmal zu ihm hingehen und Orders verlangen. Auch du zögerst. Und sieh, wie hochnäsig Piper nach uns gafft!«

»Die Schweden sehen sich immer hochnäsig an. Deshalb, deshalb werden sie eines Tages vernichtet und wird ihr Name unter den Völkern ausgelöscht werden. Unsere Kinder im zehnten oder zwanzigsten Glied werden die Stunde erleben. Dies ist nur der Anfang.«

»Der Herr vergebe dir deine Worte. Niemals sah ich herrlichere Helden Gottes als die Schweden, und niemals sah ich ein Volk, so völlig frei von Selbstgefühl und unberührt von den groben Händen der Herrschsucht. Der König ist jetzt zu krank, um uns länger zusammenzuhalten, obwohl er so ruhig tut, wie ein junger Kornett. Er bekam bei der Geburt den Leichtsinn mit, den die Götter ihren Schützlingen verleihen, jetzt aber ...«

»Jetzt?«

»Jetzt hat er die undurchdringliche Selbstbeherrschung und Verstellung, zu der der Leichtsinn dieser Schützlinge gefriert, wenn die Götter sie verlassen.«

Lewenhaupt drückte den Hut auf den Kopf und zog den Degen, aber er wendete sich noch einmal an Creutz und flüsterte:

»Vielleicht, daß Männer, wie ich mit meiner Fürsorglichkeit für die Mannschaft und Gyllenkrok mit seinem Reißzeug und allen seinen mit Palisaden frisierten Redouten ihn nicht immer richtig verstehen. Du mit deinem Haudegen hast blindlings gehorcht. Mögen wir heute alle mit ihm seine Mission vollenden! Denn ich prophezeie, daß wer den Abend erlebt, die Brüder beneiden wird, die bis dahin in die himmlische Seligkeit eingegangen sind.«

Die Reiter sprangen jetzt in den Sattel. Lewenhaupt ging zu seinen Fußregimentern, und im Tagesgrauen sahen sie das wartende Feld vor sich. Es war schwarz. Es war schon abgebrannt. Es war eine Aschenwüste, die ohne Blüte und Blatt zwischen Waldungen in öden Steppen verschwand. Es war so flach, daß die Munitionswagen bequem hin und her fahren konnten.

Ein rotgekleideter Reiter kam vor die größte russische Redoute gesprengt und feuerte seine Pistole ab. Da ließ der Feind alle Trommeln hinter den Verschanzungen rühren, auf denen unzählbare Soldatenschwärme, Standarten, Feldschlangen und Kanonen sichtbar waren, und sogleich antwortete die schwedische Musik von allen Regimentern nach der Reihe.

Der verwegene Axel Sparre und Karl Gustaf Roos stürzten mit ihren Bataillonen dem Heer voran und stürmten die Feldschanzen. Die Pferde schnauften, das Sattelzeug knarrte, Karabiner und Degen klirrten, und Asche und Staub fielen über die Waldungen, so daß das Grün des Laubes erlosch.

Der König sandte Creutz mit dem linken Flügel dem siegenden Sparre nach, und hinter den eroberten Schanzen wurde die Kavallerie des Feindes in die Flucht gejagt, hinunter, den sumpfigen Wiesen an der Worskla zu. Auf der anderen Seite rückte Lewenhaupt mit dem Fußvolk vor, nahm zwei Schanzen ein und ordnete seine Truppe, um von Süden her das Lager des Feindes mit dem Bajonett anzugreifen. Da drinnen wurde die Unruhe so groß, daß die Frauen anfingen, die Pferde vor die Troßwagen zu spannen, aber die Zarin selbst, eine hochgewachsene Dame von einigen zwanzig Jahren, mit hohem Busen, weißer Stirn und starker Farbe auf den Wangen, stand noch zwischen ihren Verbandlappen und Wasserflaschen, fast hochmütig ruhig, draußen bei den Verwundeten.

Unterdessen versammelten sich die Generale um die Bahre des Königs, die unweit vom Ostgöta-Regiment mitgetragen und nun an einem Sumpf niedergesetzt wurde. Hier wurde Halt befohlen, und ein Haufen begann schon unter Hutabnehmen und tiefen Verbeugungen Seiner Majestät zu gratulieren und weiteren Progreß zu wünschen, während der Lakai Hultman Wasser siebte und in einem Silberbecher sammelte, sagte der König:

»Generalmajor Roos ist umzingelt worden, und der Feldmarschall hat daher die anderen Truppen zurückgehalten, aber Lagercrona und Sparre sind zurückgeschickt, um Roos zu helfen, und er muß bald hier sein.«

So blieb die Armee eine Weile stehen, aber bald kam Sparre mit Blut bespritzt an und berichtete, daß er wegen der großen Übermacht des Feindes nicht habe durchkommen können. Die Truppen marschierten jetzt eine lange Weile hin und zurück, ohne daß die Offiziere wußten, wohin sie sie führen sollten; und während so die Zeit vergeudet wurde, schöpften die Russen neuen Mut. Da setzte sich Lewenhaupt plötzlich in Bewegung, zog nach der Waldstrecke, wo Creutzens Schwadronen sich festgesetzt hatten, und stellte da das Fußvolk in Linien gegen den Feind auf. Keiner wußte, von wem der Befehl dazu gegeben worden war, und außer sich vor Wut galoppierte der Feldmarschall an die Bahre des Königs, die neben der Garde hergetragen wurde.

»Sind es Eure Majestät, die Lewenhaupt befohlen haben, sich mit dem Fußvolk gegen den Feind aufzustellen?«

Der unehrerbietige Ton machte den König verlegen, und wie im Licht einer plötzlich geöffneten Blendlaterne sah er, wie müde und kalt sogar seine nächsten Günstlinge in der Runde ihn anstierten.

»Nein,« antwortete er zögernd, wurde aber feuerrot, und alle begriffen, daß er log.

Da erlosch in dem wahnsinnig wütenden Feldmarschall der letzte Strahl von Ehrfurcht und Glauben. Er gab dem Groll und der Verzweiflung, die alle seit Tagen und Monaten genährt hatten, freien Lauf. Der wegen seiner Wahrheitsliebe vielgerühmte König war mit einem Schlag zu einem verwundeten Soldaten degradiert, der sich tölpelhaft betragen hatte und sich mit plumpen Ausflüchten herausreden wollte. Er besann sich nicht. Der Augenblick der Rechenschaft war gekommen. Er war seiner nicht länger mächtig. Er mußte rächen und strafen und demütigen. Er wollte nicht tun, als ob er der Lüge glaube. Er bemühte sich nicht einmal, die übliche Anrede auszusprechen.

»Ja, ja,« rief er vom Pferde herab: »So macht's der Herr immer! wollte Gott, der Herr ließe mir das Kommando!«

Damit drehte er ihm den Rücken.

Der König saß unbeweglich auf der Bahre, vor dem ganzen Regiment war er beschimpft worden, und seine Scheu und sein Widerwille gegen Zank und Streit hatten ihn zu einer unüberlegten, armseligen Lumperei verleitet. Seine eigenen Leute hörten ihn lügen, wie einen zur Rede gestellten Troßkutscher. Er konnte sein Wort nicht zurücknehmen, ohne seiner Scham noch mehr Blößen zu geben. Die Erniedrigung, die er sich selbst als Mensch zugezogen hatte, war ihm unerträglicher, als wenn er seine Krone verloren hätte. Er wollte aufspringen und sich auf ein Pferd stürzen und die großen Massen, seine Männer mit sich reißen, die noch glaubten, daß er der von Gott Erkorene war. Aber die Schmerzen im Fuß und die starke Ermattung fesselten ihn. Die Wangen glühten noch, aber es war die Hitze der Fieberkrankheit, und zum ersten Mal zitterte der Haudegen in seiner Hand, die er jetzt kaum zu heben vermochte.

»Die Bahre vor die Front!« rief er. »Die Bahre vor die Front!«

»Die Kavallerie ist noch nicht angekommen,« brach Gyllenkrok mir Heftigkeit los. »Ist es möglich, daß die bataille schon anfangen soll?«

»Jetzt marschieren sie,« antwortete der König verwirrt, »und der Feind kommt mit der Infanterie aus seinen Stellungen.«

Da befahl Gyllenkrok den König dem Schutz Gottes und stieg zu Pferd neben der Garde, die schon vorrückte und ihre erste Salve abgab.

Das Feldzeichen war ein Büschel Stroh am Hut, und durch das Getöse von Schüssen, Trompeten, Oboen, Trommeln und Reiterpauken tönte das Feldgeschrei der Truppen: Gott mit uns! Gott mit uns! – Im Gedränge und weiter draußen auf dem Feld begegneten sich alte Kriegskameraden oder nahe Verwandte, die früher daheim lustig beisammen gesessen hatten auf Hochzeiten und Kindtaufen, und sie riefen einander einen letzten Gruß zu. Da, wo der Raum breiter war, marschierten Hauptleute und Leutnants und Fähnriche vor den Bataillonen, blaß wie Leichen, im Takt mit der Musik, als zögen sie zu einer Parade auf dem Burghof des alten Schlosses »Drei Kronen«, aber die Soldaten ballten die Faust über den leeren Patronentaschen. Mitten durch das Feuer der Redouten gingen die Leibgardisten in strammen Gliedern, die Muskete auf der Schulter; aber als sie dem Feind auf den Leib gekommen waren, schüttelten sie die versagenden Gewehre wütend und griffen zu den Bajonetten. Staub und Ruß machten alles grau, so daß die grünen Röcke des Feindes nicht länger von den blauen unterschieden werden konnten, und Schweden hoben den Kolben gegen Schweden, vor den Dragonern Cruses stürzte der Kornett Queckfelt vom Pferd, mit einer Kugel im Leib und dem Banner in den Armen. Rittmeister Ritterborg, der am Morgen seinen grauhaarigen Vater unter den Trabanten an der Bahre des Königs hatte fallen sehen, wurde ohnmächtig aus dem Handgemenge geschleppt: Vor Nylands Regiment fiel Oberst Torstenson, und Leutnant Gyllenbögel hatte einen Schuß durch beide Wangen, so daß man das Licht quer durchsehen konnte. Im Gebüsch hinter den Skaaneschen Standdragonern wankte Hauptmann Horn, am rechten Bein arg zerfetzt, und sein treuer Diener, Daniel Lidbom, hielt ihn um den Leib und trocknete seine Stirn. Der Reiter Per Windropp saß tot auf dem Pferd, die Quasten einer zerrissenen Kompagniefahne in der Hand, und Leutnant Pauli, der ihn für nur verwundet hielt, bot ihm seine Wasserflasche, vor dem Kalmar-Regiment sank Oberst Rank, ins Herz getroffen, Major Lejonhjelm lag mit abgeschossenem Bein, und an der Leiche des Oberstleutnant Silfversparre kämpfte mit zerbrochenem Degen Fähnrich Djurklo, um die Fahne zu retten, bis er sterbend niedersank. Rund um ihn lag die ganze Hälfte der Unterbefehlshaber und der Mannschaft als Ehrenwache. Das Regiment Jonköping, das zuvorderst an den Redouten gewesen war, trug seinen verwundeten Oberst, und nachdem Oberstleutnant Natt och Dag und Major Oxe in ihrem Blut gefallen waren, übernahm Hauptmann Mörner den Befehl. Neben ihm lag platt auf der Erde in der Asche Fähnrich Tigerskiöld, das Gesicht in die Hände vergraben und auf den Ellbogen gestützt, aus fünf Wunden blutend. Kaum ein Viertel des Regiments konnte noch die Waffen führen. In diesem Augenblick kam der Feldmarschall geritten und rief Mörner mit grober Heftigkeit an:

»Wo zum Teufel sind die Offiziere des Regiments hingekommen?«

»Sie liegen blessiert oder tot!«

»Weshalb zum Teufel noch einmal liegen Sie dann nicht auch?«

»Nein, die Fürbitte meiner alten Mutter hat Gottes Schutz über mich herniedergerufen, und deshalb lebe ich und habe die Ehre, dieses Regiment zu kommandieren, dessen Leute ihre Pflicht als ehrbare Kriegsleute getan haben und tun werden. – Steht, ihr Jungen, steht!«

Oberst Wrangel lag schon tot und unkenntlich, und seine geworbenen Soldaten suchten ihn vergebens unter den Armen zu stützen. Oberst Ulfsparre, der vor den Westgöten ging, fiel, die Hände gegen das Herz gedrückt, und sein Major, der unerschrockene Sven Hagerberg, taumelte, von einer Musketenkugel getroffen, rücklings zu Boden. Die ganze feindliche Armee ging über ihn hinweg. Er hörte die Pferde und die Munitionswagen. Er wurde getreten und zertrampelt und in Asche und Schnee herumgerollt unter steif gewordenen Leichen und jammernden Verwundeten, bis schließlich ein verwundeter Dragoner ihn auf sein Pferd nahm und ihn barmherzigerweise zum Troß führte.

Die lieben zerschossenen alten Fahnen flatterten noch zahlreich über dem Menschenmeer, aber sie wankten und schwankten, sie wurden zerfetzt und geknickt, und schließlich sanken sie und verschwanden eine nach der anderen. Das Regiment Uppland, dessen Leute meist aus dem Herzen von Schwedens Gefilden stammten, aus den Urheimen Svealands im Mälartal, rang im Todeskampf. Die Fahnen mit dem kreuzgekrönten Apfel in der Ecke wurden den zusammengekrampften Händen der Niedergestochenen entwunden, und unter Kosakenpiken, Kolben und Säbeln wurde Oberst Stjernhöök zu Boden gestreckt, indessen er stammelte: »Jetzt ist die Stunde gekommen, da wir rufen können: Vater, es ist vollbracht!« Oberstleutnant von Post und Major Anrep fielen fast Seite an Seite. Die Hauptleute Gripenberg und Hjulhammar, Leutnant Essen und die kindlich zarten und bartlosen drei Fähnriche Flygare, Brinck und Duben lagen schon im Todeskampf. »Steht, ihr Jungen, steht!« riefen die Offiziere und Soldaten und fielen übereinander, so daß aus Leichen, Kleiderfetzen, Torf und Sand ein Hügel entstand, der den Lebenden zur Brustwehr diente, pfeifendes Traubenschrot und Musketenkugeln, Granaten und krachende Kartätschen regneten über Fechtende und Tote, und die Luft war so mit Staub und Rauch gesättigt, daß die Leue nur eine Pferdelänge weit sehen konnten.

Da begannen die Scharen zu wanken. Lewenhaupt zog die Pistole aus dem Halfter und zielte auf seine eigenen Leute. Er drohte und schlug. »Steht, ihr Jungen, um Jesu willen! Ich sehe die Bahre des Königs!« – »Ist der König hier, dann wollen wir stehen,« antworteten die Soldaten. »Steht ihr Jungen, halt, steht! Gott mit uns!« riefen sie sich selbst zu, wie um ihre zitternden und von Schweiß und Blut triefenden Glieder zu bezwingen. Aber Schritt für Schritt mußten sie weichen, und die Reiter wurden zurückgedrängt; mit zerhauenen Gesichtern und Händen warfen sie schließlich ihre Pferde zu wilder Flucht herum, Mann für Mann, und ritten sich gegenseitig nieder. Unter den aufsteigenden Rauchwolken sahen sie den König, der zwischen gefallenen Trabanten, Trägern und Dienern auf dem Boden lag, ohne Hut und auf den Ellbogen gestützt, den kranken Fuß hoch auf der zertrümmerten Bahre, über die man den lehmbefleckten Mantel des erschossenen Trabanten Oxehufvud gebreitet hatte. Das starre Gesicht war pechschwarz von Ruß, aber die Augen glänzten, und er stammelte: »Schweden, Schweden!«

In den weichenden Reihen blieben jetzt viele plötzlich stehen, als sie seine Stimme erkannten, denn es war ihnen, als würden sie, wenn sie sich auch jetzt retten könnten, dereinst auf ihrem Sterbebett wieder die scheue, einsame Stimme über ihrem Kopfkissen hören müssen. Er vermochte nicht, sich zu erheben, aber sie hoben ihn auf ihre gekreuzten Piken wie einen verurteilten und willenlosen Kranken. Wieder und immer wieder wurden die Träger niedergeschossen, und noch in dem Augenblick, da die Blutenden wankten, streckten sie die Arme empor, um ihn zu stützen, so daß er nicht im Falle beschädigt werden sollte. Dann hob ihn Major Wolffelt auf sein Pferd und fiel darauf selbst unter den Waffen der verfolgenden Kosaken. Der Fuß, der über den Nacken des Pferdes gelegt war, blutete heftig, und der Verband schleifte in der Asche. Eine Kanonenkugel von den Schanzen schlug dem Pferd ein Bein ab, aber der Trabant Gierta hob den König auf seinen Springer, und, selbst verwundet, bestieg er das dreibeinige und blutende Pferd. Die Reiter, die einen Kreis um den König bildeten, konnten die Verfolger kaum abhalten.

Währenddessen sprengte Gyllenkrok über das Feld und ermahnte die umherirrenden Soldaten, sich zu sammeln, aber sie antworteten ihm: »Wir sind alle blessiert, und unsere Offiziere sind tot!« Dann begegnete er dem Feldmarschall, und jetzt am Tage der Rechenschaft gab es keine Rücksichten mehr. Gyllenkrok rief ihm vorwurfsvoll zu:

»Hören Eure Exzellenz, daß die Salven auf unserem linken Flügel noch fortdauern? Hier sind viele Schwadronen, die sich gesetzt haben. Befehlt ihnen, irgendwohin zu gehen!«

»Hier ist alles verkehrt! Hier gehorchen mir wohl einige mit den Beinen, aber wenige mit dem Herzen,« antwortete der Feldmarschall und ritt immer weiter nach links. Zur gleichen Zeit sah Gyllenkrok Piper mit seinen Kanzleiherren nach rechts zu reiten. Hatten die beiden Exzellenzen sich verabredet? Er rief ihnen nach, daß sie sich gerade gegen den Feind begäben, aber sie drehten nicht um. Da schlug er mit der Hand auf den Sattelknopf und verstand, daß der Wein der Geduld jetzt ausgetrunken war, daß hier nur noch Gefangenschaft oder Tod zu erwarten sei.

Es war kein Feld mehr, das hinter ihm lag. Es wuchs aus der Erde ein unübersehbarer, wandelnder Wald, aber die Baumstämme waren Menschen und die Zweige Waffen. Er breitete sich aus. Er erfüllte die ganze Landschaft, und ständig und unaufhaltsam wanderte er weiter über Blutende und Sterbende. Es war das Heer des Zaren, das daherzog, um seinen Boden in Besitz zu nehmen und seine Herrschaft für kommende Zeiten einzuweihen. Näher und näher kommen hörte man einen unheimlichen und gedämpften Hymnus. Langsam und Schritt für Schritt wie in einem Beerdigungszug wurde zwischen schaukelnden Weihrauchgefäßen und hoch über den Köpfen von Tausenden und Tausenden die riesengroße Standarte getragen. Auf dem Tuch war der Stammbaum des Zaren zu sehen, von Heiligen umgeben, und zuoberst unter der Dreieinigkeit war sein eigenes Bild.

Die schwedischen Flüchtlinge sammelten sich um den König beim Train, wo die schwedische Adelsfahne und einige andere Regimenter Wache hielten. Er hatte den Fuß verbunden und den Ruß notdürftig abgewischt und saß in einem blauen Wagen neben dem verwundeten Oberst Haard.

»Wo ist Adlerfelt, der Kammerherr?« fragte er. Die Umstehenden antworteten:

»Er fiel durch eine Kanonenkugel dicht hinter der Bahre Eurer Majestät.«

Im gleichen Augenblick kam das Dalregiment vorbei, aufgerieben und in großer Verwirrung.

»Ihr, Dalkerle,« fragte der König, »wo ist Siegerothen, euer Oberst, und Major Svinhufvud ... und wo ist der lustige Drake, der an der Redoute so tapfer gefochten haben soll, daß er ein Regiment erhalten wird?«

»Sie sind alle erschossen.«

»Wo sind denn der kleine Prinz und Piper und der Feldmarschall?«

Die Umstehenden schüttelten ihre Köpfe und betrachteten einander. Sollten sie ihm mit einem Male die Wahrheit sagen? Sollten sie an diesem Tage des Gerichtes seine ganze Einsamkeit entblößen? Sollten sie ihm auch sagen, daß Hedwig Sofia, seine Lieblingsschwester, seit einem halben Jahre in ihrem Sarge lag ... unbeerdigt? Es gab keinen, der es wagte.

»Gefangen!« antworteten sie zögernd.

»Gefangen? von dem Moskowiter gefangen? Lieber dann von dem Türken! Vorwärts!«

Er erblaßte, aber er sprach ruhig und fast triumphierend, mit seinem unveränderlichen Lächeln auf den Lippen.

Ein schon grauhaariger Soldat unter den Dalleuten flüsterte den Kameraden zu: »Wahrhaftig, ich habe ihn nie so jugendlich und glücklich gesehen seit jenem Tage bei Narwa, da wir mit dem Stenbock gingen. Für ihn ist dies ein Siegestag.«

Der Wagen rollte davon; und vor seinem ungeordneten, verwilderten, fliehenden Heer von stolzen Lumpen, fluchenden Troßweibern, laut jammernden Krüppeln und hinkenden Pferden zog der König der Karoliner mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel daher, als käme er von seinem größten Sieg.

 

Ungefähr um zwei Uhr knatterten die letzten Salven, und nachher hatte die Stille sich über das Schlachtfeld gebreitet, wo die letzten Kosaken Maseppas und unzählige Saporoger lebendig an Pfählen aufgespießt wurden. Die Höfe und Mühlen standen niedergebrannt, die Bäume zerschossen, und die gefallenen Helden lagen mit Asche und Erde überdeckt und alle mit weit offnen Augen, als blickten sie aus einer anderen Welt auf vergangene Jahre und auf die Lebenden zurück. Einige gefangene Feldprediger und Soldaten streiften umher und suchten nach ihren Landsleuten, und mitunter warfen sie ein flaches Grab auf, über das die Beerdigungsworte in der Sprache des entfernten Vaterlandes leise in die Dämmerung des Juniabends hinausgeflüstert wurden. Dann wurde die Gruft zugeschaufelt, um von Riedgras und rauhen Disteln überwachsen zu werden, durch die nun schon seit Jahrhunderten her Steppenwind in den düsteren Sumpfgegenden streicht, denen die Russen den Namen »Der Schwedenfriedhof« verliehen haben. Als der eine Feldprediger Oberstleutnant Wetzel fand, der zu gleicher Zeit mit seinen beiden Söhnen gefallen war, hob er die leeren Gebetbuchdeckel auf, die, mit dem Wappen der Familie geziert, daneben lagen.

»Du bist der letzte deines Stammes,« sagte er, »und wie viele Geschlechter sind heute auf diesem Felde ausgelöscht worden! Galle, Siegeroth, Mannersvärd, Rosensköld, von Borgen ...Wenn ich jetzt das Wappen auf diesem Deckel zerreiße und es in den Wind streue, vernichte ich im Namen meines trauernden, meines vertilgten Volkes das Wappenschild über euch allen.«

Eine Menge Leichen wurden draußen vor der Feldschanze in einen Haufen zusammengeworfen, wo der Kampf des Tages am heißesten gewütet hatte, aber die anderen blieben verstreut liegen, und die Luft füllte sich rasch mit modrigem Dunst und unzähligen flatternden Raben. Mit der Finsternis senkte sich das Schweigen feierlicher und feierlicher über die weite Grabstätte, aber die Verwundeten riefen noch nach Wasser. Die am schlimmsten verstümmelten baten, daß sich ihrer jemand mit einem Degenstoß erbarmen möchte, oder sie schleppten sich zu einem erschossenen Pferd, rissen die Pistole aus dem Halfter und nahmen sich das Leben, nachdem sie auf schwankenden Knieen Gottes Segen über alle daheim herabgerufen und das Gebet des Herrn hergesagt hatten. Da begann ein zu Tode geschossener Dragoner Kraftworte zu reden und Gott für seine ehrenvolle Todeswunde zu danken. Er sprach über sich selbst und seine Kameraden die Worte der Bestattung und nahm dreimal mit der Hand Erde und warf sie auf seine Brust. »Daß du wieder zu Erde werdest, wie du von Erde genommen bist!« Darauf predigte er entrückt über die Auferstehung und stimmte schließlich mit lauter Stimme einen Begräbnisgesang an; wohl zwanzig oder dreißig Stimmen antworteten weit entfernt im Dunkel unter dem sternhellen Himmel.

Martin Prediger, der auf dem Feld umherschlich, ohne ein Grauen vor den Gefallenen zu empfinden, fuhr mit dem Gesang fort, als der Dragoner schwieg. Da sah er eine alte Frau, die mit einer Fackel kam, und ihr folgte eine Reihe von Bauern mit langen Leiterkarren, auf die sie Kleider und allerlei Raub luden. Ein gefallener Kornett, der noch nicht tot war, wehrte sich mit der Hand und wollte sich eine Halskette mit einem kleinen Silberkreuz nicht nehmen lassen, aber sie stachen ihn mit einer Heugabel nieder. Da sprang Martin Prediger herbei.

»Nicht morden, nicht morden!« flüsterte er, und unter den plündernden Frauen erkannte er seine neunjährige Dunja, seine kleine Prinzessin. Sein Gesicht verwandelte sich, und er streckte ihr beide Hände entgegen, halb wie ein Vater, halb wie ein scheuer Liebhaber. Sie stierte ihn aber an und brach in ein dummes Gelächter aus.

»Das ist der böse Schwede,« rief sie, »der mich bestach, um Kirschen zu bekommen und meine Wangen küssen zu dürfen!«

Sie sprang auf ihn los wie eine Katze und riß ihm die Ohrringe ab, so daß ihm das Blut an beiden Seiten des Halses herunterströmte. Er fiel nach hinten, und die Weiber hielten ihn fest und schlugen ihn und rissen ihm die Kleider ab. Sie fanden seine Abschrift des Evangeliums Johanni und streuten die Blätter umher wie die Federn eines gerupften Vogels. Sie zogen ihm die Stulpenstiefel und die zerrissenen Strümpfe aus, aber als er seine kleine Dunja nach der Heugabel greifen sah, rang er sich mit der Kraft des aufflammenden Hasses los und floh im Hemd über verwundete und Tote hinweg.

»Nicht einmal der Glaube an ein schuldloses Herz wird uns länger vergönnt,« murmelte er und kletterte auf ein hinkendes Pferd, das sich im Dunkeln an ihn heranschlich. »Gott hat uns verlassen. Dies ist das Gericht. Alles ist vorbei, und die ganze Welt ist finster.«

Er ritt zwei Nächte und zwei Tage, und zurückgebliebene Verwundete zeigten ihm den Weg. Er fand die fliehenden Schweden auf einer Landspitze zwischen der Worskla und dem spiegelglatten Dnjepr, der sich zwischen den mit Wald und Gebüsch und Schilf bewachsenen Ufern wie ein See ausbreitete. Die Russen waren dicht dahinter auf der Landseite, aber als die Vorposten Martin Prediger in seinem blutigen Hemd auf dem nackten, hinkenden Pferd sahen, liefen sie entsetzt zur Seite und schossen erst nach ihm, als er vorbei war. Die Sonne brannte glühendheiß, und die Verwundeten und die Feldkranken wurden unter dem Gebüsch am Wasser gebettet. Die Generale standen im Gespräch, und Lewenhaupt wendete sich schwermütig zu Creutz.

»Wird der König gefangen genommen, so rücken die Schweden aus wie ein Mann und geben ihren letzten Heuwisch, um ihn auszulösen. Die Verantwortung kommt auf uns. Dieser Krieg ist eine Partie Schach, wo alles darauf hinausgeht, die Könige zu nehmen. Auf meinen Knieen habe ich ihn gebeten, sich über den Fluß setzen zu lassen, aber er stieß mich vor die Brust und sagte, er habe ernstere Dinge zu bedenken.«

»Lieber Freund, du sprichst mit ihm wie mit einem podagrakranken Staatsmann. Du sollst überhaupt nicht mit ihm reden wie mit einem Mann, sondern wie mit einem Jüngling, der stolz darauf ist, zur Männlichkeit aufgefordert zu werden.«

Creutz trat an den Wagen des Königs heran und schwenkte die ausgezogenen Handschuhe mit einer Heftigkeit, als gedenke er ihn vor die Stirn zu schlagen, aber er wurde gleich von seinem hellen Blick verwirrt.

»Majestät grübeln?«

»Ich fechte schlecht mit dem Federkiel, daran denke ich. Ich will mein Testament aufsetzen und die Thronfolge ordnen. Dann soll es knallen! Wenn ich im Felde bleibe, will ich in meinem Hemd beerdigt werden wie ein Gemeiner, auf der Stelle, wo ich falle.«

Creutz drehte und preßte die Handschuhe, und er und die anderen waren besiegt und ließen den Kopf sinken.

»Allergnädigster Herr, ich gehöre nicht zu denen, die Gott bitten, ihr Leben zu schonen, denn wohl begreife ich eines Helden höchsten Wunsch. Bekämen Majestät Ihre Kugel... nun, in Jesu Namen! Aber Eure Majestät können heute nicht länger im Sattel bleiben. Gott verzeihe mir meine Worte, aber Eure Majestät werden wie ein Armseliger herumgetragen werden; und wenn der Letzte von uns sein Leben gelassen hat, bleiben Eure Majestät einsam zurück – und gefangen!«

»Man soll nicht nur einer gegen fünf, man soll auch einer gegen alle stehen können!«

»Wahr, wahr! Aber dafür taugen, der Teufel hole mich, wir gemeinen Burschen in Kriegslivree nicht. Einer gegen alle? Das ist einer gegen die ganze Welt! Dazu sind Männer von ganz anderem Schlag erforderlich, denn wir sind so armselige Kerle, daß wir zu unserer Wehr nichts anderes haben als den Degen. Nachdem ich jetzt in meiner Einfalt die Lage klargestellt habe, bitte ich Eure Majestät auf den Knieen darum, bei uns zu bleiben und nicht über den Fluß zu setzen, denn sonst stellten sich Eure Majestät einer gegen die ganze Welt. Und dann würde es heißen: was für ein Alexander, der floh und seine Truppen den Russen überließ! Was für ein Erzgauner! Guckt nur! Und das Tischsilber und die Geldtonnen aus Sachsen, die nahm er mit, statt alles den Russen zu überlassen. Jaha, ja, ja, ja. – Wir redlichen armen Untertanen können niemals erlauben, daß Eure Majestät sich in dieser Weise einer gegen alle stellen und Seine hohe Person dem Schmutz preisgeben, den Unwissenheit und Dummheit weder dem Feldmarschall noch Piper noch Lewenhaupt noch uns anderen sparen werden. Wann lernte die Dummheit das Unglück verstehen? Eure Majestät wollen sterben, und deshalb ist es keine Tat, ist es kein Opfer, das wissen wir alten Schnauzbärte; aber den Stolz, den Stolz, Eure Majestät, den für die Untertanen zu opfern, das ist ein Opfer, das die Untertanen nicht annehmen. Daß die Mannschaft nicht hinübergeschafft werden kann, ist klar, wir haben keine Prahmen, keine Anker, keine Piken, nicht genug Balken und keine Zimmerleute. Daher ermahne ich Eure Majestät, zu bleiben, und nicht die Welt herauszufordern.«

»Laß die Boote in Ordnung bringen!« befahl der König.

Maseppa, der ritterliche Gutsbesitzer, hatte seine Koffer und seine zwei Tonnen Dukaten zusammengesucht und saß schon auf seinem Wagen weit draußen im Wasser. Saporoger und Schwärme von Soldaten banden die Kleider auf den Rücken, nahmen Wagenbretter und Baumzweige unter die Arme und sprangen in die Fluten. Um Mitternacht wurde auch der Wagen des Königs auf zwei zusammengebundene Boote gehoben, und Gyllenkrok, der zu seinen Füßen stand, übergab Lewenhaupt schweigend die auf ein Brett aufgeklebte Feldkarte. Niemand sprach ein Wort. Die Nacht war sternklar und still, und die Ruderschläge der Trabanten verhallten auf dem spiegelglatten Fluß.

»Wir zwei sehen ihn niemals wieder,« murmelte Creutz zu Lewenhaupt. »Seine Augen waren so wunderlich. In der Lampe ist noch Öl, aber ich stiere mit Neugier seiner Zukunft entgegen. Wie soll er als Besiegter, als Verlachter, als Greis werden?«

Lewenhaupt antwortete:

»Der Kranz, den er sich selber wand, glitt statt dessen auf seine Untertanen herab. Er bleibt für ewig auf den vergessenen Feldern dort oben in den Sümpfen liegen. – So müssen wir ihm für alles danken, wozu er uns gemacht hat.«

In der Ferne hörte man durch die Finsternis der Nacht die klagende Stimme Martin Predigers.

»Er hat mich zum Sprichwort unter den Leuten gemacht – sagt Hiob –, und ich muß mir ins Angesicht speien lassen, mein Auge ist dunkel worden vor Trauer, und alle meine Glieder sind wie ein Schatten. Die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester. Was soll ich denn harren? Wer achtet mein Hoffen? Hinunter in die Hölle wird es fahren und wird mit mir in dem Staub liegen.«

Der Tag graute, und in seinem blutigen Hemd ritt Martin Prediger von Schar zu Schar und verhörte die Mannschaft in Katechismus und Bibelkunde. Schweigend standen die Soldaten an dem leeren Königszelt, aber als sich der Ruf erhob, daß sie sich ergeben müßten, und als der russische General Bauer, von der Sonne verbrannt, auf den Hügel kam, um die Trophäen zu empfangen, da stieg Martin Prediger herunter und rang die Hände.

Ringsum saßen die Kosaken mit ihren Messinghelmen und Piken auf ermüdeten und schnaubenden Pferden, und vor ihnen wurden auf dem Boden die Pauken und Trommeln und Trompeten und Musketen niedergelegt, deren Donner über die Bataillone hingerollt war, und die bekannten Fahnen, denen einstmals aus Toren und Fenstern Mütter und Frauen ihren letzten Abschied gewinkt hatten. Brummige alte Unteroffiziere umarmten einander schluchzend. Einige rissen ihren Verband auf und ließen das Blut fließen, und zwei Kriegsbrüder löschten einander gegenseitig das Leben mit den Degen im gleichen Augenblick, wo sie sie vor die Sieger warfen. Stumm und drohend zogen die Krüppel hervor. Da kamen Jünglinge mit erfrorenen Backen und ohne Nase und Ohren, so daß sie Totenmännern glichen. Dort hinkte auf Krücken der noch nicht erwachsene Fähnrich Piper, der die Fersen verloren hatte. Da ging der Hofmann Günterfelt, der beide Hände verloren und statt dessen aus Frankreich zwei andere aus Holz bekommen hatte, die blank und schwarz an dem Rock auf und ab fingerten. Da rasselten Holzbeine und Stöcke und Bahren und Krankenwagen.

Martin Prediger stand mit gefalteten Händen. Es funkelte vor seinen Augen. Es brauste und wimmerte, und der alte Predigergeist kam so heftig über ihn, daß er selbst hörte, wie seine Stimme eine Weile stockte und heiser wurde, aber dann so stark wuchs, daß es ihm schien, als wäre er selbst auf den Flügeln seiner Stimme hinweggetragen und in eine Feuerflamme verwandelt worden.

Er wankte zu den niedergeworfenen Waffen hin und zeigte auf das leere Königszelt.

»Er ist der Verbrecher allein! Du trauergekleidete Mutter oder Witwe, wende sein Bild an der Wand um! Verbiete den Kleinen seinen Namen zu nennen! Du, kleine Dunja, die du mit deinen Spielschwestern bald Blumen auf den Gräbern pflückst, baue aus Totenschädeln und Pferdeköpfen sein Denkmal! Du Krüppel, poche mit deiner Krücke auf die dumpfe Erde und verabrede dich mit ihm da unten, wo die Tausende, die er geopfert, ihn erwarten! – Und doch weiß ich, daß wir alle dereinst vor dem Richtstuhl der Gerechtigkeit auf unsern Holzbeinen und Krücken heranhinken und sagen werden: Vergib ihm, Vater, wie wir ihm vergeben haben, denn unsere Liebe wurde sein Sieg wie sein Untergang.«

Als niemand ihm antwortete, und alle vorgebeugt und stumm dastanden, als ob sie das Gleiche geantwortet hätten, da wurde seine Verzweiflung noch größer. Er bedeckte sein kantiges Gesicht mit den Händen.

»Sag mir um Gottes willen, daß er lebt!« rief er. »Sag, daß er lebt!«

Günterfelt hob mit seinen schwarzen Holzfingern den Hut vom Kopf und antwortete:

»Seine Majestät ist gerettet!«

Da beugte Martin Prediger seine Kniee und zitterte und kam wieder zu sich.

»Gelobt sei der Fürst der Heerscharen!« stammelte er. »Ist der König gerettet, dann will ich jede Last tragen, die das Schicksal mir auferlegt.«

»Ja, ja, gelobt sei der Fürst der Heerscharen!« wiederholten die Schweden murmelnd, und jeder entblößte langsam sein Haupt.


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