Johann Peter Hebel
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes
Johann Peter Hebel

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Herr Charles (Eine wahre Geschichte)

Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte eben sein wunderschönes Büblein auf dem Knie und machte ein Gesicht dazu, dass er ein wohlhabender und glücklicher Mann sei und sein Glück für einen Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder Mann, ein Pole, mit vier kranken, halberfrorenen Kindern in die Stube. »Da bring' ich Euch die Kinder.« Der Kaufmann sah den Polen kurios an. »Was soll ich mit diesen Kindern tun? Wem gehören sie? Wer schickt Euch zu mir?« – »Niemand gehören sie«, sagte der Pole, »einer toten Frau im Schnee, siebenzig Stunden herwärts Wilna. Tun könnt Ihr mit ihnen, was Ihr wollt.« Der Kaufmann sagte: »Ihr werdet nicht am rechten Orte sein«, und der Hausfreund glaubt's auch nicht. Allein der Pole erwiderte, ohne sich irremachen zu lassen: »Wenn Ihr der Herr Charles seid, so bin ich am rechten Ort«, und der Hausfreund glaubt's auch. Er war der Herr Charles. Nämlich es hatte eine Französin, eine Witwe, schon lange im Wohlstande und ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor fünf Jahren die Franzosen in Moskau waren, benahm sie sich landsmannschaftlicher gegen sie, als den Einwohnern wohlgefiel. Denn das Blut verleugnet sich nicht; und nachdem sie in dem grossen Brand ebenfalls ihr Häuslein und ihren Wohlstand verloren und nur ihre fünf Kinder gerettet hatte, musste sie, weil sie verdächtig sei, nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Land reisen. Sonst hätte sie sich nach Petersburg gewendet, wo sie einen reichen Vetter zu finden hoffte. Der geneigte Leser will bereits etwas merken. Als sie aber in einer schrecklichen Kälte und Flucht und unter unsäglichen Leiden schon bis nach Wilna gekommen war, krank und aller Bedürfnisse und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise entblösst, traf sie in Wilna einen edlen russischen Fürsten an und klagte ihm ihre Not. Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er erfuhr, dass sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie ihre Reise nach Frankreich fortsetzen oder ob sie mit einem Pass nach Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes Büblein an, weil es das verständigste und das kränkste war. »Wo willst du hin, mein Sohn?« – »Wo du hingehst, Mutter«, sagte der Knabe, und hatte recht. Denn er ging noch vor der Abreise ins Grab. Also versah sie sich mit dem Notwendigen und akkordierte mit einem Polen, dass er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte zum Vetter; denn sie dachte, er wird das Fehlende schon drauflegen. Aber alle Tage kränker auf der langen, beschwerlichen Reise, starb sie am sechsten oder siebenten. – »Wo du hingehst«, hatte der Knabe gesagt; und der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten miteinander so viel reden, als ein Pole verstehen mag, wenn ein französisches Kind russisch spricht, oder ein Französlein, wenn man mit ihm reden will auf polnisch. Nicht jeder geneigte Leser hätte an seiner Stelle sein mögen. Er war es selber nicht gern. »Was anfangen jetzt?« sagte er zu sich selbst. »Umkehren – wo die Kinder lassen? Weiter fahren – wem bringen?« Tue, was du sollst, sagte endlich etwas in seinem Inwendigen zu ihm. Willst du die armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie von ihrer Mutter zu erben haben, um dein Wort, das du ihr gegeben hast? Also kniete er mit den unglücklichen Waisen um den Leichnam herum und betete mit ihnen ein polnisches Vaterunser. »Und führe uns nicht in Versuchung.« Hernach liess jedes ein Händlein voll Schnee zum Abschied und eine Träne auf die kalte Brust der Mutter fallen, nämlich, dass sie ihr gerne die letzte Pflicht der Beerdigung antun wollten, wenn sie könnten, und dass sie jetzt verlassene, unglückliche Kinder seien. Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der Strasse nach Petersburg, denn es wollte ihm nicht eingehen, dass, der ihm die Kindlein anvertraut hatte, könne ihn stecken lassen, und als die grosse Stadt vor seinen Augen sich ausdehnte, wie ein Hauderer tut, der auch erst vor dem Tor fragt, wo er stillhalten soll, erkundigt er sich endlich bei den Kindern, so gut er sich verständlich machen konnte, wo denn der Vetter wohne, und erfuhr von ihnen, so gut er sie verstehen konnte: »Wir wissen's nicht.« – Wie er denn heisse? »Wir wissen's auch nicht.« – Wie denn ihr eigener Geschlechtsname sei? »Charles.« Der geneigte Leser will schon wieder etwas merken, und wenn's der Hausfreund für sich zu tun hätte, so wäre der Herr Charles der Vetter. Die Kinder wären versorgt, und die Erzählung hätte ein Ende. Allein die Wahrheit ist oft sinniger als die Erdichtung. Nein, der Herr Charles ist der Vetter nicht, sondern dieses Namens ein anderer, und bis auf diese Stunde weiss noch niemand, wie der wahre Vetter eigentlich heisst, nicht, ob und wo in Petersburg er wohnt. Also fuhr der arme Mann in grosser Verlegenheit zwei Tage lang in der Stadt herum und hatte Französlein feil. Aber niemand wollte ihn fragen: »Wie teuer das Pärlein?« und der Herr Charles begehrte sie nicht einmal geschenkt, und war noch nicht willens, eines zu behalten. Als aber ein Wort das andere gab und ihm der Pole schlicht und menschlich ihr Schicksal und seine Not erzählte, – eins, dachte er, will ich ihm abnehmen, – und es füllte sich immer wärmer in seinem Busen, – ich will ihm zwei abnehmen, dachte er; und als sich endlich die Kinder um ihn anschmiegten, meinend, er sei der Herr Vetter, und anfingen, auf französisch zu weinen, denn der geneigte Leser wird auch schon bemerkt haben, dass die französischen Kinder anders weinen, und als der Herr Charles die Landesart erkannte, da rührte Gott sein Herz an, dass ihm ward wie einem Vater, wenn er die eigenen Kinder weinen und klagen sieht, und »in Gottes Namen«, sagte er, »wenn's so ist, so will ich mich nicht entziehen«, und nahm die Kinder an. »Setzt Euch ein wenig nieder«, sagte er zu dem Polen, »ich will Euch ein Süpplein kochen lassen.«

Der Pole, mit gutem Appetit und leichtem Herzen, ass die Suppe und legte den Löffel weg, – er legte den Löffel weg und blieb sitzen, – er stand auf und blieb stehen. »Seid so gut«, sagte er endlich, »und fertigt mich jetzt ab, der Weg nach Wilna ist weit. Auf fünfhundert Rubel hat die Frau mit mir akkordiert«; da fuhr es doch dem milden Menschen, dem Herrn Charles, über das Gesicht, wie der Schatten einer fliegenden Frühlingswolke über die sonnenreiche Flur. »Guter Freund«, sagte er, »Ihr kommt mir ein wenig kurios vor. Ist's nicht genug, dass ich Euch die Kinder abgenommen habe, soll ich Euch auch noch den Fuhrlohn bezahlen?« Denn das kann dem redlichsten und besten Gemüt begegnen, wenn's ein Kaufmann ist, jedem andern aber auch, dass es wider Wissen und Willen zuerst ein wenig handeln und markten muss, sei es auch nur mit sich selbst. Der Pole erwiderte: »Guter Herr, ich will Euch nicht ins Gesicht sagen, wie Ihr mir vorkommt. Ist's nicht genug, dass ich Euch die Kinder bringe? Sollt' ich sie auch noch umsonst geführt haben? Die Zeiten sind bös, und der Verdienst ist gering.« – »Eben deswegen«, sagte Herr Charles, »darüber lasst mich klagen. Oder meint Ihr, ich sei so reich, dass ich fremde Kinder aufkaufe, oder so gottlos, dass ich mit ihnen handle? Wollt Ihr sie wieder?« Als aber noch einmal ein Wort das andere gab und der Pole jetzt erst mit Staunen erfuhr, dass der Herr Charles gar nicht der Vetter sei, sondern nur aus Mitleiden die armen Waisen angenommen habe, »wenn's so ist«, sagte er, »ich bin kein reicher Mann, und Eure Landsleute, die Franzosen, haben mich auch nicht dazu gemacht, aber wenn's so ist, so kann ich Euch nichts zumuten. Tut den armen Würmlein Gutes dafür«, sagte der edle Mensch, und es trat ihm eine Träne ins Auge, die wie aus einem überwältigten Herzen kam, wenigstens überwältigte sie dem Herrn Charles das seinige. Monsieur Charles, dachte er, und ein armer polnischer Fuhrmann! – und als der Pole schon anfing, eines der Kinder nach dem andern zum Abschied zu küssen und sie auf polnisch zur Folgsamkeit und Frömmigkeit ermahnte, »guter Freund«, sagte der Herr Charles, »bleibt noch ein wenig da. Ich bin doch so arm nicht, dass ich Euch nicht Euern wohlverdienten Fuhrlohn bezahlen könnte, so ich doch die Fracht Euch abgenommen habe«, und gab ihm die fünfhundert Rubel. Also sind jetzt die Kindlein versorgt, der Fuhrlohn ist bezahlt, und so ein oder der andere geneigte Leser vor den Toren der grossen Stadt hätte zweifeln mögen, ob der Vetter auch zu finden seie, und ob er's, tun werde, so hat doch die heilige Vorsehung ihn nicht einmal dazu vonnöten gehabt.

 


 


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