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Der Papiergeneral

Es war noch kaum vier Uhr des Morgens, aber der gelbe Schein über dem Birkengebüsch vor Moskau kündete die Dämmerung an. General Lewenhaupt saß bereits an seinem gewöhnlichen Platz am Fenster, wie ein alter Uhu auf seinem Zweig im Wald. Zwei etwas graue Haarbüschel standen ihm oberhalb der Stirn, und grübelnd öffneten und schlossen sich die schwermütigen Augen.

Durch ein paar schleifende Schritte geweckt, erhob er sich und wandte sich nach der Kammer um. Vor ihm stand ein buckliger, russischer Jude mit hängenden Haaren.

Der Jude wickelte aufgeregt seine einzige rote Locke um den Finger. Was für Märchen hatte er nicht vom alten General Marschmarsch gehört, der mit einer Prise Schnupftabak auf dem Daumen in den Gefilden Litauens seine psalmsingenden Soldaten gegen Schanzen und Verhaue geschickt hatte. Niemals noch war er vor einem Helden gestanden, der über Armeen befohlen hatte. Er meinte, so einer müsse ein schrecklicher Mensch sein, der mit einem Fluch auf den Lippen und die Hände kreuzweise über den Schwertknauf gelegt, Pokale und Kantinen und klafterlange Tabakspfeifen hereinkommandiere, bis der Rauch so dick stehe, daß er mit Schwerthieben zerspalten werden könne.

»Ich bin nur ein armseliger Kaufmann aus Tula,« stotterte er, »ich bin mit meinem Ochsengespann hierhergekommen, aber die schwedischen Gefangenen da in der Stadt haben mir aufgetragen, ihre Bitte um ein Almosen hierher zu bringen. Trotzdem sie fleißig Holzuhren und Schnupftabakshörner verfertigen, herrscht eine so große Not unter ihnen, daß es einem ins Herz schneidet. Daneben verlieren aber auch die armen Kerle viel Zeit mit Torheiten. Stundenlang sitzen sie jeden Tag da und schreiben und arbeiten sich ab. Wehe dem, der das kleinste Blättchen Tabak in ihre Papiere fallen läßt. Das ist es aber gerade, was kein Mensch begreifen kann, daß sie sich in dieser Weise bemühen, da sie nicht im geringsten etwas zu schreiben haben ... und kaum ein paar Rubel auf dem Boden der Truhe. Krieger sollen wohl nicht mit der Feder schwitzen ...«

Lewenhaupt steckte ein Talglicht an, denn es war noch ganz finster im Zimmer.

»Sieh her,« sagte er gutmütig, aber traurig und leuchtete nach den langen ungestrichenen Wandbrettern, wo dicke Folianten in numerierten Einbänden eingeordnet standen.

Der Jude drehte noch heftiger an seiner Locke, und anstatt der Pokale und Kantinen sah er beschriebene Papiere, wohin er sich wendete. Auf Stühlen und Tischen, ja sogar auf dem Ofen lag Papier. »Ein wunderlicher General der,« dachte er. »Sieht einer, der Schlachten gewinnt, so aus?«

»Ein Volk,« Lewenhaupt stand bei dem Wandbrett, »ein Staat, mein Freund, das nennt man Ordnung. Hier sind alle Gefangenen aufgezeichnet und ihre Rechnungen genau eingetragen. Hier ist unser Finanzkollegium, unsere Staatsverwaltung! Bei den schwedischen Magistraten auf der anderen Seite der Straße steht ein ebenso langes Brett. Das ist unsere Kirche! Auch in der Gefangenschaft noch sind wir ein Volk geblieben. Du, der du Jude bist, du mußt dies große Wort verstehen!«

Er nahm einen Band herunter und blätterte in den Seiten und las und rechnete halblaut. Dann ging er in das angrenzende Schlafzimmer hinein, und nachdem er das Licht auf eine Fußbank gestellt hatte, öffnete er eine Truhe und begann vorsichtig Silbermünzen in verschiedenen kleinen Beuteln zusammenzuzählen. Die ganze Zeit fuhr er fort, halblaut zu reden, – teils für sich und teils zu dem Kaufmann.

»Ich habe jetzt ausgerechnet, wieviel ich das Recht habe, nach Tula zu schicken. Aber lerne, mein guter Mann, daß Undank und Neid die Vergeltung allen Bemühens ist. Neid, Neid, diese Hand der Finsternis war es, die uns so trennte, daß die Feinde die Fahnen von unseren Bataillonen rissen. Ein Narr, wer in dieser schnöden Welt noch nach Freunden und Herzen ruft! Der Kriegskamerad umarmt dich, wenn du ihn vor den Bajonetten rettest, aber er seufzt, daß du nicht selbst dabei durchbohrt wurdest, damit er deinen leeren Platz einnehmen könne. Ein Narr, wer sich nach anderen Höhen sehnt als denen des ewigen Vaterhauses. Die Feinde haben mir nicht tiefere Wunden geschlagen als meine eigenen Landsleute. Gäbe doch Gott, daß ich so treulich meinem himmlischen König gedient hätte wie meinem irdischen.«

Hinter ihm lag die Bibel auf der Decke, und der Degen, den er zurückerhalten hatte, hing über dem Bettpfosten. Für jeden gefüllten Beutel schrieb er eine Zeile in sein Buch und versiegelte dann den Beutel. Auch das Schlafzimmer wurde allmählich mit Papier angefüllt, aber immer lag ein Blatt neben dem anderen in guter Ordnung. So saß da beim Licht der Sieger von Gemauerthof mit der rauchenden Siegellackstange vor den wehmütigen, klaren Augen, und während er halblaut über bittere Schicksale murrte, tagte es leise.

Der jüdische Kaufmann verstand seine Reden nicht mehr, sondern wickelte und drehte seine rote Locke und murmelte:

»Ein Volk, ein Staat ... noch in tiefer Gefangenschaft ... Das ist ein schöner Anblick!«


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