Johann Peter Hebel
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes
Johann Peter Hebel

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Einer Edelfrau schlaflose Nacht

Es ist nichts lehrreicher als die Aufmerksamkeit, wie in dem menschlichen Leben alles zusammenhängt, wenn man es zu entdecken vermag, z. B. Zahnschmerzen und das Glück eines Ehepaars, und wie selbst das, was unrecht und verboten ist, wieder gutgemacht werden kann, wenn's an den rechten Mann oder an die rechte Frau kommt, und wie in dem grossen, unaufhörlichen Wechsel der Dinge alles einzelne wieder verschwimmt, dass man ihm nimmer nachkommt, und doch getan bleibt und nicht verloren geht, es sei gut oder bös. Gleich als wenn man ein Glas Wasser in den Rhein ausgiesst, kein Sterblicher ist imstand, es wieder herauszuschöpfen, sondern es ist jetzt dem Rhein vermählt und augenblicklich verschwemmt in der grossen Flut. Ja, wenn die Sonne Wasser aufzieht, wie man zu sagen pflegt, sind ein paar Tröpflein davon vielleicht auch dabei und fallen irgendwo, in Bayern oder Lothringen, wieder aus einer Wasserwolke vom Himmel herab und erquicken ein Blümlein.

Eine Dienstmagd, jung und brav, auch hübsch, und ein Knecht gleicher Qualität dienten miteinander auf einem Edelhof und hätten nicht so gerne Kaffee getrunken oder alle Tage Braten gegessen, als vielmehr einander geheiratet. Allein sie waren Leibeigene, insoweit, dass sie verpflichtet waren, eine gewisse Zeit Hofdienste zu tun, und die Edelfrau auf dem Hofe wollte sie nicht früher aus dem Dienst entlassen, weil sie so brav waren in ihrer Aufführung und so fleissig und treu in ihren Geschäften. Deswegen sassen sie oft beisammen und weinten, oder sie weinte, und er nagte an einem Holzsplitter. Ein ander Mal, wie die menschliche Laune wechselt, sprachen sie sich Mut ein, dass es ja nur noch um zwei Jährlein zu tun sei, und freuten sich schon zum voraus ihres zukünftigen Glücks, »wenn du mein Weib bist« – sagte er – »und ich dein Mann«, und einmal vergassen sie sogar die Zukunft und meinten, es sei jetzt. Nach Verlauf aber eines Jahres hat die Frau auf dem Edelhof in der Nacht desperates Zahnweh, nicht gerade deswegen. Sie steht aus dem Bette auf und wirft sich auf einen Stuhl, sie läuft aus einer Stube in die andere, aus der andern in die dritte. In der dritten setzt sie sich gegenüber einem Fensterlein, das in die Küche geht, mit einem weissen Vorhang davor, und das Zahnweh wird ihr nun bald vergehen. Sie sitzt jetzt am rechten Orte dazu. Denn auf einmal sieht sie hell werden hinter dem weissen Vorhang, sie hört etwas sich bewegen, sie hört etwas flüstern und knistern, sie schiebt leise das Vorhänglein weg, und in der Küche stehen der Knecht und die Magd an einem Feuerlein nachts um zwölf Uhr und legen Späne an das Feuer, und auf dem Feuer steht ein Pfännlein. – Bereits gibt das Zahnweh ein wenig nach. – »O ihr gottloses Lumpenpack«, sagte sie inwendig für sich. »So ist denn keinem Menschen mehr zu trauen. Habt ihr nicht alle Tage euer ordentliches Essen. Ist es euch nicht gut genug? Müsst ihr mich noch in der Nacht bestehlen und Leckerbissen kochen!« Nach einiger Zeit stellt das Weibsbild das Pfännlein von dem Feuer, als ob sie jetzt die Leckerbissen verzehren wollten, der Knecht aber geht zur Türe hinaus. – »Wie der Tag anbricht, lass ich beide in das Gefängnis werfen«, so fuhr die Edelfrau fort, »und jage sie weg ohne ehrlichen Abschied. Am Ende wird mir die Dirne auch noch schwanger von dem Burschen in meinem eigenen Haus. So weit soll's mir nicht kommen.« Indem kommt der Knecht zurück und bringt ein vierteljähriges Kind auf dem Arme und gibt's der Mutter auf die Schoss. Da hörte plötzlich das Zahnweh der Edelfrau auf wie weggeflogen. Die Mutter gibt dem Kindlein aus der Pfanne den Brei, sie legt es an die mütterliche Brust, und der Schein des abnehmenden Feuers ging zur rechten Zeit über ihr Angesicht, als sie mit nassen Blicken ihr Kindlein noch einmal beschaute und dem Vater zurückgab und etwas zu ihm sagte. Denn da ward das Herz der Edelfrau wunderbar bewegt und kam auf andere Gedanken. Denn es war ihr, als ob die Mutter mit den nassen Blicken gesagt hätte: »Gott wird des armen Würmleins sich auch erbarmen«, und als ob sie dazu bestimmt wäre. Ja, es fuhr ihr mit Grausen durch die Seele, was für ein Unglück in ihrem Hause hätte geschehen können, wenn nicht Gott das Herz der Eltern vor einem schweren Verbrechen bewahrt hätte.

Am frühen Morgen aber liess sie beide Eltern vor sich bescheiden. Beide sahen einander an. »Was gilt's«, – sagte sie – »wir bekommen unsere Freiheit.« – »Oder auch nicht«, – sagte er. Die Edelfrau aber, als sie hereingetreten waren, redete sie ernsthaft und gebieterisch an: »Wo habt ihr euer Kind?« Da glaubten beide in den Boden zu versinken vor Schrecken und Scham und schauten einander verstohlenerweise an, gleichsam ob das andere noch da sei. »Wo ihr euer Kind habt«, – wiederholte die Edelfrau. – »Weil wir denn doch eins haben«, – stotterte endlich der Vater, – »in der Holzkammer hinter einer Beige.« Als es aber der Bursche holen musste, bracht' er es, wie es war in einem alten Felleisen. Es war reinlich gehalten und gebüschelt auf einem Bettlein von Heu und weinte, als ob es schon wusste, wie man es machen muss. Da erbarmte sich das Herz der Edelfrau noch mehr, und als die treue Magd und Mutter reuevoll und mit Tränen bat, sie und ihr unschuldiges Kind nicht unglücklich zu machen, konnte die Edelfrau ihre Rührung nicht mehr verbergen: »Nein, ich will euch nicht unglücklich machen«, – sagte sie. »Ich will euch die Härte vergelten, die ich an euch begangen habe. Ich will euch den Kummer versüssen, den ihr getragen habt. Ich will eure Sünde wieder gut machen. Ich will euch die Barmherzigkeit vergelten, die ihr an euerm Kinde getan habt.« Meint man nicht, man höre den lieben Herr Gott reden in den Propheten oder in den Psalmen? Ein Gemüt, das zum Guten bewegt ist und sich der Elenden annimmt und die Gefallenen aufrichtet, ein solches Gemüt zieht nämlich das Ebenbild Gottes an und fällt deswegen auch in seine Sprache. – »Ihr könnt euch am Sonntag in der Stille zusammengeben lassen«, – sagte die Edelfrau. »Ich will euch ein angenehmes Heiratsgut stiften. Ich will aus eurem Kinde etwas werden lassen. Ist's ein Büblein?« – Also wurden sie am nächsten Sonntag auf Geheiss der Edelfrau zusammengegeben und lebten seitdem in Liebe und Frieden ehelich beisammen. Das Büblein aber kann jetzt schon Haselnüsse aufbeissen und lernt fleissig und hat runde, rote Backen. – Was aber weiter daraus werden soll, weiss der, der den Himmel mit der Spanne misst und den Staub der Erde mit einem Dreiling.

 


 


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