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Sehet, das sind meine Kinder

Der Korporal Anders Graaberg stand mit seiner Wasserflasche auf der Sarazenischen Heide. Ringsum wankte und marschierte die letzte Schar von fliehenden Schweden und Saporogern, und auf den Wegen lagen Verwundete von Poltawa. Die ganze Nacht und den ganzen Morgen hatte Anders Graaberg den Durst ausgehalten, um die letzten Tropfen Wasser bis zum äußersten zu sparen, und die Schmerzen überwältigten ihn jetzt, – aber im gleichen Augenblick, wo er die Flasche an den Mund setzte, ließ er sie wieder sinken.

»O Gott, o Gott,« stammelte er, »weshalb sollte ich allein trinken, wenn alle die anderen dürsten! Wenn du uns in die Wüstenei und nach den Steppen wegführst, dann ist es nur, damit du dereinst wirst sagen können: Von eurer armen, schneebedeckten Heimat ließ ich euch in die Welt hinausgehen, die Muskete auf der Schulter, um als Helden und Sieger begrüßt zu werden, aber als ich in euren Herzen las und sah, daß sie rein geblieben, daß ihr meine Kinder waret, da riß ich eure Kleider in Stücke und gab Krücken in eure Hände und stellte Holzbeine unter euren Leib, damit ihr nicht länger nach Macht über Menschen trachtet, sondern euch unter meine Heiligen versammelt. So viel Größe habe ich euch vergönnt.«

Anders Graaberg stand noch eine Weile und hielt die Flasche vor sich hin. Dann ging er und reichte sie dem König, der in brennendem Fieber zwischen den Strohsäcken auf seinem Wagen lag. Die Lippen des Königs waren an den Zähnen festgeklebt, und sie rissen auf und bluteten, wenn er sie öffnete.

»Nein, nein,« flüsterte er. »Gib das Wasser den Verwundeten. Ich habe soeben einen Becher bekommen.«

Anders Graaberg wußte ganz gut, daß der König kein Wasser bekommen hatte. Er selbst war der einzige, der an den kommenden Tag gedacht und Wasser aufgehoben hatte; weder Brunnen noch Sümpfe waren im Umkreis von mehreren Meilen zu finden. Aber als er sich jetzt vom Wagen abwendete, kam wiederum Schwachheit und Versuchung über ihn. Er hängte die Flasche wieder an seine Seite und ging fort und fort, ohne sie den Verwundeten zu reichen. Er preßte mit der Hand den Deckel, er kämpfte in seinem Innern, aber jedesmal, wenn er die Flasche an den Mund hob, ließ er sie wieder sinken und konnte es nicht übers Herz bringen, von dem Wasser zu trinken.

Vielleicht, dachte er, werde ich mich mit ruhigerem Bewußtsein erquicken können, wenn ich mich statt dessen in anderem demütige.

Zur Mittagszeit, als die Sonne am heißesten brannte, sah er einen grauhaarigen Unteroffizier, der fast nackt ging, mit unverbundenen Wunden an der Schulter. Da riß er sein Hemd auf und verband seine Wunden und gab ihm seinen Rock, aber sobald er seine Hand wieder um die Flasche legte, erwachte aufs neue die Unruhe seines Gewissens. Sodann gab er seine Stiefel einem kranken Jungen vom Troß, der mit bloßen und blutenden Füßen daherhinkte; aber als er trotzdem nicht mit ruhigem Gewissen das Wasser mitten unter allen den anderen in seinen Hals gießen konnte, wurde er bitter und hart. Er zeigte fluchend und neckend auf die mitgebrachten Geldtonnen, die voll Gold und Silber auf zwei der Wagen rasselten, ohne den Unglücklichen nur einen Löffel modrigen Sumpfwassers verschaffen zu können.

»Haut die Pferde,« rief er. »Haut die Pferde, daß die Geldtonnen nicht zurückbleiben. Haut auch die Kerle!«

Die Soldaten antworteten nicht, denn sie erkannten ihn jetzt, so wie er früher gewesen war, wenn er in den Tagen des Glückes barsch und grob vor den Reihen einherging. Sie merkten nicht, daß er kaum seine eigene Stimme vernahm, als er den Kopf neigte und wieder zu grübeln und vor sich hin zu flüstern begann.

»Muß ich denn gerade das einzige opfern, das für mich einen Wert hat?« dachte er. »Haha! Daß wir auch eines Tages die Geldtonnen ins Gras wälzen könnten, um sie nie mehr mit unseren Fingern zu berühren! Mein Gott! Mein Gott! Ich hörte einmal bei Weperik den sterbenden Reiter Bengt Geting mit Neid von den Gefallenen sprechen, die ein sauberes, weißes Hemd bekommen. So hoch wagt mein Wunsch nicht zu steigen. Ich verlange so wenig ... Ach, nur, daß ich nicht hinter den anderen auf der Heide liegen bleibe, nur daß ich in die Erde gelegt werde, Gras und Erde über mich bekomme ... und ein paar Worte in den Regimentslisten. Jetzt wird da stehen: Anders Graaberg, Schicksal unbekannt.«

Gegen Abend wurde Halt gemacht, um die zu begraben, die im Lauf des Tages gestorben waren, und einige Saporoger stießen schon mit den Spaten in die Erde. In dem scharfen Gras wuchsen einige niedere Sträucher mit Kirschen, welche die Offiziere und Soldaten derweil abnahmen und unter sich verteilten, wie einen Sold aus Gottes eigenen Händen. Da schlich sich Anders Graaberg hinter die Sträucher, um, von den anderen ungesehen, das Wasser zu trinken. Aber im gleichen Augenblick begannen die Trompeten zu blasen, zum Zeichen, daß die verfolgenden Russen wieder am Horizonte über den entferntesten Wellen der verbrannten Graswüste sichtbar geworden waren.

Anders Graaberg öffnete den Blechdeckel, aber je länger er den feuchten Geruch einatmete, desto heftiger schlug sein Herz, und im nächsten Wagen hob sich der sterbende Silberaufseher Börje Röve auf und stierte ihn an. Anders Graaberg versuchte seinen Blick auszuhalten, vermochte es aber nicht, und noch einmal schob er die Erquickung von sich.

»Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit,« sagte er.

Wie ein Diener der Kirche, der das Sakrament austeilt, trug er die Flasche vor sich her und führte sie zum Mund des Silberaufsehers, und der Sterbende trank das Wasser bis auf den letzten Tropfen aus.

Anders Graaberg hielt sich am Wagenrand fest, aber als die Räder wieder vorwärts rollten, glitt seine Hand ab, und er wankte im Gras auf die Kniee nieder.

»Es gibt keinen Platz für mich auf den Wagen,« sagte er und riß den einen Spaten an sich. »Obwohl ich nur dreißig Jahre alt bin, bin ich matt und schwach wie ein Neunzigjähriger. Aber laßt mir einen Spaten, so daß ich, wenn mir meine Kräfte beistehen, wenigstens selbst die Erde öffnen und mich in meine letzte Kammer niederlegen kann. All meine Angst ist jetzt wunderbar entschlafen, und eine Stimme ruft in mein Ohr: ›Sehet, das sind meine Kinder!‹«

Wieder begannen die Soldaten ihre Wanderung auf den rüttelnden Wagen, und die Trompeter wendeten sich im Sattel um. Scharen von Störchen schwebten mit ausgebreiteten Flügeln in der Dämmerung über den dunkelnden Gefilden, und draußen auf der Steppe kniete noch Anders Graaberg mit dem Spaten in den Händen.

Niemand hat später etwas über sein Schicksal vernommen.


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