Johann Peter Hebel
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes
Johann Peter Hebel

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Wie sich der Zundelfrieder hat beritten gemacht

Als der Zundelfrieder bald alle listigen Diebsstreiche durchgemacht und fast ein Überleid daran bekommen hatte, denn der Zundelfrieder stiehlt nie aus Not oder aus Gewinnsucht oder aus Liederlichkeit, sondern aus Liebe zur Kunst und zur Schärfung des Verstandes; hat er nicht dem Brassenheimer Müller den Schimmel selber wieder an die Türe gebunden? Was will der geneigte Leser oder des Hausfreunds Reisegefährte nach Lenzkirch mehr verlangen? Eines Abends, als er, wie gesagt, fast alles durchgemacht hatte, dachte er: »Jetzt will ich doch auch einmal probieren, wie weit man mit der Ehrlichkeit kommt.« Also stahl er in selbiger Nacht eine Geiss, drei Schritte von der Scharwache, und liess sich attrapieren. Den andern Tag im Verhör gestand er alles. Wie er aber bald merkte, dass ihm der Richter fünfundzwanzig oder etwas zum Andenken wollte mitgeben lassen, dachte er: Ich bin noch nicht ehrlich genug. Deswegen verschnappte er sich noch ein wenig in den Redensarten und gestand bei der weitern Untersuchung nach kurzem Widerstand, wie er von jeher ein halber Kakerlak gewesen sei, das heisst, ein Mensch, der bei Nacht fast besser sieht als am Tag, und als ihn der Richter aufs Eis führen wollte, ob er nicht noch von ein paar andern Diebstählen wisse, die kürzlich begangen worden, sagte er, allerdings wisse er davon, und er sei derjenige. Als ihm den andern Morgen der Spruch publiziert wurde, er müsse ins Zuchthaus, und der Stadtsoldat, der ihn begleiten sollte, stand schon vor der Tür, denn es war zwanzig Stunden weit, sagte er ganz reumütig: »Recht findet seinen Knecht. Was ich verdient habe, wird mir werden.« Unterwegs erzählte er dem Stadtsoldaten, er sei auch schon Militär gewesen. »Bin ich nicht sechs Jahre bei Klebeck Infanterie in Dienst gewesen? Könnt' ich Euch nicht sieben Wunden zeigen aus dem Scheldekrieg, den der Kaiser Joseph mit den Holländern führen wollte?« Der treuherzige Begleiter sagte: »Ich hab's nie weiter bringen können als zum Stadtsoldaten. Eigentlich wär' ich ein Nagelschmied. Aber die Zeiten sind schlimm.« – »Im Gegenteil«, sagte der Frieder, »ein Stadtsoldat ist mir respektabler als ein Feldsoldat. Denn Stadt ist mehr als Feld, deswegen avanciert der Feldsoldat in seinem Alter noch zum Stadtsoldaten. Zudem, der Stadtsoldat wacht für seiner Mitbürger Leben und Eigentum, für eigen Weib und Kind. Der Kriegssoldat zieht hinaus ins Feld und kämpft, er weiss nicht für wen und nicht für was. Zudem«, sagte er, »kann ein Stadtsoldat, wenn er nichts Ungeschicktes begangen hat, mit Ehren sterben, wann er will. Unsereiner muss sich schon drum totstechen lassen. Ich versichere Euch«, fuhr er fort, »ich und meine Feinde (er meinte die Strickreiter) wir haben wenig Ehre davon, dass ich noch lebe.« Der Nagelschmied wurde über diese ehrenvolle Vergleichung so gerührt, dass er bei sich selbst dachte, einen so gütigen und herablassenden Arrestanten habe er noch nicht leicht transportiert, und der Frieder ging immer mit grossen Schritten voraus, um den Nagelschmied recht müde und trocken zu machen in der Sonnenhitze. »Darin unterscheiden sich die Feldsoldaten von den Stadtsoldaten«, sagte er, »dass sie an einen weiten Schritt gewöhnt sind von dem Marsch.« Abends um 4. Uhr, als sie in ein Dörflein kamen und an ein Wirtshaus, »Kamerad«, sagte der Frieder, »wollen wir nicht einen Schoppen trinken?« – »Herr Kamerad«, erwiderte der Nagelschmied, »was Ihm recht ist, ist mir auch recht.« Also tranken sie miteinander einen Schoppen, auch eine halbe Mass, auch eine Mass, auch zwei, und Brüderschaft ohnehin, und der Frieder erzählte immerfort von seinen Kriegsaffären, bis der Nagelschmied vor Schwere des Weins und Müdigkeit einschlief. Als er nach einigen Stunden wieder aufwachte und den Frieder nimmer sah, war sein erster Gedanke: »Was gilt's, der Herr Bruder ist alsgemach vorausgegangen.« Nein, er stand nur ein wenig draussen vor der Türe, denn der Frieder geht nicht leicht leer fort. Als er wieder hereinkam, sagte er: »Herr Bruder, der Mond will bald aufgehen. Wenn es dir recht ist, so bleiben wir lieber hier über Nacht.« Der Nagelschmied, schläfrig und träge, sagte: »Wie der Herr Bruder meint.« In der Nacht, als der Nagelschmied fest schlief und alle Töne aus dem Bass in den Diskant und wieder in den Bass durchschnarchte, der Frieder aber nicht schlafen konnte, stand der Frieder auf, visitierte für Zeitvertreib des Herrn Bruders Taschen und fand unter andern das Schreiben, das wegen seiner dem Stadtsoldaten an den Zuchthausverwalter war mitgegeben worden. Hierauf probierte er für Zeitvertreib des Herrn Bruders neue Monturstiefeln an. Sie waren ihm recht. Hierauf liess er sich für Zeitvertreib durch das Fenster auf die Gasse herab und ging des geraden Wegs fort, so weit ihm der Mond leuchtete. Als der Nagelschmied früh erwachte und den Herr Bruder nimmer gewahr wurde, dachte er: »Er wird wieder ein wenig draussen sein.« Freilich war er wieder ein wenig draussen, und als er den Tag erlaufen hatte, im ersten Dorf, das ihm am Weg war, weckte er den Schulzen. »Herr Schulz, es ist mir ein Unglück passiert. Ich bin ein Arrestant, und der Stadtsoldat von da und da, der mich transportieren sollte, ist mir abhanden gekommen. Geld hab' ich keins. Weg und Steg kenn' ich nicht, also lasst mir auf Gemeindekosten eine Suppe kochen und verschafft mir einen Wegweiser in die Stadt ins Zuchthaus.« Der Schulz gab ihm eine Bollete an den Gemeindswirt auf eine Mehlsuppe und einen Schoppen Wein und schickte nach einem armen Mädchen. »Geh ins Wirtshaus und zeige dem Mann, der dort frühstückt, wenn er fertig ist, den Weg und die Stadt; er will ins Zuchthaus.« Als der Frieder mit dem Mädchen aus dem Wald und über die letzten Hügel gekommen war und in der Ebene von weitem die Türme der Stadt erblickt hatte, sagte er zu dem Mädchen: »Geh jetzt nur nach Haus, mein Kind, jetzt kann ich nimmer verirren.« In der Stadt bei den ersten Häusern fragte er ein Büblein auf der Gasse: »Büblein, wo ist das Zuchthaus?« und als er es gefunden und vor den Zuchthausverwalter gekommen war, übergab er ihm das Schreiben, das er dem Nagelschmied aus der Tasche genommen hatte. Der Verwalter las und las und schaute zuletzt den Frieder mit grossen Augen an. »Guter Freund«, sagte er, »das ist schon recht. Aber wo habt Ihr dann den Arrestanten? Ihr sollt ja einen Arrestanten abliefern.« Der Frieder antwortete ganz verwundert: »Ei, der Arrestant, der bin ich selber.« Der Verwalter sagte: »Guter Freund, es scheint, Ihr wollt Spass machen. Hier spasst man nicht. Gesteht's, Ihr habt den Arrestanten entwischen lassen! Ich seh’ es aus allem.« Der Frieder sagte: »Wenn Sie es aus allem sehen, so will ich's nicht leugnen. Wenn mir aber Ihro Exzellenz«, sagte er zu dem Verwalter, »einen Brittenen mitgeben wollen, so getrau' ich mir, den Vagabunden noch einzufangen. Denn es ist kaum eine Viertelstunde, dass. er mir aus den Augen gekommen ist.« – »Einfältiger Tropf«, sagte der Verwalter, »was nützt dem Berittenen die Geschwindigkeit des Rosses, wenn er mit einem Unberittenen reiten soll? Könnt Ihr reiten?« Der Frieder sagte: »Bin ich nicht sechs Jahre Württemberger Dragoner gewesen?« – »Gut«, erwiderte der Verwalter, »man wird für Euch ebenfalls ein Ross satteln lassen, und zwar für Euer eigen gutes Geld; ein ander Mal gebt Achtung«, und verschaffte ihm in der Eile ein offenes Ausschreiben an alle Ortsvorgesetzte, auf dass, wenn er Mannschaft nötig habe zum Streif. Also ritten der Strickreiter und der Zundelfrieder miteinander dahin, um den Zundelfrieder aufzusuchen, bis an einen Scheideweg. An dem Scheideweg sagte der Frieder dem Strickreiter, auf welchem Weg der Strickreiter reiten soll, und auf welchem er selber reiten wolle. »Am Rhein an der Fahrt kommen wir wieder zusammen.« Als sie aber einander aus den Augen verloren hatten, wendete sich der Frieder wieder rechts und machte mit seinem Ausschreiben in allen Dörfern Lärm und liess die Sturmglocken anziehen, der Zundelfrieder sei im Revier, bis er an der Grenze war. An der Grenze aber gab er dem Rösslein einen Fitzer und ritt hinüber.

So etwas könnte hierzuland nicht passieren.

 


 


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