Johann Peter Hebel
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes
Johann Peter Hebel

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Die lachenden Jungfrauen

Wer weiss, wo Saratow liegt? Der Hausfreund hat viel Bücher. Er weiss alles. Saratow liegt weit gegen Sonnenaufgang in das wilde Asien hinein und ist ebenfalls der Sitz einer russischen Statthalterschaft, nämlich wie Pensa, und war im Jahr 1812 ebenfalls der Sammelplatz, wo viel Tausend unglückliche Kriegsgefangene abgegeben und dann tiefer hineingeführt wurden in das Elend.

Ein Transport von gefangenen Deutschen wird eines Tages eingebracht. Eine Menge von Einwohnern, wie zu geschehen pflegt, stehen auf den Gassen; die Neugierigen schauten, der Übermut trotzte und spottete, die Rachsucht fluchte und schimpfte. Keine Hand bot sich zur Pflege der kranken, der verwundeten, der verschmachtenden Fremdlinge an, eher zu etwas anderm. Niemand wehrte ihnen. Denn die Kriegsgefangenschaft spinnt keine Seide, und man kann nicht glauben, wie erbittert damals die Russen über ihre Feinde waren, und keiner wurde vorher gefragt, ob er zu den Schlimmen gehöre, sondern man nahm ihn dafür. Aber einem wohlbetagten Hauptmann und seinem Leutnant begegnete etwas Merkwürdiges. Denn eben als der Hauptmann den Leutnant an der Hand ergriff und ihn trösten wollte: »Fasse dich, junges Blut, auch das wird vorübergehen und ein Ende nehmen, mit dem Frieden oder mit dem Tode«, – in dem Augenblicke hören sie zunächst vor sich ein mutwilliges Lachen, und indem sie unwillkürlich aufschauen, – sie hätten's bereits können gewohnt sein, – was erblicken ihre Augen? In einem vornehmen russischen Gefährt zwei Jungfrauen, schön wie zwei Sonnen, lieblich wie der Frühlingstag, wenn die Rosen blühen. Beide Teile schauten einander an, aber ob auch die Jungfrauen sich wollten Gewalt antun, sie konnten sich nicht erwehren, und trat auch eine die andere auf den Fuss, so ward's nur ärger. Das griff schmerzhaft den sonst vielgeprüften Mut des bejahrten Hauptmanns an. Noch so jung, dachte er, und schon so entartet, und der Leutnant dachte: so schön und doch so grausam, und der Schmerz des einen brach in eine Träne, der Unmut des andern aber in Worte aus: »Töchter dieses unwirtlichen Landes«, fing der Hauptmann an, »ihr versteht zwar meine Rede nicht«, die Jungfrauen lachten aufs neue, – »aber wollte Gott, ihr verstündet sie«, da lachten auf einmal die Jungfrauen nicht mehr. »Gar unfein«, fuhr der Hauptmann fort, »steht das euerem Geschleckte, euerer Jugend und euren schönen Kleidern an, an dem Jammer schuldloser Menschen eure Augen zu weiden und mit solchem Hohngelächter unsere Herzen zu durchschneiden.« Da fiel ihm errötend die ältere der Jungfrauen in das Wort, sie war ungefähr 18 Jahre alt und die jüngere 17, und redete die Unglücklichen zu ihrem Erstaunen ebenfalls deutsch an, mitten in Saratow und mitten in Russland, mehr als 1000 Stunden weit von der Heimat deutsch. »Edle Fremdlinge«, sagte sie, sanft wie ein Engel und mit tiefbewegter Stimme, »sprecht nicht also, dass wir gekommen seien, unsere Augen an euerem Elende zu weiden und euere Herzen durch Verhöhnung zu martern, die wir die Absicht haben, euch zu bitten, dass ihr mit uns gehen wollet in die Wohnung unserer Eltern und Pflege und Liebe anzunehmen, bis die Engel des Friedens euch zurückführen mögen zu euren Fahnen oder in die Umarmungen eurer Angehörigen, dass ihr bei ihnen glücklich sein möget alle Tage eures Lebens.« Ihr entgegnete hinwiederum erstaunt über diese Worte der Hauptmann: »Edle Jungfrauen, wes herrlichen Geschlechts Töchter ihr sein möget, wenn dem also ist, wie ihr saget, so vertrauen wir uns eurer Einladung an, die ihr aus deutschem Blute entsprossen scheint, so ihr das Unrecht verzeihen könnt; womit mein Schmerz euch beleidigt hat.«

Als sie aber in den Wagen einstiegen, und der Hauptmann wollte; wie es sich traf, neben die ältere der Jungfrauen sitzen, widerfuhr ihnen noch etwas Apartes, denn es zog ihn die jüngere sanft auf ihre Seite: »Verzeiht mir«, sagte sie; »edler Fremdling, meine Ansprüche auf Euch sind mir zu wert. Meine Freundin hat kein Recht an Euch.« Und zu dem Leutnant sprach die ältere ebenfalls: »Meine Freundin hat kein Recht an Euch«, – und zog ihn sanft und sittsam an ihre Seite. Den zwei Kriegsgefangenen aber war alles recht, denn auch jedem andern hätte die Wahl zwischen beiden schönen Jungfrauen schwerer sein müssen als jeder andern Jungfrau die Wahl zwischen einem fünfzigjährigen Mann und einem zwanzigjährigen Jüngling.

Fragt sich nun: wer waren die Jungfrauen, und wo führten sie ihre Gefangenen hin? Antwort: Es leben in Saratow zwei reiche und angesehene deutsche Familienväter; der Deutsche kommt, wie das Quecksilber, überall durch, wenn er schon keins ist. Beide Familien waren des Abends vorher wie gewöhnlich beisammen und sprachen von allerlei. »Ist's wahr«, – sagte der eine, – »dass morgen deutsche Kriegsgefangene ankommen?« – »Sie sind schon angesagt«, erwiderte man ihm. – »Die armen Menschen haben einen schweren Gang«, – sprach wehmütig eine der Mütter. Da trat die ältere Jungfrau ihren Vater an: »Werden wir auch einen bekommen, mein Vater? Wie sorglich wollte ich gleich einer Tochter oder Schwester sein pflegen und ihn trösten.« Der Vater erwiderte: »Den Gefangenen bettet man nicht auf Rosen. Sie werden in den Vorstädten in den dürftigsten Hütten untergebracht.« – »Oder wolltet Ihr denn nicht selbst einen einladen oder Euch einen ausbitten von dem Hauptmann ihrer Bewachung?« – »Das könnte mir wohl übel gedeutet werden«, erwiderte der Vater, »sie sind Feinde des Vaterlandes, in welches wir selbst als Fremdlinge aus ihrer Heimat sind aufgenommen worden. Wir dürfen die Feinde nicht als unsere Landsleute erkennen. Doch wenn einen von ihnen mir das Schicksal ohne mein Zutun entgegenführt, will ich mich seiner nicht entschlagen«, und ebenso sprach auch der Vater der andern Jungfrau. Da redeten die beiden Töchter miteinander, und leichtsinnig und gutmütig, wie die Jugend ist, beschlossen sie, wenn die Gefangenen kämen, zu tun, was sie taten.

Anfänglich fuhren sie ein wenig um den Transport herum, wie wenn man auf den Jahrmarkt geht, um einzukaufen. Man sieht zuerst die Waren an, was da ist, ehe man auf Geratewohl kauft, das Nächste, das Beste. Als aber die Jungfrauen den Hauptmann erblickten, wie er dastand, wenig gebeugt von seinen Leiden, und angeschmiegt an ihn den Jüngling, den Leutnant, den das Schicksal zum ersten Mal in die Schule der Prüfung genommen hatte, und zwar gleich in die oberste Klasse, sagten sie zueinander, »diese zwei wollen wir nehmen.« – »Willst du den Alten?« sagte scherzhaft die jüngere. »Oder willst du ihn?« sagte zu ihr ihre Freundin. Da nahm die jüngere zwei Stecknadeln aus ihrem Busengewand, eine längere und eine kürzere, und zogen miteinander das Hälmlein mit Stecknadeln. Als aber die ältere den Leutnant zog und die jüngere den Hauptmann behielt, in dem Augenblick, als dieser sagte, »auch das wird ein Ende nehmen«, – lachten die Jungfrauen. Denn diesen Erbschatz teilt noch die Kindheit mit der Jugend, dass Schmerz und Freude leichter an ihr vorübergehen und in schnellern Ablösungen miteinander wechseln. Hernach aber, als der Hauptmann so ernsthaft sie anredete, »euer Ohr versteht zwar meine Rede nicht«, lachten sie von neuem. Denn wenn man einmal darin ist, man muss; und das Gefühl, dass es unschicklich sei, hilft nur dazu, die Unschicklichkeit zu begehen. Aber als sie den Schmerz erkannten, mit dem er nach einem süssen deutschen Wort in dieser fremden Welt wie nach einem Almosen seufzte, und sie hatten's in ihrem milden Herzen und konnten's ihm geben und waren deswegen da, da lachten sie nicht mehr und boten ihnen in deutscher Sprache und Rede die Pflege und Liebe ihrer Eltern an und führten sie zu ihnen. Die Väter hoben zwar die Finger gegen ihre Töchter auf »Was habt ihr getan!« aber im Herzen waren sie es froh. Sie zeigten sogleich der Obrigkeit an, was geschehen war, und der menschenfreundliche Statthalter gab ihnen gerne die Erlaubnis, auf ihre Bürgschaft zwar, ihre gefangenen Landsleute bei sich zu behalten bis auf ein Weiteres.

Da gebrach ihnen auf einmal nichts mehr, da waren sie auf einmal aller ihrer Leiden quitt, da verzogen sich alle ihre Bekümmernisse. Der Hauptmann in dem Hause, das ihn aufgenommen hatte, wurde angesehen und geliebt als ein Bruder, der Leutnant in dem seinigen als ein Sohn, von seiner schönen Retterin auch noch ein wenig anderst, nämlich ebenso wie sie von ihm, bis die Engel des Friedens kamen. Als aber die Engel des Friedens kamen, schangschierte der Leutnant seinen Glauben, nämlich, dass er in der Uniform sterben werde. Er verschaffte sich den Abschied von seinem Regiment und freut sich jetzt als Gatte der Liebe und der Jugend seiner schönen Retterin. Der Hauptmann aber trennte sich von diesen edeln Menschen und von seinem jungen Freund mit einer Rührung und mit einem Schmerz, der mehr Tränen als Worte hat, und kam wohlbehalten wieder in Deutschland und bei den Seinigen an, und wer ihn sah und vorher gekannt hatte, wunderte sich sein. »Ei, wie seid Ihr so jung geworden, Herr Hauptmann, in Eurer Gefangenschaft, Euch muss es nicht übel gegangen sein.«

Der geneigte Leser darf an der Wahrheit dieser Erzählung nicht zweifeln, denn der Hausfreund hat sie aus dem zweiten Mund. Nämlich der Hauptmann hat sie selbst einem rheinländischen Herrn Kriegsobristen also mitgeteilt, der auch weiss, wie man über die Berezina geht, und von dem Kriegsobristen aber hat sie der Hausfreund und hat seitdem schon manches Täublein mit ihm verzehrt und schon manches Schöpplein mit ihm herausgemacht, Fuchs oder Has.

 


 


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